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Walter Benjamin auf dem hohen Sockel einer akademisch abgesicherten Gedächtniskultur? Und sein „Angelus Novus“ als Ikone einer weihevollen Verehrung, die längst internationale Ausstrahlung erreicht hat? In der Tat möchte man fragen, ob nicht mittels der hochgehängten Figur Walter Benjamins so etwas wie ein korrekt-linkes Geschichtsbild festgeschrieben zu werden droht, ob im „Angelus Novus“ nicht zum Erinnerungsbild erstarrt ist, was am wenigsten der intellektuellen Intention entsprach, die Benjamin 1940 mit ihm im Sinn hatte. Wenn der „Angelus Novus“ tatsächlich zur Ikone geworden ist – muss sie nicht entsakralisiert, in Benjamins Worten „entauratisiert“ werden? Diese Frage gewinnt in jüngster Zeit an Dringlichkeit, weil sich im Zuge der postmodernen Benjamin-Lektüre eine erneute Politisierung abzeichnet, die zuerst über Jacques Derrida vermittelt und dann durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben zur Mode geworden ist.8
Auffällige Merkmale dieser Reaktualisierung sind ihre dezidiert internationale Ausrichtung, die Gleichzeitigkeit mit dem Aufkommen der militanten globalisierungskritischen Bewegungen sowie eine hohe Internetpräsenz des damit verbundenen Diskurses, die heute als besonders sensibler Seismograph für die Veränderungen des politischen Bewusstseins zu gelten hat. Noch auffälliger aber und eine signifikante Verschiebung des Blicks auf Walter Benjamin ist die penetrante Fixierung auf das Problem der Gewalt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass Walter Benjamin regelmäßig als eine Art intellektueller Zwillingsbruder von Carl Schmitt figuriert. Die politische Gegenwart erscheint als die Wiederholung der „geistesgeschichtlichen Lage“ der Weimarer Republik, genauso düster und ähnlich krisensüchtig, nur eben globalisiert. Der dazu passende Text stammt nicht mehr aus den Thesen von 1940, sondern findet sich in Benjamins „Kritik der Gewalt“ von 1921, der einzigen längeren Abhandlung zur Politik, die er geschrieben hat.9
Gershom Scholem – Fürsprecher des „Angelus Novus“
„Wenn man von einem Genius Walter Benjamins sprechen darf, so war er in diesem Engel konzentriert, und in dessen saturnischem Lichte verlief Benjamins Leben selber, das auch nur aus ,Siegen im Kleinen‘ und ,Niederlagen im Großen‘ bestand […].“10 Was die Stellung von Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte betrifft, so ist Gershom Scholem die nicht zu übertreffende Informationsquelle, er ist zugleich die maßgebliche Interpretationsautorität vor allem für den jüdisch-theologischen Resonanzraum seines Werks. Scholem hat Benjamins Werdegang bis zu seiner Emigration nach Palästina aus größter Nähe begleitet, er blieb mit ihm in intensivem Briefwechsel über alle Stationen der Wanderjahre vor und nach 1933 ebenso verbunden, wie er den Kontakt in der späteren Pariser Zeit nicht abreißen ließ, auch wenn ihn jetzt Benjamins Sympathien zu kommunistischen Intellektuellen zunehmend irritierten.
Vielleicht wird man der ganz besonderen Beziehung zwischen dem angehenden Kaballaforscher in Jerusalem und dem in jeder Hinsicht „freischwebenden Intellektuellen“ (Karl Mannheim), zu dem Benjamin nach dem Scheitern seiner Habilitation 1925 geworden war, am ehesten gerecht, wenn man sich vor Augen hält, dass Scholem ihm Ende der 1920er den Ausweg nach Palästina ganz konkret vorbereitet hat. Die Wahrnehmung dieses Angebots hätte Benjamin vermutlich das Leben gerettet. Wie berechtigt Scholems Fürsorge war, hinter der die Einfühlung in Benjamins ausgesprochen prekäre Lebensverhältnisse stand – die lange Abhängigkeit von den Eltern, das Scheitern seiner Ehe, der Kampf ums finanzielle Überleben als Journalist –, ist z. B. daraus ersehen, dass er der einzige war, der von Benjamins ersten Selbstmordplänen im Jahr 1932 Kenntnis erhielt. Kein Zufall auch, dass er bei dieser dann abgewendeten Existenzkrise den „Angelus Novus“ als Erbstück zugewidmet bekam.11
Aus solcher Intimität ergaben sich die höchst aufschlussreichen Deutungen der Engelsfigur, die Benjamins persönliche Tragik betonten, einschließlich des Blicks hinter die Fassade eines Charakters, der zu Geheimniskrämerei und zu produktiver, aber auch destruktiver Selbstmystifikation neigte. Scholem ist sicherlich darin zuzustimmen, dass es über alle Schaffensperioden hinweg – oder besser: unter ihnen hindurch – eine kontinuierliche Unterströmung an Themen, Motiven und Denkfiguren aus der Tradition der jüdischen Theologie gab, die natürlich durch Scholems Forschungen zur jüdischen Mystik gefärbt waren. Nicht zu unterschätzen ist aber auch das Fortwirken der religiösen oder quasi-religiösen Überzeugungen aus der Jugendzeit vor und nach 1914, die durch eine Fülle von Kontakten zu jüdischen Studentenzirkeln dokumentiert sind und sich in den meist unpubliziert gebliebenen „metaphysisch-geschichtsphilosophischen Schriften“ der Zeit um 1920 niedergeschlagen haben.12
Wie aber steht es um Scholems Zeugenschaft für Benjamins politische Ansichten, für das, was ich „Benjamins Politik“ genannt habe? Ich möchte diese Frage nicht an den späten „Thesen über den Begriff der Geschichte“ diskutieren, sondern an den Ausgangspunkt zurückgehen, an dem Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte sozusagen eintritt. Aus dem Briefwechsel mit Scholem ergibt sich, dass Benjamin, der bereits vorher ein Faible für den Maler Paul Klee hegte, im Frühsommer 1921 den „Angelus Novus“ in München erwarb. Sofort wird das ebenso kryptische wie erklärungsheischende Engelsbild zum Anlass einer lebhaften „Angelologie“, teils um die bereits im Gang befindlichen philosophischen Debatten fortzuführen und theologisch zu vertiefen, teils auch um sich in ironisch-liebenswürdigen Frotzeleien zu ergehen, die zwischen den ungleichen Freunden wieder die gebotene Distanz herstellen. Nicht zu vergessen auch das lange und recht eingängige Gedicht, mit dem Scholem dem Älteren den theologischen Sinn der Engelsfigur nahebringen will (eine Strophe daraus wird Benjamin 1940 seiner Neunten These voranstellen!).13
Dieses Werben fruchtet auch wirklich, freilich auf einem anderen Gebiet, auf dem der Jüngere noch nicht mithalten kann: Der „Angelus Novus“ beflügelt Benjamins Publikationspläne – der Name, den Klee seiner Zeichnung gegeben hat, wird titelgebend für ein ehrgeiziges Zeitschriftenprojekt, das bekanntlich unrealisiert geblieben ist. Erhalten ist aber der Prospekt dieses „Angelus Novus“, in dem Benjamin sich in ebenso allgemeinen wie esoterischen Spekulationen darüber ergeht, wie er seine Zeitschrift aufzumachen gedenkt und vor allem, was er damit bewirken will. Auffällig an Benjamins Programmatik ist ein seltsames Gemisch: einerseits höchste Ansprüche an die philosophische Kritik, andererseits starke Reserven gegenüber dem Publikumsgeschmack, ein Widerspruch, der durch den beschwörenden Rekurs auf eine wenig konkrete „Aktualität“ geschichtsphilosophisch aufgelöst, oder besser: eingelöst werden soll. Benjamin spricht von „dem Ephemeren“ und illustriert es durch den flüchtigen Charakter der talmudischen Engel, von denen es heißt, dass sie „nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufhören und in Nichts vergehen“.14
Gedankengänge wie diese, vor allem die Gleichzeitigkeit von angestrengter Argumentation und dunkler Anspielung haben als typisch für Benjamins Denkstil um die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu gelten. Und vielleicht kann man die Texte aus diesen Jahren insgesamt durch eine merkwürdige Widerspruchskonstellation charakterisieren: Angefangen von dem noch in das Jahr 1917 zurückreichenden „Programm der kommenden Philosophie“ und eindringlich verdichtet in der Studie zu „Schicksal und Charakter“ (1919) sieht man ein Denken am Werk, das vom Methodenideal des Neukantianismus ausgeht, diesem eine überscharfe Pointe gibt, um von hier aus den Absprung in eine „andere Wirklichkeit“ zu machen, d. h. „eine noch kommende neue und höhere Art der Erfahrung“ einzuklagen15, die regelmäßig und vergleichsweise unvermittelt in theologische Gefilde führt. Da ist die Rede von der „reinen Erkenntnis“, als deren „Inbegriff die Philosophie Gott denken kann und muss“16, da wird eine pathetische Charakterlehre entworfen, die zwischen mythischer Schuldverstrickung und schicksalhaftem Glück aufgespannt ist17. In der Einleitung zu den Baudelaire-Übersetzungen von 1923 wird die „hohe“ Lyrik (wie die von Hölderlin, George oder eben Baudelaire) durch ihre Beziehung auf die „reine Sprache“ definiert, die ihrerseits auf die „Offenbarung“ verweist.18 Am rätselhaftesten aber, weil bis zur Unkenntlichkeit verknappt liest sich das sog. „Theologisch-politische Fragment“, in dem die Kategorie des „Messianischen“ an oberster Stelle rangiert19. Dieser apokryphe Text von 1920 ist deswegen von besonderem Interesse, weil er manche der späteren geschichtsphilosophischen Gedanken beinahe wörtlich vorwegnimmt. Nicht umsonst hat Adorno, auch gegen den Einspruch Scholems, der es besser wusste, auf der zeitlichen Nähe dieses frühen Fragments zu den späten „Thesen zum Begriff der Geschichte“ beharrt. Und wenn Benjamin in dem zitierten Brief an Gretel Adorno nicht weniger kryptisch andeutet, dass er die Thesen „an die zwanzig Jahre bei mir verwahrt, ja, verwahrt vor mir selber gehalten habe“, so wird er vor allem dieses Fragment und die in ihm festgehaltenen Chiffren im Sinn gehabt haben. In einem sachlichen Sinn hat Adorno also recht behalten.20
Zur Kritik der „Kritik der Gewalt“
Wenn es zutrifft, dass theologische Spuren in Benjamins Denken und Schreiben zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einerseits allpräsent, andererseits schwer dingfest zu machen sind – wie stellt sich diese delikate Konstellation dar, wenn man nach den frühen Manifestationen dessen sucht, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte? Gibt es sie überhaupt, und wenn ja, wie fügt sie sich in Benjamins Schaffensbiographie ein? „Fernere Attraktionen in Berlin: eine kleine Klee-Ausstellung am Kurfürstendamm und ,Zur Kritik der Gewalt‘ in den Korrekturbögen“, vermeldet Benjamin seinem Freund Anfang April 1921,21 kurz bevor er in München den „Angelus Novus“ erwirbt und sich dann frohgemut nach Heidelberg aufmacht, wo er Kontakte für sein Zeitschriftenprojekt knüpft, die Möglichkeiten einer Habilitation an der Universität sondiert und sich auf das Erscheinen seines ersten größeren Aufsatzes freut. In denselben Wochen versucht er sich der Jugendfreundin Jula Cohn wieder anzunähern, eine vergebliche Liebeswerbung, die seiner Ehe zum Verhängnis werden wird, aber ihn auch zu seinem großen Essay über Goethes Wahlverwandtschaften anregt, mit dem er sich, wenige Jahre später und vermittelt über Hugo von Hofmannsthal, als Literaturkritiker etablieren wird.
Nach der Publikation seiner Schweizer Dissertation verfolgte Benjamin größere Pläne zum Thema der Politik, aber fertiggestellt wurde nur ein einziger Text, die um 1920 geschriebene „Kritik der Gewalt“. Was so ein isoliertes Stück im Gesamtwerk von Walter Benjamin geblieben ist, ragt dennoch als Solitär heraus, weil hier ein Thema aufgegriffen wurde, das in den politischen Nachkriegsturbulenzen und im Gefolge der Russischen wie der deutschen Revolution hochaktuell war, jedenfalls unmittelbar politisch verstanden werden konnte. Das war vielleicht auch der einzige Grund, weshalb der Aufsatz im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ zur Publikation angenommen wurde, immerhin eines der Hauptorgane der deutschen Sozialwissenschaft, das u.a. von Max Weber redigiert worden war.22 Wenn man sich nämlich in die etwas mehr als 20 Seiten hineinliest, die der Text in der Gesamtausgabe umfasst, so kann man nur erstaunt sein: einerseits wie schematisch und hochabstrakt Benjamins Argumentation daherkommt, andererseits wie dunkel oder sogar mystifizierend der Assoziationshorizont sich gestaltet, in den sie eingelassen ist.
Hier ist sie wieder, die bereits angedeutete Konstellation von Kritizismus und Mystifizierung, von Neukantianismus und spekulativer Geschichtsphilosophie, die jetzt aber eine bemerkenswerte Konkretisierung erfährt. Benjamin geht aus von der Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit und korreliert sie mit der noch abstrakteren Unterscheidung von Zweck und Mittel. Nachdem er die beiden maßgeblichen Denktraditionen der Rechtstheorie – das Naturrecht einerseits, den Rechtspositivismus andererseits – zwar angesprochen, aber gleich wieder verworfen hat, stellt er die Generalthese auf, dass alle menschengesetzte Rechtsordnung, die moderne vernunftbegründete eingeschlossen, aus einer Gewaltsetzung hervorgegangen ist, ja hervorgehen muss; denn selbst der Versuch, ein Äquilibrium zwischen legalen Mitteln und gerechten Zwecken herzustellen, hat noch denselben gewaltförmigen Ursprung. Unter dieser Prämisse stehen alle weiteren Differenzierungen, sowohl die funktionalen (wie Rechtssetzung und Rechtserhaltung) als auch die institutionellen (wie Polizei und Strafe, Kriegsrecht und Todesstrafe). Sie alle sind von Grund auf gewaltkontaminiert, verdorben, ja sündhaft – oder wie Benjamin generalisiert: Sie sind „mythischen Ursprungs“.23
Dieser vom „Mythos“ umklammerten Kasuistik kleiner Antithesen tritt nun ein ganz anderes Ordnungsprinzip als große Antithese gegenüber, nämlich die „göttliche Gerechtigkeit“. Auch sie wird nicht als gewaltlos vorgestellt, vielmehr ist sie durch eine andere Form der Gewalt definiert, die sowohl gegenüber dem Recht wie gegenüber jeder Rechtfertigung frei und gerade dadurch „rein“ und „gerecht“ ist. Die göttliche Gerechtigkeit ist „heilig“, sie hat ihren Ursprung in der „reinen Gewalt“ und ist „rein“ vor allem deswegen, weil sie dem Zweck-Mittel-Schema insgesamt entzogen ist. Dieses wiederum steht für die Verstrickung in einen tragischen Schuldzusammenhang, von dem die menschliche Geschichte insgesamt durchwirkt ist und an dem jeder Versuch einer Versöhnung durch Recht abprallt. An dieser Stelle wird unübersehbar, dass hinter den rechtstheoretischen Überlegungen von Walter Benjamin eine tragische Geschichtsmetaphysik steht. Wenn als der „Ursprung“ aller Rechtsverhältnisse wie der Geschichtsentwicklung insgesamt der Mythos erscheint, so wird dieser Konstruktion zwar durch die „göttliche Gerechtigkeit“ entgegengearbeitet, beide aber sind gewaltförmig und unterscheiden sich lediglich darin, dass die eine an das Zweck-Mittel-Schema gebunden bleibt, während die andere „reine Manifestation“, „grundlose Willensäußerung“ ist. 24
Den Aufriss dieser „Kritik der Gewalt“ so dichotomisch, als pures Nebeneinander von immanenter und transzendenter Kritik stehen zu lassen, wäre freilich nicht vollständig25; denn Benjamin kennt sehr wohl gewisse Übergänge, die in der Mitte des Textes eingeführt werden, jetzt auch konkreter Bezug auf die politische Gegenwart nehmen. Während die „gewaltlose Beilegung von Konflikten“, wie sie in der „Kultur des Herzens“, in der „Technik ziviler Übereinkunft“ oder ganz allgemein in der Sprache als der „eigentlichen Sphäre der Verständigung“ nur nebenher erwähnt werden, tritt ins Zentrum der „revolutionäre Generalstreik“. Er wird vom „normalen“, d. h. dem der Zweck-Mittel-Logik der Interessensvertretung unterworfenen Gewerkschaftskampf scharf unterschieden – einmal durch die radikale Lahmlegung sämtlicher Produktions- und Reproduktionsmechanismen und die Herbeiführung des gesellschaftlichen „Ausnahmezustandes“, zum andern dadurch, dass er auf die „Vernichtung der Staatsgewalt“ zielt, d. h. auf die Aufhebung jener Institution, in der sich die Gewaltförmigkeit des Rechts konzentriert.26
Den Begriff des Generalstreiks ebenso wie dessen emphatische Hervorhebung übernimmt Benjamin bekanntlich von Georges Sorel und fügt sie zunächst wenig modifiziert in seine eigene Begriffswelt ein. Im Verlauf seiner Deduktion aber, und besonders an ihrem Ende erhält er, in Gestalt des „revolutionären Umsturzes“, etwas von jenen Attributen zugesprochen, die eigentlich nur in der Sphäre der „göttlichen Gewalt“ zu Hause sind. Es ist, schreibt Benjamin, die „revolutionäre Gewalt, mit welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu belegen ist“, die also eine Art irdischer Repräsentation der göttlichen Gerechtigkeit ist oder jedenfalls am ehesten als Schritt zu deren Verwirklichung aufgefasst wird.27
Mit welchem Recht, möchte man fragen? Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die damit gegebene Konkretisierung der geschichtsphilosophischen Grundlagen bei Benjamin mehr angedeutet als wirklich ausgeführt ist, dürfte ein Urteil wie das folgende nicht zu streng sein: Diese „Analyse“ des Problems von Recht und Gewalt ist wenig diskursiv und macht sich einer politischen Haltung schuldig, die man als voluntaristisch oder gar als dezisionistisch bezeichnen muss, sie ist durchzogen von suggestiven Gedankenblitzen und extremen Formulierungen, die eine gewisse Schockwirkung hatten, wenn nicht sogar intendierten, ansonsten aber in der zeitgenössischen Debatte nicht aufgenommen wurden. Benjamins Beitrag zu einer rationalen Aufklärung der ganz erheblichen politischen Probleme am Anfang der Weimarer Republik war offensichtlich gering, er verwies weder auf rechtspolitische Alternativen noch zeigte er sich besorgt um die Zukunft der deutschen Demokratie.
Noch zwielichtiger erscheint die „Kritik der Gewalt“, wenn man sich vergegenwärtigt, worauf der so hoch gehängte Anspruch auf eine „philosophische“ Kritik in theoretischer Hinsicht hinausläuft – ziemlich genau auf das Gegenteil dessen, was die Anspielung auf Kant suggeriert: nicht die Zurückführung auf Vernunftpostulate und eine strenge Form der logischen Deduktion, sondern Rekurs auf mythische und theologische Ursprungsmächte – unter souveräner Missachtung der historischen Umstände und der politischen Aktualitäten, die in Deutschland auf die Chancen (und die Schwierigkeiten) einer demokratischen und sozialen Neuordnung lauteten. Vor allem fehlt jedes Gespür für die Voraussetzungen und die Möglichkeiten einer gesellschaftskritischen Durchdringung der Problematik von Recht und Gewalt. In dieser „Kritik der Gewalt“ steckt nichts weniger als ein gerüttelt Maß an politischem Irrationalismus, der sich in einer pessimistischen Geschichtsmetaphysik genüsslich eingerichtet hat. Ihre spezifische Einbettung in religionsphilosophische oder theologische Traditionen hat dieses Defizit eher noch befördert.
Alternativen des Geschichtsdenkens
Eine solche Metakritik der Gewalt mag wohlfeil und im Falle Walter Benjamins sogar müßig sein. War es nicht gerade seine Bereitschaft, die widersprüchlichsten Impulse aufzunehmen und zu neuen Synthesen zu bringen, seine Fähigkeit, hochabstrakte und wenig greifbare und in dem Sinne „irrationale“ Denkmotive zusammenzuführen, woraus sich die schier unerschöpfliche Fülle seiner intellektuellen Produktion und vor allem ihre atemberaubende Dynamik ergab? Die Rückbindung seines Denkens an theologische Motive, der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Bezug auf ein messianisches Ende der Geschichte gehörte dazu ebenso wie die Orientierung an einem paradoxen Motto wie dem Satz von Karl Kraus: „Ursprung ist das Ziel!“ Dennoch gibt es im Geschichtsdenken von Walter Benjamin problematische Ambivalenzen und Indifferenzen, die auch in den „Thesen zum Begriff der Geschichte“ nicht etwa gelöst sind, sondern verstärkt wiederkehren. In der Tat ist gerade für die geschichtsphilosophische Grundierung von „Benjamins Politik“ eine hohe Kontinuität zwischen Anfang und Ende der sog. Zwischenkriegszeit anzunehmen.
Vielleicht kommt man in der Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie am besten voran, wenn man sie in den Horizont der frühen Weimarer Republik rückt und dort den Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Problemstellungen sucht. Tatsächlich wird man da rasch fündig, war doch der religionsphilosophische „Diskurs“, wie man das heute nennt, nicht nur weit verbreitet, sondern im jüdischen Milieu geradezu konzentriert. Dazu gehört die religionsphilosophische Wendung, die der führende Vertreter des Neukantianismus, Hermann Cohen mit seiner nachgelassenen „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ macht,28 ebenso wie Franz Rosenzweigs fulminanter „Stern der Erlösung“ 29 oder selbst Ernst Blochs „Geist der Utopie“,30 sofern man sich an seine theologischen Untertöne hält. Ihnen allen liegt neben einer schmerzlichen Krisenempfindung das starke Verlangen zugrunde, aus dem „Tal der Tränen“ in eine lichtere Zukunft zu blicken, und welche Denkfigur konnte sich dafür besser eignen als eine Geschichtskonstruktion, die auf das Kommen des Messias hoffte.
Ein bislang wenig beachteter Repräsentant dieser Tendenz zu einer jüdischen Geschichtsphilosophie ist Leo Löwenthal, der später als Literatursoziologe der sog. Frankfurter Schule Karriere gemacht hat. Er empfiehlt sich als Vergleichsfigur zu Walter Benjamin zunächst aus einem biographischen Zufall: Benjamin wohnte nämlich in eben dem kritischen Sommer, in dem der „Angelus Novus“ in sein Leben eintrat, für ein paar Wochen in Löwenthals Heidelberger „Studentenbude“31, dort konzipierte er sein Zeitschriftenprojekt und wartete auf die Publikation der „Kritik der Gewalt“. Während Benjamin in der Folgezeit hauptsächlich an seinem Goethe-Essay arbeitete, kam Löwenthal in der Festschrift für den Frankfurter Rabbiner Nehemias Nobel mit seiner ersten Publikation heraus, die unter dem Titel „Das Dämonische“ den ziemlich abenteuerlichen Entwurf einer messianischen Geschichtsspekulation vorlegte.32 1923 besann er sich dann auf einen akademischen Abschluss und promovierte an der Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Franz von Baader, die das Kunststück fertigbrachte, aus einem katholisch-restaurativen Ordnungsdenken den Funken einer kritischen Religionssoziologie zu schlagen, die sich der „sozialen Frage“ nicht verweigerte – und er konnte dies mittels einer rationalen Rekonstruktion, die noch den „theologischsten“ Elementen von Baaders System einen diskursiven Sinn abzugewinnen verstand.33
Wirklich interessant wird es, wenn man Löwenthals weiteren Denkweg in die 1920er Jahre hinein verfolgt: Nach einer Phase des sozialen Engagements für ostjüdische Emigranten verfasste er nämlich 1926 eine Staatsexamensarbeit für den Preußischen Gymnasialdienst, die sich genau demselben Thema wie Benjamins „Kritik der Gewalt“ stellte, es aber auf eine ganz andere Art zu bearbeiten wusste: „Gewalt und Recht in der Staats- und Rechtsphilosophie Rousseaus und der deutschen idealistischen Philosophie“ – so der lange Titel – ist eine knappe, aber höchst instruktive Abhandlung, die von einer soliden Bestandsaufnahme der rechtsphilosophischen Debatte ausgeht, sodann aus dem Rousseau’schen Freiheitsgedanken eine vertragstheoretische Begründung des Staates entwickelt, in der das Recht die zentrale Instanz darstellt. Die Schlussfolgerung ist ganz eindeutig, aber geradezu konträr zu Benjamin: „Gewalt begründet nie Recht; rechtsbegründende Gewalt ist eine contradictio in adjecto“ – und umgekehrt: „Recht allein kann Gewalt begründen.“34
Dieser Grundsatz, der dann über Kant und Fichte fortgeführt und modifiziert wird, bedeutet keineswegs die umstandslose Anerkennung aller positiven oder historischen Rechtssetzungen, ganz im Gegenteil: Er dient zu deren Kritik. Dennoch geht die Rechnung nicht in einer einfachen, d. h. idealistischen Vorstellung vom Fortschritt des Menschengeschlechts mittels Freiheit und Recht auf. Löwenthal verweist sowohl auf Goethe als auch auf Marx als kritische Instanzen für den Verlauf der bürgerlichen Gesellschaft und kommt am Ende doch ohne messianische Heilserwartung nicht aus, die in der „Ahnung von einem völlig gewaltfreien Zustand“ besteht.35 Löwenthals letzter Satz liest sich fast wie ein wörtliches Zitat aus Benjamins dämonischer Reduktion des Rechts auf den Mythos: „Die Geschichte der Korrelation ,Gewalt und Recht‘ von Rousseau bis Fichte ist zugleich die Geschichte der immer anwachsenden Aktualisierung der rechtsphilosophischen Probleme.“36 Aber nicht Benjamins apokalyptische Vision ist damit gemeint, vielmehr hatte er dessen Versuch, dem „Problem mit messianischen Kategorien beizukommen“, schon in der Einleitung mit der ironischem Bemerkung beiseitegeschoben, dass sie „etwas gewalttätig“ sei.37
Sieht man sich die Schriften an, mit denen sich Walter Benjamin akademisch qualifiziert hat oder qualifizieren wollte und von denen die „Kritik der Gewalt“ gleichsam eingerahmt wird: die Dissertation zur Romantik (1919/20)38 und die (abgelehnte) Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel (1925),39 so fällt schon von den Themen her auf, dass genau die geistesgeschichtliche Epoche ausgespart ist, von der her Löwenthal seine rechtsphilosophische Fragestellung entwickelt: die Aufklärung, ihre radikale französische Variante zumal. Das mag dazu beigetragen haben, dass sein religionsphilosophischer Diskurs gewissermaßen den Weg der „Säkularisierung“ einschlagen konnte und schließlich in die Bahn einer „kritischen Theorie der Gesellschaft“ einmündete. Benjamin hingegen ging einen ganz anderen Weg, der sich der Faszination der Ästhetik und parallel dazu der ästhetischen Moderne auslieferte, aber auf dem Gebiet von Politik und Gesellschaft wenig wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelte. Dass er dennoch ein „politischer Autor“ wurde, steht außer Zweifel, besonders in den Pariser Jahren nach 1933 wird die Politik zur entscheidenden Schubkraft. Was aber die spätere Entwicklung der Frankfurter Schule betrifft, ist ebenso wenig zweifelhaft, dass ohne Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung“ nicht hätten schreiben können.