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In der theologischen Grundlegung von Baaders Denken lässt sich Löwenthal nichts von dem entgehen, was Baader als „letzten Scholastiker und Gnostiker zugleich“ auszeichnet: Er verweist auf die Kühnheit, mit der er das „christkatholische Dogma von der Trinität“ noch einmal zur Geltung bringt, obschon „sich hierbei Konflikte mit der Philosophie des offiziellen Katholizismus nicht vermeiden ließen“14; er stellt sich ganz auf den Standpunkt der Baader’schen Theogonie, deren Dreiteilung („Ternar“-Lehre) als eine christliche Begründung der Logik vorgeführt wird, die der Hegel’schen gerade durch ihre Esoterik überlegen sein soll; er macht die Abgrenzung vom Pantheismus mit, der durch eine „konkretere“ Schöpfungslehre überwunden wird; und er koppelt die Anerkennung des Menschen als „Krone der Schöpfung“ an die Vorstellung, dass seiner Erlösung im Jenseits der „Sündenfall“, die „Bewährung“ im Diesseits vorausgeht. Eben hier liegt der Übergang von der theologischen Spekulation zu Geschichte und Gesellschaft: „So ist hier mit der Theorie des Abfalls und der Zeit der Anschluss erreicht an die Sphäre der Sozietät. “15
Auch bei der Darstellung der „religiösen Psychologie“ hält sich Löwenthal ganz eng an Baaders System, was einen gewissen Widerspruch zu der Behauptung darstellt, es gebe bei ihm kein „System“, sondern einen „organischen Kreis“ der Begriffe („Orthognosis“)16. Ausgehend von der prinzipiellen Unterscheidung: „Geschichtliche Wahrheiten sind bedingte Wahrheiten, religiöse Wahrheiten gelten bedingungslos“17 kommt er, eigentlich entgegen seiner eigenen Intention, zur Verdammung jeder utopischen Geschichtsauffassung, die, wie der Fall des Bolschewismus zeige, notwendig im Atheismus landet. Als Gegenzeugen, als Vorläufer einer „echt religiösen“ Auffassung des menschlichen Seelenlebens werden Paulus, Jakob Böhme, aber auch Aristoteles aufgerufen, um sodann als das Zentrum jeder religiösen Psychologie das Gebot der Liebe einzuführen, das von den „Kreaturen“ nur eingelöst werden kann, wenn ihre theologische Einbettung garantiert ist: „Gott ist die Liebe.“18
Und erst von hier erfolgt dann ein ziemlich abrupter Sprung in die konkreteren Gestalten des sozialen Lebens, in den Staat und die gesellschaftlichen Korporationen, in die das Individuum sich vor allem „einzuordnen“ hat, wodurch gleichzeitig auch das traditionelle Problem der „Willensfreiheit“ gelöst sein soll und die nachgeschobene Abrechnung mit der kantischen Moralphilosophie und der darauf aufgebauten Autonomieethik eigentlich überflüssig geworden ist, „weil derjenige, welcher frei sein wollte ohne Gehorsam, erst Gehorsam ohne Freiheit üben muss, damit er zur wahren, seiner Natur als Mitwirker gemäßen Intensität des Gehorsams und der Freiheit, des Dienens und des Herrschens gelange (Baader)“.19
Mit der Darstellung von Baaders „Sozietätsphilosophie“ im engeren Sinn, auf die hin Löwenthals Abhandlung von Anbeginn geschrieben ist, tritt die Argumentation in ihr eigentliches Stadium, nicht zuletzt weil hier die Ambivalenzen hervortreten, die vorher gleichsam latent geblieben waren: Jetzt steht die moderne „bürgerliche Gesellschaft“ zur Debatte, deren Losungsworte „Freiheit“ und „Gleichheit“ auch aufgerufen werden, aber nur um sofort wieder zurückgebunden zu werden in die theologisch begründete Autoritätsordnung. Zwar sei eine „Theokratie“ im Sinne des Alten Testamentes nicht mehr zeitgemäß, aber auch die modernen Herleitungen einer rechtlich gesteuerten Gesellschaft, etwa die von Hobbes oder Rousseau, werden verworfen, weil sie letztlich in den „Nihilismus“ münden, ebenso wie Baader als der „tatsächliche Gegenspieler zu Hegel und zu Marx“20 aufgebaut wird. Sie alle verfallen dem Verdikt der „Zeit- und Geschichtsbigotterie“, gegen die Baaders „andere“ Konzeption der „Zivilgesellschaft“ aufgeboten wird.
In dieser Zivilordnung „spricht zwar auch das Gesetz“21. Wenn aber dann – in gewisser Analogie zur Hegel’schen Rechtsphilosophie – die hierarchische Reihung von Familie, Korporation und Staat aufgemacht wird, so ist der Eindruck von liberalen Zugeständnissen an die moderne Entwicklung schnell wieder verflogen, zumal eindeutig konstatiert wird, dass die „Korporation par excellence“ keine andere ist als die Kirche. An dieser Stelle vermerkt Löwenthal zwar „Baaders Kampf gegen den Papalismus“, um dann aber seine politische Haltung so zusammenzufassen: „Baader ist kirchlicher und politischer Monarchist, aber eben ständischer Monarchist: nur des Hauptes und der Glieder geeinter Organismus vermag die Sozietät zu erhalten.“22 Wieder sind durch dieses ständische Element – und zwar gerade mittels seiner theologischen Bindung – weitere Ambivalenzen einer insgesamt autoritätsgebundenen Sozietätslehre signalisiert: Es gibt bei Baader so etwas wie eine gegenläufige Enthierarchisierung des Souveränitätsproblems („das Volk ist vom Regenten abhängig und der Regent vom Volk, denn ihrer beider Beziehung wurzelt, ruht bei Gott, vor dessen Stuhl sie Rechenschaft schuldig sind“), vorstellbar ist sogar ein theologisch begründetes Widerstandsrecht, das freilich in die seltsame Form einer Gleichberechtigung zwischen Herrscher und Volk gekleidet ist.23
In ihr argumentatives Entscheidungsstadium aber tritt Löwenthals Dissertation angesichts der „sozialen Frage“. Baader hatte 1835 bekanntlich auf sie mit einer aufsehenerregenden Schrift reagiert: Über das dermalige Missverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet. Diesen umständlichen Titel kann man geradezu als Allegorie darauf verstehen, dass Baader ihre politische Brisanz einerseits erkannte, aber andererseits alles aufbot, um den Funken der Revolution im Keim zu ersticken, der von Frankreich auf Deutschland überzuspringen drohte. Die analoge Ambivalenz zeigt sich auch bei Leo Löwenthal, wenn er die Versuchung der Revolution primär dem „wildesten Despotismus, der sich unter dem Namen Liberalismus verbirgt“, zurechnet, während er den Prozess der „Säkularisation“ nur als weltgeschichtliche „Sünde“ geißeln kann. Ihn aufzuhalten, wird zur eigentlichen, zur legitimen Aufgabe der „Gegenrevolution“: „Theologie, Kirche und Proletariat werden so zu Mitteln einer Theorie und Politik, die die im Anbruch befindliche bürgerliche Gesellschaft (im modernen Sinne dieses Wortes) auf ihrem Wege aufhalten sollen. Von oben und von unten wird der Versuch zur Rückgängigmachung der Säkularisation unternommen.“24
Jüdische Religionsphilosophie als geistesgeschichtliches „Puzzle“
Wenn diese Lektüre von Löwenthals Dissertation zutrifft, dann war ihr auffälligster Zug die rein immanente Rekonstruktion der Baader’schen Religionsphilosophie, die sich selbst angesichts drängender zeitgeschichtlicher Probleme keinen Ausbruch aus dem restaurativen katholischen Denkgebäude gestattete. Dies ist es, was Löwenthals Baader-Lektüre nicht nur als dogmatisch, sondern als „neo-orthodox“ erscheinen lässt. Wird hier ein starkes Kontinuitätselement zu seinen religiösen Wurzeln greifbar, so bleibt das große Rätsel, warum Löwenthal sich an einem dezidiert christlichen Autor erprobte, und nicht, was viel näher gelegen hätte, an einem jüdischen Denker. Ich muss gestehen, dass ich auf diese Frage keine Antwort gefunden habe. Gab es auch nach der Herstellung der staatsbürgerlichen Gleichheit noch den überkommenen Konversionsdruck, der die Taufe einst zum Entréebillet in die christliche Welt gemacht hatte (Heinrich Heine)? – oder kam es umgekehrt vielleicht sogar einer doppelten Häresie gleich, wenn ein neo-orthodoxer Jude sich auf das Terrain der christlichen Religionsphilosophie verirrte? Auffällig ist jedenfalls, dass Löwenthal weder in den Weimarer Schriften noch in seinen Erinnerungen jemals wieder auf die Baader-Studie zu sprechen kam.25
Aber für den examinierten Studenten gab es offenbar andere Probleme zu lösen: Die Berufsfrage trat in den Vordergrund, und eine akademische Karriere schien außerhalb der Reichweite. So bleibt Löwenthal in Frankfurt und beginnt sich in der praktischen Gemeindearbeit zu engagieren. 1924 nimmt er bei der „Beratungsstelle für ostjüdische Flüchtlinge“ die Stelle eines Syndikus auf und wird damit zeitweilig hauptberuflicher Mitstreiter im Netzwerk jüdischer Sozialarbeit, das sich über das ganze Deutsche Reich erstreckte. 1926 legt er das Preußische Staatsexamen für das Gymnasium ab und arbeitet ab 1927 als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie an verschiedenen Schulen in Frankfurt. Nebenher ist er bereits für das Institut für Sozialforschung tätig. Wichtig an diesen beruflichen Arrangements ist, dass Löwenthal seinen bisherigen Freundeskreis behalten kann, dass er weiterhin intensive Kontakte zu den ehemaligen Mitgliedern des Nobel-Kreises, z. B. zu Siegfried Kracauer und Ernst Simon pflegt und dass er auch im Magnetfeld des Freien Jüdischen Lehrhauses verbleibt.
Es war dieses jüdische Milieu, für dessen Vitalität Frankfurt in den 1920er Jahren berühmt war und in dem sich der junge Löwenthal offenbar wie der Fisch im Wasser bewegte.26 Signifikant für seine Entwicklungsmöglichkeiten als Intellektueller ist vor allem seine Vortragstätigkeit in verschiedenen jüdischen Einrichtungen, die seit Mitte der 1920er Jahre dokumentiert ist und sich schrittweise auf die gesamte Rhein-Main-Region ausweitet: So kündigt er z. B. im November/Dezember 1925 eine vierteilige Vortragsreihe im Freien Jüdischen Lehrhaus an, er referiert in der „Nassau-Loge“ und im Jüdischen Lehrhaus in Wiesbaden oder bei der „Gesellschaft Eintracht“ in Bensheim, die von Martin Buber geprägt war. Dazu gehörte auch eine begrenzte Öffentlichkeit, in der sich intellektuelle Ambitionen entfalten konnten. So publiziert Löwenthal ab 1925 im „Jüdischen Wochenblatt“ und ab 1926 im „Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde“ in Frankfurt, ab 1929 schließlich engagiert er sich in der „Volksbühne Frankfurt“ und schreibt in deren Mitteilungsblatt. In diesen Blättern wurden auch manche der Vorträge abgedruckt, bevor sie 1930 bis 1932 in der Bayrischen Israelitischen Gemeindezeitung – jetzt zur Artikelserie „Judentum und deutscher Geist“ ausgearbeitet – publiziert wurden.
Ich muss mich im Folgenden hauptsächlich an diese Artikelserie halten, um die Frage zu diskutieren, wie Leo Löwenthal in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zur jüdischen Religionsphilosophie stand bzw. warum sich seine Einstellung zu ihr veränderte. Für die Erläuterung des letzteren, des dynamischen Gesichtspunktes ist ein früherer Maimonides-Vortrag aus dem Jahr 1925 besonders aussagekräftig, weil er in sachlicher wie zeitlicher Hinsicht einen sinnfälligen Zwischenschritt in Löwenthals Denkentwicklung markiert, nimmt er doch demonstrativ eine innerjüdisch-theologische Perspektive ein und geht dann doch darüber hinaus. Der mittelalterliche Schriftgelehrte Moses Maimonides steht, sagt Löwenthal, in mehrfacher Hinsicht für eine „glanzvolle jüdische Geschichtsepoche“: Einmal mussten die Juden sich von der arabischen Gesellschaft weder „feindselig abschließen“ noch in ihr „assimilatorisch aufgehen“, weil es eine „staatsbürgerliche Einordnung in die Mahomedaner-Herrschaft“ gab; zum andern gehörte ein Gelehrter wie Maimonides zu den „eigentlichen Übermittlern der antiken und arabischen Welt für das Mittelalter“.27
Der tieferliegende Grund für die exponierte Stellung dieses mittelalterlichen Gelehrten hängt aber noch mit etwas anderem zusammen: Maimonides steht für den entscheidenden Punkt, an dem sich die jüdische Lehre gegenüber Philosophie und Wissenschaft zu öffnen beginnt, ja mehr noch – an dem sich das Verhältnis von Glauben und Wissen geradezu umdreht: „Nicht der Glaube steht im Zentrum des Judentums, sondern das Wissen. Nicht so sehr das passive Hören als das aktive Sehen […]. Der jüdische Gottesbegriff ist der Begriff der Vernunfterkenntnis. Seine Reinheit wird zum Prüfstein der Wahrheit.“28 Löwenthal startet von hier aus einen kurzen, aber prägnanten Assoziationsgang durch die Leitbegriffe von Maimonides’ Theologie: von der Zentralstellung des monotheistischen Gottesbegriffs über die „Nichtaussagbarkeit“ seines Wesens („Attributenlehre“) und die Kritik der wörtlichen Schriftauslegung bis hin zur Betonung der Ethik, des Gesetzesbegriffes und des damit verbundenen Anspruchs auf universelle Geltung. In nuce ist dies die Quintessenz, die aus dem berühmten „Führer des Unschlüssigen“ („More newuchim“) gezogen werden kann und die Maimonides als innerjüdischen „Aufklärer vor der Aufklärung“ erweist.29
Doch so immanent-theologisch diese Argumentationsfolge auch dargeboten wird – sie läuft darauf hinaus, die theologische Reflexion wenn nicht hinter sich zu lassen, so doch einen Prozess einzuleiten, den man verkürzt als den Übergang von einer orthodox-geschlossenen hin zu einer kritisch-offenen Auffassung des Judentums in ihrem Verhältnis zur „Welt“ bezeichnen könnte. Signifikant für unsere Fragestellung – die Formation und Transformation des Denkens von Leo Löwenthal – sind nun besonders die Zielorientierung, die dabei ins Auge gefasst wird, sowie die Mittel und Wege, die dafür eingesetzt werden. Offensichtlich gibt es einen aktuellen Gewährsmann, der in dem gesamten Referat auch als Stichwortgeber präsent ist, und dies ist niemand anderes als Hermann Cohen, der als neukantianischer Lehrer in der Studienzeit Löwenthals eher verdeckt blieb, während er jetzt offen hervorgeholt und als der intellektuelle Repräsentant des Judentums schlechthin gepriesen wird. Besonders seine nachgelassene Schrift „Die Religion der Vernunft aus dem Geist des Judentums“ könnte die „Rettung des Judentums“ befördern, die über die „Wiedergewinnung der Maimonidischen Plattform“ zu laufen habe, so wenig gesichert dies alles auch sei.30
Was aber ist der Zielpunkt, auf den diese Gedankendynamik ebenso hinausläuft wie das aus der jüdischen Religionsgeschichte herausgezogene Material? Entscheidend ist wiederum das Stichwort des Messianischen, wobei am fragmentarischen Text von 1925 zweierlei auffällt: Einmal ist das Messias-Motiv zwar von Anfang an subkutan präsent, scheint sich aber nur mühsam einer rationalen Geschichtskonstruktion einfügen zu wollen; wenn dies aber zum Ende hin doch gelingt, dann nur mittels einer bemerkenswerten Wende, die den Gedanken der ethischen Universalisierung aufnimmt und radikalisiert – mit der Folge, dass die religiöse Jenseitsorientierung in eine Diesseits-Bindung des Erlösungsgedankens transformiert wird. Dies ist, wenn man so will, der theologische Embryo jener krypto-materialistischen Geschichtsphilosophie, dessen Geburtswehen auch in der späteren Theoriebildung des Instituts für Sozialforschung noch nachwirken werden. Löwenthal findet sie bei Hermann Cohen vorformuliert: „Im Zusammenhang der realhistorischen Systematik wird klar, dass dieser Gedanke des Messianischen, der Gedanke der Erlösung im Diesseits ist. Wieder nach Hermann Cohens Worten: ,Das ewige Leben ist der Glaube des Mythos; die Zeit des Messias ist der geschichtsphilosophische Gedanke der prophetischen Sittlichkeit […] der Messias ist nicht der Erlöser der Menschen im Jenseits, sondern der Erlöser der Menschen im Diesseits‘.“31
Blickt man von diesem Gedankenknoten aus dem Jahr 1925 auf Löwenthals spätere Artikelserie „Judentum und deutscher Geist“, dann zeigen sich Kontinuitäten und Veränderungen: Zwar hört man nach wie vor einen theologischen Generalbass durchklingen, der allen Teilen der Serie unterlegt ist, auch ist die messianische Finalisierung des Geschichtsverlaufs nach wie vor deutlich präsent, aber insgesamt ist die Perspektive offensiver und mehr „out-going“. 1925 war die Leitfrage der jüdischen Geschichte noch ein „ernsthaftes geschichtsphilosophisches Problem“ und lautete defensiv: „Warum sie alle, hervorragendste Juden eines gemeinsamen Zeitalters, außerhalb des Judentums sich entfaltet haben“ 32. Und auch wenn „aus einer Geschichte der zentralen jüdischen Probleme eine Geschichte der zentralen jüdischen Persönlichkeiten geworden“ sei, dann müsse man „bei ihnen und für uns selbst ihre jüdische Substanz zurückerobern […], um die Kontinuität der jüdischen Problemgeschichte zu bewähren und zu erneuern“.33
Fünf Jahre später hingegen stellt sich das Tableau sehr viel positiver dar: Selbstbewusst und nicht ohne dramatische Steigerung wird eine Geschichte jüdischer Einzelpersönlichkeiten präsentiert und zu einer imposanten Kollektivbiographie zusammengestellt. Der Exkurs ins Mittelalter entfällt – nicht mehr Maimonides ist der Eckstein, sondern der Horizont ist von vorne die historische Aufklärung und damit die moderne Entwicklung im engeren Sinn. Und in diesem veränderten Kontext wird jetzt der Beitrag der Juden zur deutschen Geistesgeschichte dokumentiert, der durch die Reflexion auf die Differenz einen kritischen Stachel erhält: „Der Gesichtspunkt, von dem aus hier ein Stück jüdische Persönlichkeitsgeschichte getrieben werden soll, ist ein gesellschaftswissenschaftlicher: im Leben führender Juden dieser Epoche spiegelt sich deutlich die Geschichte der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft, zugleich auch der Aufstieg der von ihr mitgesetzten Widersprüche […].“34 Und genau durch diese kritische Zuspitzung erscheinen die „jüdischen Persönlichkeiten als Mitbeweger und Mitbewegte der bürgerlichen Gesellschaft“.35
Es ist klar, dass in Sätzen wie diesen bereits das Forschungsprogramm durchschimmert, mit dem Max Horkheimer dem Institut für Sozialforschung wenig später eine neue Ausrichtung geben sollte. Aber nicht dies ist interessant an Löwenthals Essays, sondern die vorausgesetzte Frage, wie eine aus dem Inneren der jüdischen Theologie stammende Form der messianischen Geschichtsspekulation schrittweise transformiert wurde (und so in das spätere Programm Eingang finden konnte). Offenbar war die Geschichtsphilosophie als solche ein günstiges Medium, um die Ablösung vom dogmatisch-theologischen Denken voranzutreiben, und als Geburtshelfer dafür eignete sich das Verständnis des Judentums als „Religion der Vernunft“, für das Hermann Cohen als der aktuelle, Maimonides als der vormoderne Eckstein firmierte. Aus demselben Zusammenhang erklärte sich aber auch die neue und die besondere Brisanz der historischen Aufklärung: Mit ihr war das Verhältnis zwischen theologischer Orthodoxie und wissenschaftlicher Forschung, zwischen Glauben und Wissen zum öffentlichen und politischen Konflikt geworden, sodass die Geschichte exemplarischer jüdischer Persönlichkeiten eine exemplarische Darstellung des Grundproblems dieser Moderne zu geben versprach.
In der Tat ist die Artikelserie „Judentum und deutscher Geist“ eine kleine, aber feine Skizzensammlung zur Geschichte der jüdischen Intellektuellen in Deutschland. Sprechend ist sowohl die Auswahl der Köpfe als auch die Tendenz, die in ihrer Aneinanderreihung steckt, demonstriert sie doch den Prozess der Säkularisierung nicht primär negativ, als Problem der jüdischen Emanzipation, sondern als Frage nach dem positiven Beitrag der Juden zur Aufklärung. So ist es nur folgerichtig, dass die Darstellung mit Moses Mendelssohn beginnt: Er steht philosophiegeschichtlich für den Übergang von der Leibniz-Wolff’schen Schule zum Kritizismus von Kant, der die radikalste Ausprägung der deutschen Aufklärung verkörpert.36 Während Mendelssohn vor solcher Konsequenz in erkenntnistheoretischer Hinsicht eher zurückschreckte, ging er ihr in anderer Hinsicht sogar voran: Seine Freundschaft mit Lessing beruhte nicht zuletzt auf der „Entdeckung der Kunst als einer besonderen Art unseres Bewusstseins“, was „dem Bürgertum den neuen Ausdruck befreiten Gefühlslebens“ bescherte und von Kant schließlich in der „Kritik der Urteilskraft“ philosophisch ratifiziert wurde.37
Dass Mendelssohn in der Galerie der „großen Geister“ bereits volle Gleichberechtigung zukam, wird absichtsvoll unterstrichen durch die einfühlsame Skizze eines gegenläufigen Schicksals: Die „Lebensgeschichte“ des Salomon Maimon interessiert Löwenthal als der „dokumentarische Niederschlag eines ostjüdischen Versuches, in die rationale Bildungswelt des deutschen Bürgertums vor 1800 einzudringen“.38 Dieser Versuch, der in Königsberg beginnt und auf dem Weg durch Europa alle Höhen und Tiefen durchläuft – in Berlin wird seine Kant-Schrift hoch gelobt, vom Hamburger Konsistorium wird seine Taufe abgelehnt, in Amsterdam gelingt ihm nicht einmal der Selbstmord –, ist am Ende tragisch gescheitert: „Als Maimon 1800 stirbt, wird er als Ketzer verscharrt.“39 Am signifikantesten an dieser Westwanderung eines Ostjuden ist vielleicht, was Löwenthal zwar nicht verschweigt, aber doch im Hintergrund belässt: Er führt das Scheitern des Salomon Maimon mehr auf seine philosophischen Versäumnisse zurück als auf die offensichtlichen Grenzen des christlich-bürgerlichen Toleranzwillens, der in Deutschland bekanntlich weit hinter den Gleichstellungspostulaten der Französischen Revolution zurückgeblieben war.
Damit ist das Stichwort gefallen, das auf Heinrich Heine verweist. Und jetzt, bei diesem Paradebeispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts steht Löwenthal nicht an, den Stier bei den Hörnern zu packen: „Warum ist Heine Christ geworden?“, lautet sein provozierender Einstieg – provozierend sowohl für die jüdische wie für die christliche Gemeinde; denn was von Heine selber als Antwort auf diese Frage zitiert wird, lässt zweifelsfrei erkennen, dass Heine sich weder im Judentum noch im Christentum zu Hause fühlen konnte, weil er in jedem positiven Glaubensbekenntnis wenn nicht Heuchelei, so doch einen Vorwand für andere Interessen erblickte. Wenn also auch für ihn der „Taufzettel nur das Entréebillet zur europäischen Kultur war“, so steckte in dieser zynischen Formulierung dennoch – und darauf kommt es Löwenthal an – ein politisches Bekenntnis: „Europäische Kultur – das bedeutet für Heine das Europa der französischen Revolution.“40 Aber auch hier bleibt der auf Emanzipation drängende Generalisierungsgedanke nicht stehen, vielmehr wird in den von Heine vollzogenen Identitätswechseln eine doppelte Bewegung sichtbar gemacht, die gleichzeitig Regression und Progression ist: Regress zu den von Heine verleugneten jüdischen Wurzeln, die für Löwenthal auf Maimonides zurückverweisen, und Progression, weil in denselben Wurzeln ein vorwärtsweisendes Element, das messianische Bewusstsein wiederentdeckt wird: die „Sehnsucht nach dem gelobten Land“, die der Kern des „nationaljüdischen Geschichtsbewusstseins“41 sei.
Aber diese Entwicklungslinie hier abzubrechen, hieße Heine auf ein nationalistisches Missverständnis festschreiben. Löwenthal kommt es auf die Fortsetzung der geschichtsphilosophischen Dynamik an: „Heine nimmt den Begriff der Befreiung auf und versteht ihn zunächst genau so, wie ihn die Reform verstanden hat – als die Befreiung der Juden aus unwürdiger Knechtschaft. Aber sehr bald wächst ihm dieser Begriff der jüdischen, der nationalen Befreiung zur menschheitlichen Befreiung.“42 Und daraus wiederum ergibt sich der weitere Abstraktionsschritt, der in der Geschichte des Vormärz tatsächlich gegangen worden ist, der die engagierten Demokraten aus Deutschland herauskatapultiert und nach Frankreich, ins Abenteuer der Revolution hineingeführt hat. Aber bevor Löwenthal auf Karl Marx und sein Verhältnis zum Judentum zu sprechen kommt, macht er einen bemerkenswerten Umweg, der den Konflikt zwischen Ost- und Westjudentum noch einmal aufnimmt und jetzt sogar entschieden bewertet: Ferdinand Lassalle, immerhin der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, ist für ihn das Paradebeispiel für einen nichtauthentischen Revolutionär, der seine ostjüdische Abstammung nicht loswurde, „weil es ihm niemals gelungen ist, jenes Grunderlebnis des geächteten jüdischen Volkes umzuschmelzen und zu läutern zur Reinheit einer von allem Persönlichem und allem zufällig Biographischen gereinigten Idee“.43
Das genaue Gegenteil sieht Löwenthal in Karl Marx verkörpert, der „als die wirkliche Fortsetzung der in Maimonides kulminierenden Rationalisierung des Judentums“ gefeiert wird: „Er führt in grandioser Einseitigkeit und denkerischer Überlegenheit die Linie des universalistischen Erkenntnisprozesses fort.“44 Während Lassalle in einem lächerlichen Duell um eine Adlige zu Tode kam, hat Marx die Diskriminierung der Juden positiv verarbeitet und in eine ethische Haltung zu transformieren vermocht, mit der die „menschliche Emanzipation, die Befreiung der ganzen Menschheit von der Last der unterdrückenden Gewalt“ zum politischen Manifest wurde.45 Auffällig ist hier, dass Löwenthal seine Darstellung von Marx fast ausschließlich mit der umstrittenen Frühschrift „Zur Judenfrage“ bestückt, die für ihn das Gegenteil eines „jüdischen Selbsthasses“ ist, während die ökonomischen und klassentheoretischen Schriften kaum erwähnt werden. Der Grund dafür ist ziemlich klar: Löwenthal bleibt ganz auf den Neukantianismus verpflichtet, der in seiner letzten Phase den Übergang in die sozialistische Politik anvisierte, sich diesen aber nur im Horizont eines ethischen Universalismus vorstellen konnte.