- -
- 100%
- +
Daraus folgt, daß Quantifizierungsverfahren in der Graphologie (und möglicherweise nicht nur dort), um ihren Kern nicht völlig zu verfehlen, eher auf der Ebene umfassender Persönlichkeitsbewertungen (oder spezifischer daraus abgeleiteter Feststellungen) als auf der irgendwelcher spezifischer interpretativer Annahmen durchgeführt werden sollten: Die letzteren stellen, in ihrer individuellen Anwendung, stets nur Versuche dar, stets implizieren sie einen bestimmten Spielraum an charakterologischer Bedeutung. Die Extrempositionen innerhalb ihres Spielraums können einander hinsichtlich der sozialen und moralischen Werte diametral entgegengesetzt sein, und die Fixierung bestimmter, durch eine Bewertungsdimension eindringlich nahegelegter Züge der Persönlichkeit wird immer dadurch erreicht, daß man nichts weniger als die gesamte Konfiguration von Indikatoren inner- und außerhalb dieser besonderen Dimension in Betracht zieht. Alle anderen Vorgehensweisen sind notwendig atomistisch und nicht objektiv, insofern sie dogmatisch dazu neigen, die Bedingungen zu diktieren, unter denen ihre Gegenstände sich wissenschaftlicher Erkenntnis erschließen sollen, anstatt sie durch die Natur der zu untersuchenden Phänomene bestimmen zu lassen. In einem funktionalen Ganzen haben die Komponenten keine Signifikanz, wenn sie aus ihrer Position innerhalb dieses Funktionssystems herausgelöst werden. Wenn man eine Melodie in eine andere Tonart transponiert, bewahrt keine einzige Note ihre Identität; die Melodie aber sehr wohl. Ebenso können für ein und dasselbe Individuum in verschiedenen Lebenssituationen und in verschiedenen Perspektiven externer Beobachtung völlig unterschiedliche Konzeptionen von »Zügen« hinsichtlich des sozialen Verhaltens zutreffen, auch wenn ihr möglicher Umfang in signifikantem Maße durch die Persönlichkeitsstruktur selbst begrenzt ist; um seine Identität zu erkennen, erfordert es das Bild der gesamten Struktur.
Das heißt, daß die Quantifizierung einzelner graphischer Züge hier und da für Verfahrenszwecke von Bedeutung sein kann, um den Untersuchenden bei der Orientierung auf sein Beobachtungsfeld zu unterstützen, daß sie aber als Grundlage für direkte psychologische Interpretation und darauf gestützte vergleichende statistische Studien völlig zufällig wäre. Das wird durch die innere Situation der grapho-analytischen Arbeit selbst bestätigt, und ein Beispiel mag das illustrieren. »Druck« in der Handschrift wird allgemein verstanden als Anzeichen für konzentrierte Arbeitsenergie und zielgerichtetes Streben, die ungefähr im selben Grad wie der Drucks vorhanden seien. Die atomistische Methode zur Überprüfung dieser Annahme würde eine Skala zur quantitativen Messung des Drucks aufstellen, sie auf Handschriftenproben anwenden, versuchsweise die Stärke des Drucks als Stärke an äußerlich verfügbarer Energie interpretieren, die Interpretation an sozialen und klinischen Belegen überprüfen und sich beträchtlichen Überraschungen aussetzen: Jenseits eines bestimmten Punkts an Intensität kehrt sich die Richtung der psychologischen Bedeutung von »Druck« nämlich um und deutet im Maße seiner weiteren Verstärkung auf das Vorliegen eher hemmender innerer als herausfordernder äußerer Hindernisse hin, die durch dieses Zurschaustellen von Kraft überwunden werden sollen. Der exakte Ort des Umkehrungspunktes auf der Intensitätsskala ist wiederum variabel und hängt von der individuellen Konfiguration ab. Komplizierter noch wird die Situation durch die Tatsache, daß der in der Stichprobe vorfindliche Druck unter Umständen in Bewegungen verschoben werden kann, die normalerweise nach motorischer Entspannung verlangen, und daß andere Eigenschaften die interpretative Basis dafür auf virtuell unendlich viele Arten modifizieren können, die sich einer geordneten Quantifizierung vollständig entziehen und, um verstanden werden zu können, auf das ihnen gemeinsam zugrundeliegende Prinzip der Systemtätigkeit zurückbezogen werden müssen. Denn wenn es auch selbstverständlich möglich ist, die grundsätzliche Bedeutung einer graphischen Eigenschaft wie etwa eines bestimmten Grads an Druck theoretisch unabhängig von Indikatoren, die sie verändern oder spezifizieren, zu beschreiben, wäre der daraus resultierende Begriff viel zu allgemein und charakterologisch umfassend, um mit irgendwelchen positiven und differenziellen, am Verhalten beobachtbaren Persönlichkeitseigenschaften zu korrespondieren, und würde sich deshalb nicht für derartige Beobachtungen einschließende Experimente zum Nachweis ihrer Validität eignen. Außer der Notwendigkeit, Versuche dieser Art nur auf der Grundlage umfassender Persönlichkeitsbilder durchzuführen, folgt daraus, daß graphologische Arbeit, um systematisch durchgeführt werden zu können, ihre Beobachtungen durch qualitative Klassifizierung ausdruckshafter Eigentümlichkeiten organisieren muß und daß weder die Übung im Sehen solcher Eigentümlichkeiten noch ein kritisches Ausbalancieren ihrer interpretativen Werte durch ein mechanisches Ausmessen einzelner quantitativer Aspekte ersetzt werden kann.
Die Objektivität jeglicher Untersuchungsmethode hängt letzten Endes von der Natur ihres Gegenstands ab. Persönlichkeit ist nicht nur keine Summe quantifizierbarer Verhaltenszüge; sie unterscheidet sich überdies von den Gegenständen der Naturwissenschaften durch ihre weit engere Verwobenheit in die eigene Existenz des Forschers, weshalb sie von ihm grundsätzlich anders erfahren wird, als er irgendwelche naturwissenschaftlichen Objekte wahrnimmt. Da unausweichlich bereits auf der Wahrnehmungsebene Werturteile in die Erkenntnis seiner Gegenstandssphäre einfließen, ist der Begriff des Gegenstands, Persönlichkeit, selbst im Verhältnis zu jeglichen in dieser Hinsicht erdachten Testmethoden weit weniger fest etabliert als der der physischen Kräfte oder chemischen Elemente im Verhältnis zu den zu ihrer Messung erdachten Testmethoden. Ein von menschlichen Wertvorstellungen – die sich von Interpretierendem zu Interpretierendem deutlich unterscheiden können – unabhängiger Begriff von Persönlichkeit existiert nicht. Viele Unterschiede zwischen Persönlichkeitsbildern, zu denen unterschiedliche Gutachter mit auf ein und denselben Fall angewandten psychologischen Methoden gelangen, sind weder einer Unangemessenheit und Ungenauigkeit der verwendeten Methoden noch Unterschieden in ihrer Anwendung geschuldet, sondern verschiedenen Wertvorstellungen, die Unterschiede im Fokus der Interpretation verursachen.
Auf der Quantifizierung einzelner graphischer Züge zu beharren beseitigte nicht diese Schwierigkeit, sondern vielmehr den jeweiligen Kontext, in dem allein diese Züge irgendeine Bedeutung hätten. Als ein aus der Sicht angeblicher wissenschaftlicher Objektivität erforderliches und auf vergleichende Studien solcher »quantifizierter« Züge abzielendes Validationsverfahren würde dies die Behauptung implizieren, daß diejenigen Phänomene, die Individualitäten konstituieren, im strengen Sinne nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Das wäre eher eine unkritische Ausdehnung der metaphysischen Position des Positivismus auf Inhalte, die geeignet sind, den Schatten eines Zweifels auf diese Position zu werfen, als ein Argument, das aus Erfahrung spricht. Nicht nur die personalistischen Psychologien, sondern jede Forschungsrichtung, die sich mit den morphologischen, ästhetischen, »topographischen« und historischen Dimensionen von Realität auseinandersetzt und mit Hilfe von Begriffen vorgeht, die der Natur der in diesen Dimensionen zu beobachtenden – stets »einzigartigen« – Phänomene angemessen sind, würden dadurch für ungültig erklärt. Wenn wir zu analysieren versuchen, was in unserer direkten Erfahrung unsere Vorstellung einer uns bekannten »Persönlichkeit« ausmacht, finden wir das Prinzip, das alle darin eingehenden Elemente verbindet, in einer gewissen qualitativ einheitlichen, ganz eigenen Art, die ausschließlich dieser Person zugehört und die eher eine »Wie«- als eine »Was«-Frage beantwortet. Der Inhalt selbst, Persönlichkeit, kann dann, als psychologische und nicht als soziale Kategorie, nur auf der Grundlage dieser Qualität der »individuellen Gestik« bestimmt werden, die genau das ist, was die Analyse der Ausdrucksbewegungen sich zu untersuchen vornimmt.
Die Probleme der Validierung von Befunden, die in Form von Gesamt-Persönlichkeitsbildern oder spezifischen Schlußfolgerungen aus ihnen angeordnet sind, sind deshalb in der Graphologie dieselben wie in irgendwelchen anderen der zur Zeit so einflußreichen projektiven Techniken. Der Rorschach-Test ist, unter streng statistischem Gesichtspunkt, weder zureichend validiert worden, noch ist die statistisch orientierte Schule der Psychologie in der Lage gewesen, in diesem Bereich hinreichend objektive Gültigkeitskriterien bereitzustellen. Als wie wenig überzeugend, unter einem Blickwinkel, der mechanische Zuverlässigkeit als Kriterium zur Bewertung psychologischer Techniken herausstreicht, die Anhänger dieser Schule, die die Existenz von Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Handschrift bestreiten, die aufgezeichneten experimentellen Erfolge mit der graphologischen Methode auch beurteilen mögen, sie haben es versäumt, diese Erfolge, die ihrer Leugnung so scharf widersprechen, zu erklären. Die häufige Behauptung, daß Erfolge dieser Art sich einem besonderen »intuitiven Talent« des Graphologen verdankten, ist nicht nur unvereinbar mit den grundlegenden Glaubenssätzen der »objektivistischen« Schule, sondern auch ein Meisterstück unkritischen Denkens. Wenn der Forscher in einem kontrollierten Versuch, in dem er Zugang zu nichts als einer Handschriftenprobe strikt unverfänglichen Inhalts hatte, in der Lage ist, erfolgreich die psychologische Verfaßtheit des Urhebers der Probe zu beschreiben, dann muß sein »Talent«, gleich wie wir es definieren, ausschließlich auf der Grundlage der Handschrift des Subjekts arbeiten; welche genauen und spezifischen Befunde er deshalb auch immer im Hinblick auf dieses Subjekt liefern kann, sie müssen in der hier beschriebenen Situation in irgendeiner Weise in der Schriftprobe und in nichts sonst enthalten gewesen sein.
Der akademische »Widerstand« gegen die Graphologie findet daher, bedenkt man die Schärfe, die er in der Vergangenheit gezeigt hat, seine Haupterklärung wahrscheinlich in weniger rationalen Motiven als den von den Gegnern der Methode ausdrücklich vorgebrachten. Nach Ansicht des Verfassers liegt eines ihrer offensichtlichsten in dem vergleichsweisen Mangel des durchschnittlichen Wissenschaftlers an spezifischer Fähigkeit, Eigenschaften von Mustern adäquat wahrzunehmen, die in all ihrer Verschiedenheit zu erkennen der durchschnittliche Kunststudent etwa keine Schwierigkeiten hat; in der Rationalisierung dieser Unfähigkeit ist der Wissenschaftler leichterdings versucht, die »Vagheit« seiner eigenen Erfahrung solcher Qualitäten dem Erfahrungsgegenstand zuzuschreiben. Ein zweites zu vermutendes Motiv aber, das hinter dem »Widerstand« gegen die Graphologie am Werk ist, und eines, das auf lange Sicht ernsthafter sein könnte, ist die in unserer Zeit weitverbreitete Neigung, psychologische Methoden in einem Ausmaß zu popularisieren und zu »simplifizieren«, das mit ihrer Natur unvereinbar ist und das kein Chemiker oder Physiker in seinem Feld tolerieren würde. Als Neigung auf seiten der Graphologen und Pseudo-Graphologen selbst hat dies zu der Unzahl unverantwortbarer Annäherungen an das Thema beigetragen, die seinem Ruf so viel Schaden zugefügt haben; die befremdliche Tatsache aber bleibt, daß der »Objektivist«, sobald er dieses Thema mit scheinbar gutem Willen untersucht, für gewöhnlich dieselbe Tendenz dadurch nährt, daß er die Graphologie seiner eigenen Art und seinem eigenen Grad an psychologischem Verständnis anzupassen versucht. Indes ist diese Haltung nicht notwendig auf die »objektivistische« Schule beschränkt. Das Verlangen nach Patentlösungen, das sich bereits in jüngeren Formen der Rorschachlehre und verwandten Lehrgebäuden bemerkbar macht, steht notwendig im Widerspruch zu dem komplizierten Denkprozeß, der in der systematischen Handschriftenanalyse erfordert ist. Gewiß, dank der leichten Beschaffbarkeit des Forschungsmaterials ist der beachtliche ökonomische Vorteil der Graphologie gegenüber den meisten gebräuchlichen psychodiagnostischen Methoden offensichtlich; während es aber im ganzen weit weniger Zeit in Anspruch nimmt, eine graphologische Analyse durchzuführen, als einen Rorschachtest, erfordert sie einen weit höheren Aufwand im Sinne wahrnehmungsmäßiger und intellektueller Konzentration. Das bringt sie in Konflikt mit einer Geisteshaltung, die im Sinne der alten Graphologie der »Zeichen« und der summativen Verfahren gegenwärtiger psychologischer Tests »Listen diagnostischer Indikatoren« wünscht, in denen jeder graphische Zug seine vorgeblich festbestimmte Bedeutung hat, in denen die Namen von Zügen einfach abgehakt werden können und intellektuelle Anstrengung soweit wie möglich vermieden wird. Wenn der Graphologe sich dieser – mit den Prinzipien seiner Methode wie auch dem Wesen der Persönlichkeit selbst unvereinbaren – Geisteshaltung hingibt, ist er verloren; er hat dem »Objektivisten« erlaubt, die Graphologie zu entstellen und in einen Popanz zu verwandeln, und er braucht sich nicht zu wundern, wenn dieser Popanz dann in Versuchen wie dem von Hull und Montgomery nur allzu leicht zu Fall gebracht werden kann.
Wie können graphologische Befunde angesichts dieser Situation schlüssig objektiviert werden? Wir haben gesehen, daß keine Validierung aussagekräftig sein kann, wenn sie nicht auf der Grundlage vollständiger Persönlichkeitsbeschreibungen oder einzelner aus solchen Beschreibungen abgeleiteter Feststellungen unternommen wurde, die Frage des »validen Kriteriums« bleibt aber noch zu beantworten. Nach Ansicht des Verfassers und gemäß seiner vorstehenden Argumentation insgesamt besteht das einzige mögliche Kriterium von unstrittiger Relevanz für die Objektivierung von Persönlichkeitsbeschreibungen darin, daß die Identität des beschriebenen Subjekts durch Personen, die es gut kennen, wiedererkannt werden kann. Die einzig solide Lösung scheinen somit angepaßte Versuche zu sein, in denen eine Gruppe von Persönlichkeitsbeschreibungen, die auf der Basis »blinder« graphologischer Analysen gewonnen wurden, der Gruppe der beschriebenen Subjekte gegenübergestellt wird und in denen die »Richter« – die aufs beste mit der Persönlichkeit eines jeden von ihnen bekannt sein müssen – die Identität des Subjekts jeder dieser Beschreibungen zu bestimmen haben. Solche angepaßten Versuche können und sollten genau kontrolliert werden. Sie können und sollten der schärfsten statistischen Analyse unterworfen werden. Ja, um auch die Frage der Zuverlässigkeit der Methode als solcher – d. h. unabhängig vom individuellen graphologisch Arbeitenden – zu beantworten, müßten solche Versuche eine größere Zahl genauestens in der graphologischen Methode unterwiesener Psychologen einbeziehen. Gegenwärtig scheint in diesem Land keine solche Gruppe zu existieren. Daß der Tag nicht fern sein mag, an dem sie nicht nur existiert, sondern ihre Fähigkeiten sich letzten Endes – in der Erziehung, in der Sozialarbeit, in der Berufsberatung und vor allem in der Psychiatrie und klinischen Psychologie – jenseits allen Zweifels bewährt haben, ist die Hoffnung und vertrauensvolle Erwartung des Verfassers.
Grundbegriffe
Der motorische Aspekt des Ganzen:
Kontraktion und Entspannung
Die Schreibbewegung ist kontinuierlich nur in der Abhängigkeit jeder ihrer Bestandteile von einem übergeordneten Zweck; sowohl in der Bewegungsrichtung als auch in der Geschwindigkeit, in der sie abläuft, ist sie diskontinuierlich. Hinsichtlich der ersteren leuchtet das ein aufgrund der Notwendigkeit, die richtungsmäßig komplexen Buchstabenformen zu erzeugen; hinsichtlich letzterer aufgrund der Notwendigkeit, die Wörter voneinander zu trennen. Beide Notwendigkeiten beeinflussen die kontinuierliche Entbindung motorischer Energie nicht nur über ihre eigenen direkten Erfordernisse an Diskontinuität, sondern auch über die Unfähigkeit des Organismus, diese Erfordernisse in genau dem von ihnen implizierten Maße zu erfüllen: Die richtungsmäßige Komplexität von Buchstaben macht es nicht nur schwieriger als bei einer einfachen horizontalen Bewegung, eine übergeordnete Richtungskontinuität aufrechtzuerhalten, sondern betrifft ebenso zentrifugale wie zentripetale Bewegungsanteile, die bei der Ausführung dazu tendieren, ihre von den schulischen Ausgangsschriften beabsichtigte richtungsmäßige Komplexität noch zu übertreffen; die dynamische Komplexität der Worttrennung umfaßt nicht nur die Notwendigkeit, zu unterbrechen und neu anzufangen, sondern auch die, zu verlangsamen und wieder zu beschleunigen; im Endeffekt erhöht die richtungsmäßige Diskontinuität tendenziell die dynamische, und zwar aus genau dem gleichen Grund, nämlich der Involvierung von zentrifugalen und zentripetalen Anteilen und der Notwendigkeit, sie zu kontrollieren. Als diskontinuierliche ist die Schreibtätigkeit durch den Wechsel von Kontraktion und Entspannung der beteiligten Fingermuskeln differenziert, ein Wechsel, den die unterschiedlichen Erfordernisse von Richtung und Geschwindigkeit notwendig machen.
Die erste und allgemeinste Aufgliederung aller Bestandteile der graphischen Bewegung unterteilt sie somit in Bewegungen der Kontraktion und solche der Entspannung, und mit Ausnahme einzig der Ebene der Formqualität gibt es kein graphisches Merkmal innerhalb irgendeiner Bewertungsdimension, das nicht einer der beiden Gruppen zugeordnet werden kann. Da die Gesamtbewegungsrichtung in allen abendländischen Handschriftensystemen eine horizontale ist, kann man von dem dafür geltenden Differenzierungsprinzip erwarten, daß es in vertikaler Richtung wirkt und sich am eindeutigsten in jenen Bewegungen manifestiert, die das strukturale Skelett jeder Handschrift ausmachen, den Auf- und Abstrichen: In der normalen, nicht von emotionalen Blockaden beeinträchtigten Handschrift repräsentieren die ersteren die grundlegendsten Entspannungs-, die letzteren die Kontraktionsbewegungen. Psychologisch hängt die Betonung der Kontraktion mit einer des Ich samt ihrer möglichen Implikationen einer relativen Steigerung der willentlichen, emotionalen und begrifflichen Kontrolle zusammen; die Betonung der Entspannung mit einer des Objekts samt möglicherweise implizierten relativen Steigerungen der Spontaneität, der Impulsivität und des Phantasie-Lebens. Eine unterschiedliche Bestimmtheit von Betonungsarten, wie sie durch gesteigerte Kontraktion oder Entspannung angezeigt wird, hängt in erster Linie von der Bewertungsdimension ab, innerhalb derer man auf diese Steigerungen stößt; eine Klassifizierung dimensionaler Bewertungen nach ihrer Position entweder auf seiten der Kontraktion oder auf der der Entspannung, wie es eine Diskussion der Bewertungsdimensionen selbst nahelegt, wird später in diesem Buch folgen.
Der symbolische Aspekt des Ganzen:
Die quasi-räumliche Erfahrung des Schreibfelds
Aus dem Blickwinkel der Realität betrachtet findet Handschrift auf einer zweidimensionalen Ebene statt und stößt nur in unbedeutendem Umfang in die dritte Dimension vor, und zwar so, daß dieser Vorstoß nicht wesentlich an ihrer visuellen Erscheinung teilhat. Aus dem der unmittelbaren Erfahrung sowohl des Schreibers als auch des Lesers hingegen ist die Handschrift ein räumliches Phänomen. Das ist nicht in einem irgendwie übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne gemeint. Das Schreibfeld wird so erfahren, als verwandele es sich in die Projektion eines Raumes auf eine zweidimensionale Fläche, ganz so wie die räumlichen Projektionen in Gemälden und Zeichnungen: Wir sprechen von einer schrägen oder senkrechten Handschrift, von fallenden Zeilen, geräumigen Schleifen, vom »Raum«, der für Randbemerkungen gelassen wird, von Auf- und Abstrichen, auch wenn diese Striche angesichts der gewöhnlichen Lage des Schreibpapiers in der Realität gar nicht auf- und abwärts, sondern vom Körper weg und zu ihm hin ausgeführt werden; schließlich neigen die Strichqualitäten selbst im besonderen dazu, eine Illusion der Tiefe zu schaffen, und der Wort»körper« als Ganzes wird erfahren als von seinem weißen »Hinter«grund unterschieden und plastisch abgesetzt: Für unsere unmittelbare Erfahrung ist die Handschrift vom Papier abgehoben, sie wird als im Raum stehend gesehen; sie »schafft Platz«, den, der sie umgibt, und so spiegelt sich ihre quasi-räumliche Natur in den spontanen Bezeichnungen wider, mit denen ihre Bewegungen gewöhnlich belegt werden.
Dieser Umstand bedeutet, daß in die graphische Bewegung ein Bereich innerer Erfahrung projiziert wird, innerhalb dessen der Projizierende sich in unbewußter symbolischer Analogie zu seiner Orientierung im Raum orientiert, wobei diese Orientierung umgekehrt denselben Richtungen raumanaloger Symbole folgt, wie es mehr oder weniger alles begriffliche Denken tut. Allein, wenn wir die gebräuchlichen sprachlichen Begriffe aufführen sollten, die – kraft einer unmittelbaren inneren Erfahrung, die sich in allen Individuen, die diese Ausdrücke verwenden, und ohne irgendeine bewußte figurative Absicht ihrerseits wiederholt – die Analogie vertikaler Richtungen benutzen, so würde ihre Zahl in gleich welcher Sprache endlos erscheinen, und Beispiele wie »in seiner Wertschätzung steigen« oder »niedergeschlagen sein«, »überlagern« oder »unterschwellig« mögen an diesem Punkt genügen, denn es wird jedem Leser leichter fallen, die Reihe fortzusetzen, als sie zu beenden. In symbolischem Sinne müssen wir nun, wenn wir uns die Handschrift als durch ein Koordinatensystem mit der Schreiblinie als Abszisse unterteilt vorstellen, alle unterhalb dieser Linie fallenden Bewegungen für auf solche Erfahrungen bezogen halten, wie sie im System innerer Orientierung des Schreibers der allgemeine Begriff von »unten«, alle oberhalb dieser Linie fallenden Bewegungen auf solche, wie sie der von »oben« impliziert. Die zuletzt genannte Regel bedarf allerdings der Erläuterung: Da der Großteil der zusammenhängenden horizontalen Bewegung, der seinerseits aus den kurzen Buchstaben und denjenigen Teilen der langen besteht, die der vertikalen Ausdehnung der kurzen entspricht, nicht gleichmäßig auf beide Seiten der Schreiblinie, sondern nur auf deren obere fällt, soll »oben« alle über die Oberkante dieser kurzen Formen hinausragenden Bewegungen bezeichnen. Die letzteren Formen bilden die sogenannte »Mittelzone« der Handschrift; die über oder unter ihr liegenden Bewegungen jeweils die »Ober-« bzw. »Unterzone«. In dem, soweit bekannt, ausnahmslos allen menschlichen Kulturen zugrunde liegenden symbolischen Denken verweisen die Erfahrungen, die auf den statischen Begriff »oben« oder den dynamischen »aufwärts« bezogen sind, durchweg auf diejenigen von Gott, Himmel, Tag, auf das Licht, den Geist, Schwerelosigkeit, Freiheit von physischen Bindungen, die Welt der Ideen, der Formen, der individuellen Vervollkommnung, des Bewußtseins; Erfahrungen hingegen, die auf den statischen Begriff »unten« oder den dynamischen »abwärts« bezogen sind, auf diejenigen von Tier, Erde, Dunkel, Dämonischem, Nacht, Materie, Schwere, Fleisch, von der Welt kollektiver und vegetativer Lebenskräfte, des Triebhaften, des Formlosen und der Träume; in paternalistischen Kulturen werden überdies die Vorstellungen von »Vater« und »Mann« als auf die erstere dieser Gruppen, diejenigen von »Mutter« und »Frau« als auf die zweite bezogen erfahren. Die relative Betonung einer der beiden Randzonen der Handschrift ist dementsprechend ein Beleg für die relative Betonung der entsprechenden Erfahrungssphäre in der inneren Orientierung und Haltung; wohingegen die relative Betonung der Mittelzone, da sie eine der tatsächlichen und kontinuierlichen graphischen Vorwärtsbewegung darstellt, eine relative Betonung von Aktivität an sich im Unterschied zu jedweden in erster Linie »erfahrenden« Haltungen belegt. Eine Ausarbeitung dieser Feststellungen erfordert einmal mehr sowohl hinsichtlich der möglichen Arten der Bewegungsverteilung als auch ihrer psychologischen Deutung eine Erörterung der entsprechenden Bewertungsdimensionen.
Während die vertikale Dimension der Handschrift von daher auf die Selbst-Orientierung der Person auf vorhandene Werte verweist, bezieht die horizontale Dimension sich auf ihre Realitätsorientierung, die die Wahl von Zielvorstellungen und eines auf sie gerichteten Verhaltens, kurz, den Prozeß der Externalisierung umfaßt. In den westlichen Kulturen ist das Schreiben als Gesamttätigkeit nach rechts gerichtet, und diese Modalität scheint mit der Betonung von absichtsvoller und zielgerichteter Tätigkeit, kurz, von Zukunft zusammenzustimmen – ein Umstand, der im Unterschied zu den orientalischen Kulturen, die richtungsmäßig davon abweichende Schreibsysteme verwenden, charakteristisch für das Abendland ist. Die Verwendung der rechten Hand vorausgesetzt – die für Linkshänder anzulegenden speziellen Kriterien werden gesondert diskutiert –, macht jede Bewegung des Arm-Hand-Systems, die in einer natürlichen und unangespannten Art und Weise vom Körper weg schwingt, das Nachfolgen einer Rechtsausrichtung notwendig, die graphologisch mithin als die Bewegung des Kontakts und der Externalisierung an sich bestimmt wird, während die Betonung der linksgerichteten Bewegung als signifikant für Kontaktvermeidung und Konzentration, gleich welcher Art, auf das Selbst verstanden wird. Darüber hinaus wird, da das tatsächliche zeitliche Fortschreiten der Schreibtätigkeit ihrem räumlichen Voranschreiten nach rechts folgt, die rechte Seite als ein symbolisches Korrelat der Vorstellung von »Zukunft« in der inneren Erfahrung des Schreibers selbst verstanden; und Betonung der Vergangenheit, wiederum gleich welcher Art und Absicht, würde dementsprechend durch eine Betonung von im Sinne der Verteilung der Schreibbewegung linksgerichteten Anteilen angezeigt. Weitere unterscheidende Untersuchungen der Verteilung graphischer Bewegung aber, in ihrer horizontalen mehr noch als in ihrer vertikalen Dimension, setzen einmal mehr eine Erforschung der Handschrift in einer beträchtlichen Zahl spezifischerer Bereiche voraus (Abb. 1).