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Deine Mutter war Schauspielerin. Wo hat sie damit angefangen?
In Bochum. Damals gab es ja noch das Fach »Jugendliche Sentimentale«: bei dem legendären Saladin Schmitt, dem Erfinder der expressionistischen dunklen Bühne, weshalb er von jedem »Saladin mit der Schlummerlampe« genannt wurde. Seine Inszenierung von Schillers »Die Räuber« hieß allgemein »Bruderzwist auf Sohle Sieben«. Er hatte eine stehende Redewendung gegenüber weiblichen Ensemblemitgliedern, indem er sie anschwulte: »Meine liebste, beste, teuerste Freundin, gehen Sie weg. Ich kann Sie nicht mehr sehen.« Sehr viel später wurde meine Mutter als Tischdame von Goebbels eingeteilt. Das wußte sie vorher nicht. Sie kam wie immer zu spät und bekam einen Wahnsinnsschreck, als nur noch neben Goebbels ein Platz frei war und ihr nichts anderes übrigblieb, als sich dorthin zu setzen. Goebbels mußte sich damals von seiner Freundin, der tschechischen Schauspielerin Lida Baarova, trennen, weil sie Halbjüdin war. Weil meine Mutter von weitem genauso aussah wie Lida Baarova, hatte man sie als Tischdame ausgesucht. Glücklicherweise saß ihr ein alter Kollege aus Bochumer Zeiten gegenüber. »Maria«, sagte der, »mach doch nochmal den Saladin Schmitt.« Also schwulte sie: »Meine liebste, beste, teuerste Freundin, gehen Sie weg. Ich kann Sie nicht mehr sehen.« Plötzlich Totenstille, weil Goebbels glaubte, sie hätte ihn nachgemacht. Auf diese Weise hat sich das mit Goebbels und meiner Mutter zerschlagen. Leider. Die hätte ich ihm nämlich gegönnt. Es wäre doch schön gewesen, wenn er sich nach einer Halbjüdin eine Halbzigeunerin eingehandelt hätte. Da hätten seine Kumpel aber irgendwann mal gedacht: »Der Goebbels, der hat aber auch einen seltsamen Weibergeschmack.«
Wann hat sie denn deinen Vater kennengelernt?
Mein Vater war im Ersten Weltkrieg in der Kavallerie gewesen, wie sich das gehört. Er war als einer der ersten dabei, als die Luftwaffe erfunden wurde. Daß er geflogen ist, hat man seiner Autofahrerei angemerkt. Glücklicherweise hatte er später einen Chauffeur. Er ist immer wieder mit seinem Verlag pleite gegangen, insgesamt fünf Mal. Deshalb bin ich auch ganz froh, daß ich nicht in den Rowohlt Verlag eingetreten bin, denn diese Tradition hätte ich als erstes wiederbelebt. Im Zweiten Weltkrieg emigrierte er zunächst nach Brasilien, obwohl man nicht so genau weiß, ob es sich wirklich um eine Emigration oder nicht vielleicht doch nur um einen Abenteuerurlaub handelte. Er kam erst zurück, als Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte. Er dachte, daß es ja wohl nicht mehr lange dauern könne. Er ist auf einem Blockadebrecher zurückgekommen, weil er nicht erst zurückkehren wollte, nachdem Deutschland verloren hatte. Er wollte noch ein bißchen mitmischen. Es hat aber sehr viel länger gedauert, als er angenommen hatte, so daß er wieder zur Luftwaffe mußte.
Auf Kreta hat er gegen die Engländer gekämpft. Und wie! Er merkte ziemlich bald, daß die Griechen, die seit Jahren Bürgerkrieg hatten, schon seit Jahrzehnten mit denselben Spielkarten spielten, so daß jeder wußte, welches Blatt der andere hatte, so abgewetzt waren die Karten. Er hat sich mit seinen alten Verlegerbeziehungen von der Altenburger Skatkartendruckerei neue Spielkarten kommen lassen und hat sie gegen Ouzo und Retsina verscherbelt. Zweitens hat er mit Dynamit gehandelt. Aus den Bomben, die er auf die Engländer abwerfen sollte, hat er etwa vier Fünftel des Schießpulvers abgezweigt – die Bomben konnte man ja ganz leicht aufschrauben – und es gegen Naturalien an die Griechen vertschintscht. Er wußte natürlich, daß die Griechen auch noch etwas anderes damit gemacht haben, als das Dynamit zum Fischen zu verwenden, aber das war ihm auch ganz recht. Anschließend hat er brav seine Bomben ins Gelände geschmissen, wo sie kein Unheil anrichten konnten, und sie haben auch schön geknallt, aber sonst waren sie harmlos.
Eine dieser Bomben hat er aus Versehen auf eine englische Feldküche geschmissen, die so gut getarnt war, daß man sie beim besten Willen aus der Luft nicht sehen konnte. Die machte »Peng«, ganz zaghaft zwar, aber sie hat dennoch einigen Schaden angerichtet. Da hatte er ein so schlechtes Gewissen, daß er den nächsten Fliegerangriff auf der Tragfläche mitflog, weil er dachte, wenn es ihn herunterwehen würde, hätte er selbst schuld – Gottesgericht sozusagen. Seine Einstellung wurde schließlich ruchbar, und zu einer Zeit, als sie bereits Kinder und Greise einzogen, wurde er wegen politischer Unzuverlässigkeit unehrenhaft aus den Heeresdiensten entlassen und langweilte sich fortan in Grünheide bei Berlin.
Mein Vater hätte den Zweiten Weltkrieg fast verpaßt, weil man ihn mit seinem Vater verwechselt und ihn für tot erklärt hatte. Nach einem kurzen Einsatz in Nordafrika bekam er dann Tropenfieber und verbrachte den Rest des Krieges im Lazarett in Italien. Wie ist es deinem Vater denn zum Kriegsende ergangen?
Weil mein Vater immerhin in zwei Weltkriegen Erfahrungen gesammelt hatte, wurde er Hauptmann. Das war er, glaube ich, schon im Ersten Weltkrieg, im Zweiten ist nicht viel dazukommen. In Friedenszeiten wird man ja schneller befördert als in Kriegszeiten. Nun sollte er den Volkssturm von Berlin-Grünheide organisieren. Mein Vater kannte niemanden in Grünheide. Sein Nachbar, ein sozialdemokratischer Tischler, hat zwei Listen angefertigt, eine mit Nazis und eine mit Nicht-Nazis. Mit den Nazis ist mein Vater in den Wald gegangen und hat sie Griffe kloppen lassen. Er hat ihnen die Eier geschliffen, bis ihnen das Arschwasser in der Kimme kochte. Der Tischler requirierte mit den Nicht-Nazis Nahrungsmittel, weil ein Volkssturm ja von irgend etwas leben mußte. Abends lagen die Nazis auf ihren Betten, verbanden sich ihre Wunden und Blasen, stöhnten und hatten Muskelkater. Mein Alter, der Tischler und die Nicht-Nazis soffen währenddessen die Nahrungsmittel weg, die sie tagsüber requiriert hatten.
War deine Mutter damals bei ihm in Grünheide?
Nein, sie hatte sich nach Hamburg abgesetzt. Nach der Schließung des Schiller-Theaters wurde es plötzlich wichtig, ob man einen Ariernachweis hatte, aber sie war ohnehin zu schwanger, um noch das Gretchen spielen zu können, obwohl das natürlich gut gepaßt hätte, bei dieser Kindsmörderin. Zum Emigrieren war es auch schon viel zu spät, und da haben ihr alle geraten, nach Hamburg zu gehen. »Das ist fast so gut wie emigriert, denn die Hamburger fiebern den Engländern entgegen, um sich endlich ergeben zu dürfen.« So bin ich Hamburger geworden.
Und dein Vater ist 1945 nachgekommen?
Er hat sich von seinem Volkssturm in Grünheide abgesetzt. Den sozialdemokratischen Tischler ernannte er zu seinem Nachfolger mit dem dienstlichen Befehl, beim ersten Russen, den sie sehen, sofort weiße und wenn möglich auch ein paar rote Fahnen zu hissen. Auf diese Weise ist der Volkssturm in Grünheide bei Berlin geschlossen in sowjetische Kriegsgefangenschaft gegangen und geschlossen zwei Tage später wieder entlassen worden, weil er so vorbildlich die Waffen gestreckt hatte. Insofern sehe ich in meinem Alten durchaus einen Kriegshelden. Er ging dann mehr oder weniger zu Fuß nach Hamburg, um zu sehen, was da läuft. Geheiratet haben meine Eltern erst, als ich schon zehn Jahre alt war. Ich fand das immer noch verfrüht. Nur weil ein Kind da ist, tut man das doch nicht.
Seitdem heißt du Rowohlt?
Wenn ich Bücher signiere, die ich aus dem irischen Englisch übersetzt habe, und ich nicht immer ein Harry Rowohlt hinsetzen will, schreibe ich auch manchmal Harry auf irisch. Wie man das macht, habe ich in Dublin in der »Harry Street« abgekupfert. H E A R A I D H. Es ist also ganz einfach. Und dann schreibe ich Hearaidh FitzRowohlt, wobei Fitz als Präfix für uneheliche Geburt steht. Meine Eltern haben mich dann leider doch ehelich gemacht.
Und wo bist du aufgewachsen, als du noch unehelich warst?
Ich war jetzt zwar geboren, aber ich erinnere mich natürlich nicht mehr daran. Ich wuchs nicht in meiner Heimatstadt Hamburg auf. Dieses Hamburger linksradikale Straßenorchester »Tuten & Blasen« hat sich mal geweigert, mich als Trommler aufzunehmen, weil ich nicht ordentlich Noten lesen kann. Da bleibt mir als letzte Zuflucht nur noch der »Shanty-Chor des Vereins gebürtiger Hamburger e.V.« Die können mich nun wirklich nicht zurückweisen. Sogar für den früheren Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau ist eine Ausnahme gemacht worden. Der wurde nämlich nicht in Hamburg geboren, sondern hart an der Grenze. Irgendwo im Landkreis Storman. Auf jeden Fall ist er kein gebürtiger Hamburger – im Gegensatz zu mir. Bewußt aufgewachsen bin ich in Wiesbaden im Alter von zwei bis sechs. Mit großem Genuß. Wir hatten einen wunderbaren Kindergarten. Lauter Schauspielerinnen und Künstlerinnen – also das, was man heutzutage als alleinerziehende Mütter bezeichnen würde – haben zusammengelegt und eine Kindergärtnerin bezahlt, die wir alle sehr liebten. Sie hieß Tante Renate. Das war ein Kinderladen lange vor der Zeit. Vor ein paar Jahren hatte ich meine erste Lesung in Wiesbaden und erzählte in der Einschleimphase von dieser Wiesbadener Zeit. In der Pause kam eine sehr süß anzusehende ältere Dame und gab sich als Tante Renate zu erkennen. Ich habe sie gefragt, wie alt sie ist, und plötzlich wurde mir klar, warum wir sie so geliebt haben. Sie war damals sechzehn Jahre alt, also nicht wesentlich älter als wir. Mein bester Freund war Timmi Belwe. Damals hatte Tante Renate ein neues rattenscharfes Sommerkleid an, dunkelblau, fast schwarz, mit großen weißen Tupfen. Sie sah sowas von zum Anbeißen in diesem Kleid aus, daß wir fanden, man müßte ihr das sagen. Timmi meinte, ich solle es ihr sagen. Ich sagte, nein, sag du es ihr doch. Wir hatten beide Schiß, und aus Buße haben wir die Türpfosten der Kindergartenhaustür – ich links, er rechts – von ganz unten bis soweit, wie wir hochkamen, abgeleckt. Das schmeckte sehr eklig nach Staub und Leinöl und war eine angemessene Buße. Wenigstens haben wir uns keinen Splitter in die Zunge gezogen. Viel, viel später habe ich mal in Pardon ein Foto von einem bärtigen langhaarigen Mann gesehen, der ziemlich wüst aussah und die Zunge herausstreckte, und ich dachte, der sieht aus wie mein Freund Timmi Belwe. Der hatte übrigens keine eigene Schultüte, deshalb halten auf dem offiziellen Foto »Mein erster Schultag« Timmi und ich zusammen dieselbe Schultüte, nämlich meine. Aber er hält sie so, als wäre es seine, während mir nur das dünne Ende blieb.
Und? War er es denn auf dem Foto in Pardon?
Es stellte sich heraus, daß Timmi inzwischen Frontmann der Gruppe »Soul Caravan« war. Die kamen, wie damals alle, gerade aus Indien zurück, hatten einen Gig in Wiesbaden und wurden an der Grenze festgehalten, weil sie Preßtee dabei hatten. Der sah aus wie Shit, dabei sieht Preßtee sehr schön aus, mit reingepreßten Mustern. Kein Dealer würde so schön gepreßten Shit verkaufen. Die Jungs von »Soul Caravan« sagten zu den Grenzern: »Wir haben morgen einen Gig und müssen weiter. Könnt ihr nicht einfach was von diesem Tee abhacken und versuchen, das entweder in der Pfeife zu rauchen, oder Tee davon zu brühen, dann merkt man doch, ob das Shit ist oder nicht.« Sie haben den Gig dann doch noch gekriegt. Damals haben sie schwer politische Texte gemacht, so daß ihnen die politische Polizei auf diesem Konzert den Strom abgedreht hat, wodurch aber nicht nur die Verstärker ausfielen, sondern auch das Licht. Also hat die politische Polizei das Licht wieder angemacht, und da hatten die Mitglieder der Kapelle »Soul Caravan« die Hosen heruntergelassen und zeigten ihre Ärsche. Daraufhin bekamen sie einen Prozeß wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Den haben sie aber gewonnen, weil der Richter sagte, sie konnten nicht damit rechnen, daß plötzlich das Licht wieder angehen würde, und wenn jemand im Dunkeln die Hose runterläßt, ist das kein öffentliches Ärgernis, sondern streng privat. Timmi ist zwar älter als ich, aber wir sind dennoch zusammen eingeschult worden. Das lag daran, daß meine zweite Verlobte Katharina eineinhalb Jahre älter war als ich. Die ging nun in die Schule, konnte plötzlich lesen und schreiben, und ich war kein Umgang mehr für sie. Da hab ich meine Mutter so lange angemault, bis ich auch in die Schule durfte, ein Jahr zu früh. Das war später ganz günstig, weil ich immer noch der Jüngste in der Klasse war, als ich mit siebzehn sitzenblieb.
Damals machte man ja mit achtzehn Abitur und wurde mit einundzwanzig mündig. Inzwischen ist es umgekehrt. Was ist denn aus deiner Verlobten geworden?
Katharinas Mutter war auch Schauspielerin und Timmis Mutter war Sopranistin. Als Timmi im Kindergarten meiner zweiten Verlobten Katharina dreimal hintereinander die Bauklötze umgeschmissen hatte, sagte Katharina zu mir: »Harry, unternimm was!« Da haben wir uns geprügelt, und ich habe ihm ein großes Stück Frisur samt Kopfhaut abgerissen. Das war mir sehr unangenehm, und eine Zeitlang habe ich mich aus Scham geweigert, in den Kindergarten zu gehen. Ein paar Tage später trafen meine Mutter und ich zufällig Timmi und seine Mutter beim Spazierengehen. Die Mütter keiften heftig aufeinander ein, was sich wirklich eindrucksvoll anhörte – Timmis Mutter, der Koloratursopran, und meine Mutter mit Atemstütze, die inzwischen nicht mehr die jugendliche Sentimentale war, sondern Hauptrollen spielte! Die konnte also auch ganz gut brüllen. Timmi und ich sind auf eine Kiefer geklettert und haben die beiden keifenden Mütter mit Kiefernzapfen beworfen, weil Timmi es völlig in Ordnung fand, daß ich ihm den Haarbüschel aus dem Kopf gerissen hatte. Es ist inzwischen alles prima nachgewachsen. Ich habe das überprüft.
Was war dein erstes Buch?
Meine Mutter hat mir immer »Pu der Bär« vorgelesen. Als ich drei war, hat sie damit angefangen, und das war ein Grund, weshalb ich endlich selber lesen können wollte: damit ich das unbehelligt von der mütterlichen Betonung lesen konnte. Aber davon abgesehen war es sehr angenehm, vorgelesen zu bekommen. Deshalb habe ich auch heute noch kein schlechtes Gewissen, wenn ich über die Käffer tingele und den Leuten etwas vorlese.
Wer kam nach Tante Renate und Katharina?
Meine Mutter verkrachte sich ständig mit ihren Dienstmädchen. Wenn sie das alleine nicht schaffte, kam meine Oma und hat auch noch mitgemischt. Das war ziemlich lästig. Sobald man sich an eine gewöhnt hatte, war sie auch schon wieder gefeuert. Meine absolute Lieblingsfrau hieß Ingeborg. Da hatte ich mich von Tante Renate schon emanzipiert. Ingeborg war mit lauter Binnenschiffern verwandt, und wenn die in Wiesbaden festgemacht haben, waren Krach und Wonne angesagt. Das konnte nicht lange gutgehen. Meine Oma fand das entsetzlich. Danach mußte ich weg, weil meine Mutter am Zürcher Schauspielhaus ein Engagement bekam. Ich wurde allerdings nicht nach Zürich, sondern nach Herrliberg in der Nähe von Zürich in eine Kleinkinderbewahranstalt gesteckt. Meine Mutter wohnte möbliert bei Herrn und Frau Huber, und ich war in dieser kleinen Anstalt, ein entsetzliches Haus. Aus Deutschland und immer noch leicht unterernährt, kam ich in die reiche Schweiz und wurde erstmal gezielt und systematisch ausgehungert. Außer mir gab es noch zwei weitere Kinder. Das eine war ein zurückgebliebenes kleines Mädchen, welches von Frau Bopp, der Leiterin, isoliert wurde. Ich habe mich ein paar Mal zu ihr geschlichen und ihr das Wort Tasse beigebracht. Die konnte überhaupt nicht sprechen. Und dann gab es noch ein Baby. Bei dem hat Frau Bopp eine Art Scheinschwangerschaft entwickelt. Sie prozessierte gegen die Mutter dieses Babys und wollte sie für unzurechnungsfähig erklären lassen, damit sie das Baby behalten konnte. Eine sehr unerfreuliche Geschichte. Das ganze wurde angeblich nach Montessori-Gesichtspunkten geführt. Noch heute, wenn ich das Wort Montessori höre, denke ich an die Kapelle »KISS«, mit dem SS-Logo in der Mitte: MonteSSori.
Hast du nur schaurige Erinnerungen an Herrliberg?
Nein, glücklicherweise habe ich Alfred Polgar kennengelernt, der damals in Zürich im Hotel Urban wohnte. Wir haben uns angefreundet, soweit sich so ein wunderbares Jahrhundertgenie wie Alfred Polgar mit einem Sechsjährigen überhaupt anfreunden kann. In der Biographie von Ulrich Weinzierl steht, so beißend er gegenüber Männern sein konnte, so charmant war er gegenüber Frauen und Kindern. Weinzierl führt dann ganz viele Frauen als Beispiel auf, aber kein einziges Kind. Ich habe Weinzierl geschrieben, ich wäre ein Kind, das er hätte erwähnen können.
Du gibst ja gerne mit deinem Brief von Alfred Polgar an.
Ja. Ich besitze einen Brief von Alfred Polgar, und wie jeder, der einen Brief von Alfred Polgar besitzt, gebe ich entsprechend damit an. Bei Robert Gernhardt scheine ich es irgendwann mal übertrieben zu haben, weil er genervt sagte: »Ja, ja, du hast einen Brief von Alfred Polgar.« Und ich hab gesagt: »Ja allerdings, ich hab einen Brief von Alfred Polgar. Du hast keinen Brief von Alfred Polgar.« Robert machte den geballten Balten und sagte: »Meine hat alle der Russe.« Wir haben ihn mal in seiner albernen Toscana besucht, wo der PCI, der Partito Comunista Italiano, bei den Kommunalwahlen dreiundsiebzig Prozent abgestaubt hatte, und Robert sagte: »Da ist man nun dreimal vorm Russen abgehauen und dann das.«
Als Schauspielerin ist deine Mutter doch sicher viel herumgekommen. Mußtest du immer im Schlepptau mit?
Ich war insgesamt auf sechzehn oder achtzehn verschiedenen Schulen, weil meine Mutter von Engagement zu Engagement eilte. Und als meine Eltern geheiratet hatten, war mein Vater auf der Flucht vor dem Rowohlt Verlag. Er mußte angeblich im Allgäu wohnen, wegen der Höhenluft. Alles Quatsch. Er hat sich im neuen Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg nicht zurechtgefunden. Aber er hat da ohnehin nichts getan, weil der Laden inzwischen von meinem Brüderchen, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, geschmissen wurde, der das sehr viel besser konnte.
Wie hast du dich denn mit deinem Brüderchen verstanden?
Ich war völlig durch den Wind, als er gestorben ist. Seine letzten Worte waren: »Na, jetzt langt es aber auch allmählich.« Während der Buchmesse im Café Laumer, was zur Buchmessenzeit Café Rowohlt heißt und wo man Gutscheine trinken kann, hab ich zu meinem Brüderchen gesagt: »Ich gehe jetzt ins Café Rowohlt und gebe mich als junger Herr Laumer zu erkennen.« Wir sind zusammen vom »Hessischen Hof« zu Fuß hingegangen. Damals war mir noch nicht klar, daß es ihm sehr viel schlechter ging, als man ihm anmerkte. Das waren vielleicht hundertachtzig Meter, da hat er schon geklagt, und danach hat er den Weg vom »Hessischen Hof« ins Café Laumer immer »unsere gemeinsame Nachtübung« genannt. Da haben wir unabhängig voneinander »Matjes Hausfrauenart« bestellt und beide unabhängig voneinander gesagt: »Hausfrau bedeutet nicht Strapse, sondern Äpfel.« Daraufhin meinte er: »Man merkt eben doch, daß wir Brüder sind.«
Woran ist er gestorben?
Er war in Indien auf der Buchmesse, in Delhi, und Inge Feltrinelli hat ihn ziemlich herumgescheucht, was Vergnügungen betraf. Er ist mit der Eisenbahn gefahren, dem »rollenden Palast«, der durch übertriebenes air-conditioning furchtbar unterkühlt war. Dabei hat er sich eine Lungenentzündung geholt und ist in Agra im Angesicht des Tadsch Mahal gestorben. Er ist sofort verbrannt worden, allerdings ohne Witwe. Die Urne mit seiner Asche hat seine Witwe Jane nach Lavigny, aufs Schloß in der Schweiz gebracht und auf den Kaminsims gestellt. Sie wollte nach ihrem Tod, der sie auch ziemlich schnell ereilte, ebenfalls verbrannt werden, und anschließend sollte ihrer beider Asche vermischt und in ihrer Familiengruft in der Nähe von London beigesetzt werden. Das war die Gruft ihres Vaters, ein reicher Schotte, der in der Eliteeinheit »The Black Watch« gedient hatte. Die trugen schwarze Kilts und wurden deshalb »The Devil’s Ladies« genannt. Er nannte seinen Schwiegersohn immer Adolf, weil er Deutscher war. Sehr witzig. Das war eine ausgesprochen blöde Beerdigung. Die beiden waren in der Urne zwar richtig schön miteinander gemischt worden, aber niemand hielt eine Trauerrede. Wenn in der Aussegnungshalle wenigstens ein Harmonium gestanden hätte! Dann hätte man mit Anspielung auf die Urne und ihren Inhalt spielen können: »Oohoohoo, ooh, yeah, yeah, I’m all shook up!«
Hatte dein Bruder eigentlich Kinder?
Heinrich Maria hatte zwei Töchter: eine leibliche, die er enterbt hat, weil sie ihr Erbe zu seinen Lebzeiten ausbezahlt haben wollte, um sich in München eine Boutique einzurichten. Und eine unleibliche, die vom Briefträger oder vom Milchmann stammte. Ich habe sie anläßlich der Beisetzung von Heinrich Marias Witwe in London getroffen. Sie ist mit einem Schweizer Anwalt oder Börsenmakler oder irgend so was Nützlichem verheiratet, wohnt seit unvordenklichen Zeiten in Zürich und ist eine richtig wohlsituierte Schweizerin. Es gibt ja vier Schweizer Sprachen, also Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch, und sie meinte tatsächlich, Rätoromanisch hätte englische Wurzeln.
Du hattest doch auch eine Schwester, oder?
Meine Halbschwester Anna Elisabeth, genannt Baby, ist während der brasilianischen Emigration meines Vaters gezeugt und geboren worden, in einer Favela in São Paulo. Dort hat sie sich offenbar auch den Hautkrebs zugezogen, an dem sie dann gestorben ist, weil sie als Rotblonde immer mit den Caboclos – das sind Schwarzafrikaner und Indiomischlinge, die sehr viel gesünder pigmentiert waren als sie – im Schlamm gespielt hat. Kennengelernt hab ich sie, als ich sechs Jahre alt war, und hab mich prompt in sie verknallt. Sie war ein rundherum angenehmer Mensch, ich habe aber leider so gut wie nie von ihr Gebrauch gemacht. Wir haben uns immer sehr geliebt, auf die Entfernung. Sie ist dann irgendwann nach Deutschland gekommen, doch wir sind einander so gut wie nie über den Weg gelaufen.
Erzähl ein bißchen mehr von deinem Vater.
Ernst Rowohlt war einer der wenigen Menschen, der gar nichts konnte. Es war erstaunlich, wie unbegabt er in jedem Bereich war. Einfach toll. Das hat man ja manchmal, und dann kann man diese Leute nur als Genies bewundern. Irgendeiner seiner Autoren hat mal gesagt, er sei ein Genie der Freundschaft gewesen. Er war viermal verheiratet, hauptsächlich mit Schauspielerinnen. Er hatte den Ehrgeiz, sie aus ihrem Beruf zu entfernen, damit sie sich nur noch um ihn kümmerten. Wenn er das mit Straßenbahnschaffnerinnen gemacht hätte, wären die vielleicht sogar froh gewesen. Ich habe ihn erst in einer Zeit richtig erlebt, als er alt und miesepetrig geworden war. Er war eigentlich immer nur alt und krank und muffelig und hat, weil er sich nicht mehr in den Rowohlt Verlag hineingetraut hat, versucht, zu Hause den Laden zu terrorisieren. Mein Brüderchen hat es nie geschafft, sich gegen ihn aufzulehnen, während ich das bereits mit dreizehn oder vierzehn gemacht habe. Danach waren wir praktisch unzertrennlich. Ich mußte spätestens um zehn zu Hause sein. Ich habe immer erst meine Mutter gefragt, wann ich von der Fete zu Hause sein sollte, und dann habe ich meinen Vater gefragt: »Wenn’s gemischt wird, pünktlich.« Daran halte ich mich bis heute. Ich gehe immer weg, wenn’s gemischt wird. Ich habe ihm auf seinem Totenbett, von dem wir beide noch nicht ahnen konnten, daß es sein Totenbett sein würde, den gesamten Schwejk, den ersten und zweiten Band, mit verteilten Rollen vorgelesen. Bei der Stelle: »... den Kokoschka Ferdinand, der was den Hundsdreck sammelt«, ist er wegen der pastosen Technik des Kokoschka Oskar vor Lachen aus dem Bett gefallen und hat meine Mutter angeröhrt: »Kommando zurück, der Junge wird nicht Verleger, der Junge wird Schauspieler.« Das war eine schöne Zeit, die letzten anderthalb Jahre mit meinem Alten, als er plötzlich gemerkt hat, daß sein anderer Sohn ein Mensch ist, und ich plötzlich gemerkt habe, daß mein verachteter Vater auch ein Mensch ist. Da hätte er gerne noch ein bißchen länger rummurkeln können, aber das ist eben nicht gelungen. Wozu auch. Das war kein Leben für ihn, sich nicht in den Verlag zu trauen, und zu Hause Zoff. Seine letzten Worte waren, und das war ganz typisch für ihn, eine Mischung aus Bestellung und Beschwerde: »Eigentlich ist doch jetzt Bockbierzeit.« Also hat er noch ein Bockbier bekommen, und dann ist er abgekratzt.
Einfach so?
Er hatte früher schon mal einen Herzinfarkt. Unser Hausarzt in Hamburg, Professor Dr. Kurt Gröbe, der damalige Spitzenkandidat der Hamburger DFU, hat ihm einen Hund verschrieben, damit er jeden Tag zweimal spazieren gehen mußte.