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»Patrick Luyet, ja«, bestätigte Felber. »Er ist vor drei Jahren bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen, in Spanien.«
»Tatsächlich«, sagte sie, und es klang mehr wie eine Feststellung. »Mit Sandrine habe ich noch ab und zu Kontakt. Sie lebt in Singapur.«
Das hatte Felber mithilfe von Linus über das Internet bereits herausgefunden. Sandrine Vernet hatte im Zeitraum von Deborahs Verschwinden bis zu ihrem Tod in Singapur gelebt, wo sie eine Art Yoga-Zentrum führte. Auch sie fiel als Täterin weg.
»Und Joël wollte nach Kanada auswandern, glaube ich.«
Felber nickte. Aber in Kanada verlor sich Joël Dalimiers Spur Ende der 90er-Jahre. Die Pflegeeltern, die Felber übernächste Woche traf, würden auch nicht viel mehr sagen können.
»Die Ordensleute glaubten, in Québec sei eine Art Schutzzone«, erklärte Carole, »ein Ort, der von der Apokalypse verschont würde. Von der Endzeit, die dann doch nicht gekommen ist … oder anders, als man sie sich vorgestellt hatte.«
Tatsächlich anders, dachte Felber bitter, in Form von Gewalt, Mord und unsäglichem Leid.
Carole knetete einen Augenblick ihre Finger, dann schaute sie auf. »Ich glaube nicht, dass eines der Kinder Ihnen das angetan hat. Und von den Erwachsenen sind die meisten mittlerweile tot, entweder in Cheiry und Granges oder im darauffolgenden Jahr bei Grenoble gestorben. Meine Mutter …« Sie stockte. »Meine Mutter hatte damals erbittert für das Sorgerecht gekämpft.«
Felber hatte in den Akten gelesen, dass Délphine Michelet noch in den 90er-Jahren Jakob Brunegg, einen schwerreichen Zürcher Industriellen, geheiratet hatte. Zusammen hatten sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Entscheid der Vormundschaftsbehörde rückgängig zu machen. Felbers Vater hatte sich allerdings erfolgreich dagegengestellt, weil Michelet im engsten Kreis der Sekte verkehrt und er die Gefahr einer weiteren Gewalttat als zu hoch eingeschätzt hatte.
»Ich war damals 13. Drei Jahre darauf, mit 16, hatte ich von Gesetzes wegen wieder die Möglichkeit, den Kontakt zu meiner Mutter zu suchen.«
»Und das haben Sie?«
Sie nickte. »Wir haben noch immer ein gutes Verhältnis. Damals, nach der Sorgerechtssache, hätte meine Mutter sicher Grund gehabt, Ihren Vater zu hassen. Aber so viele Jahre später …«
Felber war klar, dass das keinen Sinn ergab.
»Was würden Sie tun«, fragte Carole, »wenn Sie ihn finden?«
Felber zog die Brauen hoch. Er biss sich auf die Lippen, schüttelte leise den Kopf, schaute weg. Er wusste es schlicht nicht.
Carole Michelet versprach, ihre Mutter nach dem verschollenen Joël Dalimier zu fragen. Sie tauschten ihre Telefonnummern, dann verabschiedeten sie sich.
Felber ging zu Fuß durch die mittlerweile leere Eingangshalle, anschließend unter den Säulen der Hardbrücke durch und fuhr mit dem Lift hoch zur Bushaltestelle. – Ja, was würde er tun, wenn er Deborahs Mörder finden würde? Er war für ihn weit mehr als bloß ein Täter, den man der Gerichtsbarkeit zuführen musste. Er war zu seinem persönlichen Feindbild geworden, einem Gegenüber, das übermenschliche Dimensionen angenommen hatte und ihn bis in seine Angstträume hinein verfolgte. Was er wollte, war die Gewissheit, dass Meret und Linus außer Gefahr waren, außerdem wollte er wieder ruhig schlafen können, ohne diese ständige Angst. Oder war es doch mehr? Wollte er auch Rache?
Felber erinnerte sich an ein Gespräch mit Linus über ein philosophisches Gedankenexperiment zur Frage, ob man einen Menschen töten dürfe, um andere zu retten. Es ging dabei um eine Straßenbahn, deren Bremsen versagten und die man durch Umstellen einer Weiche auf ein anderes Gleis leiten konnte, wo statt fünf Arbeitern nur einer stand. Durfte man einen Menschen töten, um damit die Sicherheit von anderen zu gewährleisten? Machte es einen Unterschied, ob dieser Mensch ein Mörder war und die anderen die eigene Familie?
Der Konzertabend und die Begegnung mit der Cellistin hatten ihn aufgewühlt. Während er auf das weite Gleisfeld und die unzähligen Lichter der Stadt blickte, fiel er vollends in eine seltsame Mischung aus Melancholie und innerer Unruhe, die ihn einmal mehr nicht schlafen lassen würde. Er zog sich eine Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an und blies den Rauch in den samtenen Nachthimmel. Der Verkehr rauschte über die Hardbrücke, weit hinten kam ein 31er-Bus.
Kapitel 3
»Jetzt halt doch mal still!« Sara zog am Ärmel des dunklen Vestons, den Felber über das T-Shirt angezogen hatte, und markierte mit Stecknadeln die Armlänge.
»Warum müssen solche Anlässe eigentlich so steif sein?«, seufzte er.
Sie lachte und machte sich am anderen Ärmel zu schaffen. »Für deinen Sohn kann es nicht elegant genug sein.«
Auch wenn Linus für gewöhnlich mit abgewetzten Jeans und bedruckten, nicht immer ganz frischen T-Shirts daherkam, das Haar wild durcheinander, legte er für die Hochzeit seiner Schwester Wert auf piekfeine Garderobe. Schon früher hatte er manchmal die Familie erstaunt, wenn er bei einem Familienfest, das man in lockerem Rahmen abzuhalten vereinbart hatte, partout mit Hemd und Krawatte erscheinen wollte – einer Kinderkrawatte mit Gummibändchen, wie sich Felber schmunzelnd erinnerte.
»Deine Tochter heiratet ja nur einmal«, nuschelte Sara, eine Stecknadel zwischen den Lippen. »Wäre blöd, wenn du als Einziger wie eine Vogelscheuche daherkommst.«
Felber zuckte mit den Schultern. »So komme ich mir vor wie ein Pinguin, das ist auch nicht besser.«
Meret heiratete ganz traditionell, was Felber nicht erstaunte. In solchen Sachen kam sie definitiv nach Deborah, nicht nach ihm. Der ursprüngliche Hochzeitstermin war Ende März gewesen, doch dann hatte man Deborahs Leiche gefunden und das Fest verschoben. Nun schien es, als wollten Meret und Jan den Aufschub durch doppelten Pomp wettmachen: zivile Trauung im Stadthaus an der Limmat, Apéro im Kirchgemeindehaus über dem Bahnhof Enge, Nachtessen im Belvoirpark-Restaurant etwas weiter stadtauswärts über dem See. Das Etablissement wurde von der Hotelfachschule geführt und hatte einen erstklassigen Ruf. Dabei waren die Preise vernünftig, was Felber sehr recht war, hatte er sich als Brautvater doch anerboten, für das Festessen aufzukommen. Der Lohn eines Kantonsbeamten in seiner Position war zwar anständig, aber Linus’ Ausbildung hatte lange Jahre an den Ersparnissen gezehrt, zudem war die Mietwohnung am Hadlaubsteig schweineteuer – wie mittlerweile überall in der Stadt.
Immerhin konnte er für seinen zukünftigen Schwiegersohn, der mit irgendwelchen Start-ups wahrscheinlich ein Vielfaches von Felber verdiente, mit einem besonderen Geschenk aufwarten, ohne noch einmal in die Tasche greifen zu müssen: Ihm schenkte er den Chrysler, Baujahr 1976, der Felbers Vater zu Lebzeiten gefahren hatte und der seither unbenutzt in der Tiefgarage der Liegenschaft am Hadlaubsteig stand. Mit Felbers Segen hatte sich Jan letztes Jahr darangemacht, den Oldtimer aufzumöbeln. Rechtzeitig zur Hochzeit hätte er ihn so weit, dass er den Wagen aus der Garage herausfahren könnte. Wenn Felber das restliche Gerümpel weggeräumt hatte, würde er den Parkplatz endlich aufgeben können.
Er sah schon vor sich, wie ihn Meret und Jan an schönen Frühlingstagen mit zwei, drei Kindern aus dem Altersheim abholten, für ein Ausfährtli mit dem Oldtimer, und sie gemeinsam zu Onkel Linus fuhren, der irgendwo im Appenzellerland einen Bauernhof betrieb, einen digitalisierten Hightech-Bauernhof vermutlich.
»Pascal, bitte!« Sara blickte zu Linus, der eben ins Wohnzimmer trat. »Dein Vater macht mich noch verrückt.«
Felber drehte den Kopf, so gut das in dieser Position eben ging.
»Hast du dir jetzt überlegt, ob du auch eine Produktion machst?«, fragte Linus, während er kritisch Felbers Aufmachung musterte.
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich vorne hinstelle und einen Sketch vortrage oder Kindergeburtstagsspiele anleite!«
»Es wäre noch Platz für zwei, drei Vorführungen«, warf Linus ein.
Felber verdrehte die Augen.
»Jans Vater hat eine Drehorgel für den Einzug in den Belvoirpark organisiert.«
»Toll, dann deckt er ja den Bereich Unterhaltung vollständig ab. Meret erwartet wohl nicht von mir …«
Linus winkte ab. »Nein, sie nicht, aber ich in meiner Funktion …«
»Lass dir ja nicht einfallen, mich überraschend nach vorne zu holen!«, drohte Felber, doch Linus war schon auf dem Weg in sein Zimmer.
Vom Flur aus rief er: »Übrigens, morgen ist Schifferstechen. Geht ihr auch hin?«
»Was für ein Stechen?«, fragte Felber, überrascht von Linus’ plötzlichem Themenwechsel.
»Das Schifferstechen«, übersetzte Sara.
Felber zog entschuldigend die Augenbrauen hoch.
Linus, der bis zur Tür zurückgekehrt war, schüttelte entgeistert den Kopf. »Man könnte meinen, du seist erst vor Kurzem nach Zürich gezogen. Aber vom Sechseläuten hast du schon mal gehört?«
»Sagt mir etwas.«
»Das Schifferstechen ist der zweitwichtigste Anlass der Zürcher Zünfte nach dem Sechseläuten!«, erklärte Sara.
»Eine Art Ritterturnier«, ergänzte Linus. »Mit Weidlingen auf dem Wasser.«
»Klingt faszinierend«, murrte Felber.
»Bei dem Wetter wird es Unmengen von Zuschauern haben«, gab Sara zu bedenken.
»Ein guter Grund, nicht hinzugehen«, schloss Felber das Thema ab.
Sara blinzelte Linus zu und hob entschuldigend die Schultern.
Der verschwand in seinem Zimmer.
»Du meinst doch nicht etwa, dass Linus tatsächlich vorhat…«, begann Felber.
Sara schüttelte den Kopf. »Dafür nimmt er sein Amt viel zu ernst.«
Meret hatte Linus nämlich gebeten, an ihrer Hochzeit den »Tätschmeister« zu spielen, wie man hierzulande den Zeremonienmeister nennt. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, war er unglaublich stolz darauf. Felber war überzeugt, dass er mit Hingabe und vollem Einsatz an die Aufgabe herangehen würde. So schwierig und unnahbar er als Kind gewesen war, so seltsam und unfreundlich er auch jetzt noch oft wirkte, legte er doch immer wieder eine Fähigkeit an den Tag, besondere Momente besonders zu gestalten. Einmal hatten Deborah und Felber bemerkt, dass sie ihren Hochzeitstag vergessen hatten. Sie waren losgegangen, um im Denner einen Prosecco zu kaufen. Als sie zurückkamen, war die Wohnung abgedunkelt, Kerzen brannten auf dem Tisch, auf ausgebreiteten Servietten lagen Teller mit Gebäck, aus der Stereoanlage drang Vogelgezwitscher und Meditationsmusik.
Felber waren Anlässe mit vielen Leuten in Anzügen und Krawatten ein Graus. Natürlich freute er sich für seine Tochter, mit der Mischung aus Stolz und Schmerz, die wohl alle Väter angesichts der Hochzeit ihrer Kinder empfinden. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er zurzeit keinen Sinn für solche Dinge hatte. Zu sehr beschäftigte ihn die Frage nach Deborahs Mörder, die ewige Sorge, auch Meret und Linus könnten auf der Todesliste des Wahnsinnigen stehen. Er fragte sich, ob sich das je ändern würde, ob er je die Fragen beantworten, die Sache abschließen könnte.
Im Moment zumindest konnte er es nicht. So saß er wieder einmal abends in seinem kleinen Arbeitszimmer neben der Essnische. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Landkarte von Kanada ausgebreitet. Er hatte für August eine Bahnreise mit dem »Ocean« geplant, nur für sich und Linus, von Halifax nach Montréal, von da weiter nach New York. Dort würden sie Sara treffen, die ihrerseits einige Wochen bei ihrer Tochter Noélia in New Jersey verbringen wollte. Die Reise war ein kleines Zugeständnis an Linus, weil Felber für Meret und ihre Hochzeit so viel Geld aufwendete, während Linus keine Anstalten machte, sich fürs Leben zu binden.
Die Karte hatte er aber in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeschlagen: Ein pensionierter Beamter der »Sûreté du Québec« hatte sich auf seine Anfrage hin per Mail gemeldet. Alex Fortin schrieb, er habe damals, 1997, die Ermittlungen bei den Sonnentempler-Morden von Morin-Heights und Saint-Casimir geleitet und wolle Felber gern bei seinen Untersuchungen weiterhelfen. Er bat ihn, ihm präzise Fragen zukommen zu lassen, und bot ihm an, sich in einigen Tagen über Skype zu besprechen.
Während Sara bei leiser orientalischer Musik im Wohnzimmer an seinem Anzug nähte und Linus pfeifend zwischen der Küche und seinem Zimmer hin- und herging, formulierte Felber seine Fragen. Die erste war diejenige nach dem Verbleib von Joël Dalimier.
»Was machst du denn mit diesem altertümlichen Ding?« Linus war vor der Bürotür stehen geblieben. Nun trat er zum Tisch und musterte die Karte. »Unsere Strecke?«
Felber nickte.
Linus folgte der Bahnlinie mit dem Finger und nahm dann die Reiseunterlagen in die Hand, die daneben lagen. Plötzlich stockte er. »Du hast Sleeper Touring Class gebucht?«, fragte er fassungslos.
Felber nickte lachend. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, für die zweitägige Fahrt die teurere Kabine mit Zugang zum Panoramawagen zu reservieren.
»Das ist … Das ist … wow!«
Als Felber Linus kurz darauf am Kühlschrank hantieren und vor sich hin pfeifen hörte, nahm er seine Kartenstudien wieder auf. Nicht allzu weit von der Bahnstrecke entfernt lagen zwei kleine Ortschaften: Morin-Heights und Saint-Casimir, wo sich in den 90er-Jahren zwei Morde im Umfeld der Sonnentempler-Sekte ereignet hatten. Sollte sich wirklich eine Spur des verschollenen Joël Dalimier finden, dann hier. Von Montréal aus, rechnete Felber, waren es rund 100 Kilometer, in unterschiedliche Richtungen. Zwar hatten Linus und er dort einen Tag Aufenthalt geplant. Aber wie würde Linus darauf reagieren, wenn er ihn auf der gemeinsamen Reise allein ließ, um seinen eigenen Ermittlungen nachzugehen?
Kapitel 4
Von kräftigen Ruderschlägen vorangetrieben zogen zwei Weidlinge in gerader Bahn aufeinander zu. Die beiden Stecher hatten sich bereits auf das Podest im Heck gestellt, hoben nun mithilfe der vorne Sitzenden die Lanzen in Richtung des entgegenkommenden Bootes. Die Münster-, die Rathausbrücke und das Limmatufer waren voller Zuschauer, auf der Wühre, dem schmalen Fußweg auf der linken Flussseite, war kein Durchkommen mehr. Auch auf den Trottoirs des Limmatquais stand man dicht gedrängt, und von den regelmäßig durchfahrenden Trams sah man hinter Wurstbuden und Festzelten nur die Stromabnehmer hin- und herfahren.
Nur noch wenige Meter trennten die beiden Boote. Schon schien der Zusammenprall unvermeidlich, da erfolgten zwei kräftige Stöße mit den stumpfen Lanzen. Mit wenigen Zentimetern Abstand schossen die Boote aneinander vorbei. Die Stecher rangen einen Moment lang um ihr Gleichgewicht, dann stürzte einer von ihnen, es war der Vertreter der Stadtzunft, in voller Kleidung in die Limmat. Applaus und Hurra-Rufe aus den Zuschauerrängen, ein Punkt für die Zunft zum Kämbel. Die Boote wurden gewendet, der Besiegte schwamm zur Anlegestelle, wo man ihm aus dem Wasser half.
Der »Storchen«, Hotel, Restaurant und Tagungsort im Herzen der Zürcher Altstadt, war das Stammlokal der Zunft zur Schiffleuten, die zusammen mit dem Limmat-Club alle drei Jahre das Schifferstechen organisierte. In diesem Jahr hatte man sich wegen der steigenden Besucherzahl des gleichzeitig stattfindenden Züri-Fäschts dazu entschlossen, den traditionsreichen Anlass bereits einen Monat früher stattfinden zu lassen.
Gastgeber und geladene Gäste anderer Zünfte hatten sich unter den Arkaden des blumengeschmückten Gebäudes am Limmatufer versammelt, mit Blick auf das Turniergeviert und das Grossmünster mit seinen eigentümlichen Doppeltürmen, auf denen aus Anlass des Tages die weiß-blauen Kantonsfahnen wehten. Die meisten Anwesenden trugen Trachten, die an die Goethe-Zeit erinnerten, die Schiffleuten-Zünfter breitkrempige schwarze Hüte und blaue Gehröcke, andere Dreispitz oder Zylinderhut. Alles in allem eine bunte Blütenlese der »besseren« Zürcher Gesellschaft, wie schon seit der Gründung der Zünfte im späten Mittelalter.
Délphine Michelet stand zwischen Vater und Sohn Brunegg, mit einem schwarzen Sommerkleid und dunkler Sonnenbrille. Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen und wurde von niemandem angesprochen. Ihre Gedanken kreisten um den Anruf ihrer Tochter Carole am Vorabend. Der Wettkampf der jungen Zünfter ging völlig an ihr vorbei. Sie schaute höchstens kurz von ihrem Weißwein auf, wenn das Johlen der Menge anzeigte, dass wieder jemand seinen Kontrahenten ins Wasser befördert hatte und seine Zunft in die nächste Runde brachte. Mit halbem Ohr hörte sie, wie Jakob Brunegg mit Altregierungsrat Meienberg Small Talk hielt, über Wetter, Zunftanlässe und Familie, worüber man halt so sprach an einem solchen Tag.
Seine Nichte, erzählte der Weißhaarige, sei bei der Polizei, Kriminalpolizei, Leiterin einer Dienststelle.
Jakob zog bewundernd die Brauen hoch, mit diesem etwas spitzbübischen Ausdruck, der offenließ, was er wirklich dachte.
Jakob Bruneggs Sohn Thomas erklärte derweil einer hübschen jungen Frau in einem luftigen Sommerröckchen und einer großen Blume im Haar, dass man das Schifferstechen im Mittelalter mit Harnisch, Schild und Helm ausgeführt habe. Dabei seien immer wieder Wettkämpfer von ihrer Rüstung nach unten gezogen worden und ertrunken. Das sei bestimmt um einiges spannender gewesen als das hier.
Délphine rieb sich die Arme, sie hatte eine Gänsehaut bekommen. Sie zwang sich, ihren Stiefsohn zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. Die brutalen Züge um die Mundwinkel, die Kälte in seinen Augen … Sahen das die anderen denn nicht? Nun, man musste eben genau hinsehen. Nicht wie diese dummen Mädchen mit ihren Sommerröckchen und Sandalettchen.
So wie Délphine Michelet nie heimisch geworden war unter den Zunftleuten, hatten auch diese sie nie als ihresgleichen akzeptiert, auch nicht 25 Jahre nachdem der alte Brunegg ihretwegen seine Frau verlassen hatte, Erbin einer steinreichen Bankiers-Familie. Délphine war fast 20 Jahre jünger als Jakob, stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte in ihren jungen Jahren als Stripperin gearbeitet und beschäftigte sich nun seit Längerem mit Persönlichkeitsentwicklung und Bewusstseinserweiterung, mit »Okkultismus und Sektendingen«, wie die anderen sagten. Aber sie hatte in all den Jahren auch nie die Akzeptanz dieser Gesellschaft gesucht. Wenn sie ehrlich war, empfand sie bloß Verachtung gegenüber diesen Leuten, die krampfhaft versuchten, ihren gesellschaftlichen Status zu betonen. CEOs, Anwälte, Politiker, in ihrem Gefolge Frauen mit Sandaletten und Sommerröckchen, die in dieser Männerdomäne nur Dekorationswert hatten, an bestimmten Zunftanlässen nicht einmal im gleichen Saal wie ihre Männer essen durften! Wenn man die jungen Männer betrachtete, die sich um Leute wie Jakob scharten, um Kontakte zu knüpfen, für Praktikumsstellen in international tätigen Anwaltskanzleien oder Handelskammern, dann war das jedoch auch eine Form der Prostitution.
Nein, sie hatte nur Verachtung für diese Gesellschaft und ihre spießbürgerlichen Traditionen und Anlässe übrig. Immerhin würden diese aufhören, wenn Jakob nicht mehr war. Denn auch wenn er mit seinen 80 Jahren noch stattlich daherkam, »etwas darstellte«, wie man sagte, in Tracht und Zylinder, so fraß doch der Krebs in ihm. Natürlich redete man in einer Familie wie der Brunegg’schen nicht darüber. Man stockte nur stillschweigend das Pflegepersonal auf und ließ von Zeit zu Zeit neues medizinisches Inventar liefern.
Aber die Zeichen standen auf Veränderung. Es war ein Mondjahr. Im März hatte man im Thurgau Hunderte toter Vögel gefunden. Wie Steine seien sie vom Himmel gefallen. Die zuständigen Behörden hatten keine Erklärung für das Phänomen. Dabei war es klar: Es waren Zeichen. Zeichen für Veränderung. Veränderungen waren unumgänglich, doch diese machte Délphine Angst. Nicht so sehr der Verlust von Jakob, vielmehr dass sie mit Thomas allein zurückbleiben würde. Ein Widder im Sternzeichen, Venus und Mond superdominant – eine hochproblematische Ausgangslage. Zwar machte die astrologische Konstellation einen Menschen nicht automatisch zum Psychopathen, aber in diesem Fall war es eben so.
Und nun auch noch dieser Anruf von Carole. Der Name Felber. Der Sohn des alten Felber forsche den damaligen Sorgerechtsfällen nach. Es war, als tauche der Geist des alten Beamten aus der Vergangenheit auf. Die schrecklichen Bilder vom vergangenen Winter kamen in ihr hoch, vom Herbst vor vier Jahren, Gedanken an die Fehler von damals vor über 20 Jahren. Das alles wirbelte auf, legte sich schwer um sie, während die Zünfter blind ihre immer gleichen sinnentleerten Veranstaltungen abhielten, Schifferstechen und Sechseläuten, Martinimahl und Bott, geordnet, verhalten, konventionell.
2004 war sie zusammen mit Jakob knapp dem Tsunami in Thailand entronnen. Sie erinnerte sich, dass nicht einfach eine Flutwelle gekommen war, sondern dass sich zuerst das Meer vollständig zurückgezogen hatte, völlige Ebbe, Schiffe lagen umgekippt auf dem Sand. Und dann, erst dann war die Welle gekommen und mit ihr Tod und Verwüstung.
Die Glocken von St. Peter schlugen 15 Uhr, es ging in die Finalrunde.
Kapitel 5
Neben einer Apotheke führte eine Glastür ins kühle Treppenhaus. Die Sektenberatung befand sich im dritten Stock, die anderen Stockwerke beherbergten Zahnärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und anderen Dienstleister für Körper und Seele. Felber war froh, dass er im Wartezimmer allein war. Er blätterte in einigen Broschüren, legte sie aber bald wieder zur Seite, ging im nüchternen Zimmer herum und blickte durch das doppelverglaste Fenster. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über das Universitätsviertel bis hinunter zum See.
Der kleine Mann mit dem schütteren Haar, der ihn nach einigen Minuten abholte, stellte sich als Herr Lüönd vor und führte Felber durch einen langen Gang in ein Besprechungszimmer auf der anderen Hausseite. An den Wänden hingen moderne Malereien, die aussahen wie das Gekleckse, das Meret und Linus ein paar Jahre lang aus Spielgruppe und Kindergarten nach Hause gebracht hatten. Lüönd wies Felber einen Platz auf einem schwarzen Ledersessel zu und setzte sich hinter einen Schreibtisch mit Glasplatte.
»Sie haben wegen den Sonnentemplern geschrieben«, resümierte er nach einem Blick auf seinen kleinen Laptop.
Felber nickte.
»Mir ist nicht ganz klar geworden, aus welcher Motivation heraus Sie Informationen suchen. Sie sind mit der Gruppierung wohl kaum in Berührung gekommen?«
Felber schüttelte den Kopf. »Schauen Sie: Mein Vater hat lange Zeit für die Vormundschaftsbehörde des Kantons Freiburg gearbeitet. Als sich die Dramen von Cheiry und Granges-sur-Salvan ereigneten, war ich etwas über 20. Wir lebten bereits in Zürich, aber mein Vater hat sich noch mit den Sorgerechtsfällen befasst, bei denen es darum ging, ob man Sektenmitgliedern die Kinder wegnehmen und zu ihrem eigenen Schutz in Pflegefamilien unterbringen durfte.«
Der Sektenexperte nickte langsam. »Verstehe ich also richtig, dass Sie hier sind, um Ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten?«
Felber nickte langsam.
»Wissen Sie, eigentlich beraten wir Menschen, die unsicher sind, weil sie mit Gruppierungen in Berührung gekommen sind, von denen sie nicht wissen, ob es Sekten sind; Eltern, deren Kinder sich von ihnen abwenden oder sich radikalisieren, Leute, die in Abhängigkeit geraten sind und Hilfe für den Ausstieg suchen.«
Felber reagierte nicht. Aus unzähligen Einvernahmen wusste er genau, welche Redestrategien zum Ziel führten. In vielen Fällen war es das Beste, nichts zu sagen.
»Also Familiengeschichte«, schloss Lüönd etwas irritiert ab.
»Gibt es heute noch Ableger des OTS hier in Zürich?«, fragte Felber.
»Der Orden des Sonnentempels war in der Romandie aktiv, daneben gab es Gruppen in Frankreich und in Kanada, aber in Zürich …«
»Die Führungsriege«, fuhr Felber fort, »hat sich immer wieder auf sogenannte Meister in Zürich berufen, die auf die Entscheide Einfluss genommen haben sollen. Wer war das?«
Lüönd lehnte sich vor und lächelte verschwörerisch. »Diese Meister in Zürich«, erklärte er, »waren wohl Di Mambros Finanzbeziehungen.«
Felber runzelte die Stirn.
»Man weiß heute, dass die Sektenführung, also Jo Di Mambro und Luc Jouret, das Ganze auf zwei Ebenen betrieben haben: Zum einen verfolgten sie eindeutige finanzielle Interessen, und da spielten diese Beziehungen in Zürich bestimmt eine wesentliche Rolle. Auf der zweiten, der spirituellen Ebene konnten sie diese sogenannten Meister aber auch gut brauchen, um die Leute in Schach zu halten.«