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Felber verstand noch immer nicht ganz. »Waren das Banken?«
Der Experte zuckte mit den Schultern. »Das hat man nie herausgefunden«, sagte er geheimnisvoll. »Di Mambro ist vor dem Transit mehrmals nach Zürich gefahren. Offenbar ging es um Geld. Wer dahinterstand, weiß man nicht.«
»Und heute? Gibt es heute noch Ableger?«
»Mir sind keine Aktivitäten des OTS bekannt. Wir haben ein Wirrwarr von neuen Gruppierungen, der islamistische Extremismus ist ein großes Thema. Es ist schwierig, die Übersicht zu behalten.«
Felber nickte verständnisvoll.
»Die Sonnentempler wurden eine Zeitlang noch observiert, aber irgendwann hat sich die Gruppe aufgelöst. Ihr Gedankengut ist übrigens ein Amalgam verschiedenster esoterischer Richtungen, wie man sie auch bei anderen Gruppierungen findet. Nicht nur bei esoterischen Geheimbünden, auch bei Anthroposophen …«
»Vor einem Jahr«, unterbrach ihn Felber, »hatte ich mit einem Fall von Cybermobbing zu tun. Ein Mädchen sagte aus, sie gehöre zu einer Gemeinde von Rosenkreuzern oder Sonnentemplern – ich erinnere mich nicht an die genaue Bezeichnung.«
»Einen Fall?«, fragte der Experte kritisch.
»Kriminalpolizei. Wir hatten damals …«
»Moment mal, sind Sie jetzt als Polizeibeamter hier oder als Privatperson?«
»Ich bin im Moment nicht im Dienst und wegen der … Familiengeschichte hier«, erklärte Felber.
»So, so«, murmelte Lüönd und schien zu überlegen, ob er Felber seine Hilfe weiter angedeihen lassen sollte oder nicht. »Warten Sie«, sagte er schließlich und hämmerte eine Zeitlang auf seinem Laptop herum. »Es gibt eine Gruppe, die sich als Rosentempler bezeichnet – wie originell! Wie ich der Übersicht entnehme, sollen auch Leute darunter sein, die aus dem Umfeld des OTS stammen, Überlebende, die sich wieder zusammengefunden haben. Interessant, war mir nicht bekannt.«
Felber war hellhörig geworden. »Das verstehe ich nicht: Da sind über 50 Menschen brutal getötet worden, und diese Leute können einfach weitermachen, als ob das eine kleine Panne gewesen wäre?«
Der Experte musterte ihn. »Das ist ein Phänomen, das man nach solchen Ereignissen häufig beobachtet. Zuerst sind die Überlebenden schockiert, die Medien decken schreckliche Dinge auf, man redet von Verbrechen, von Wahnsinn. Aber nach und nach finden sie sich wieder zusammen, beginnen die Sachen umzudeuten, geben Einzelnen die Schuld, um an den Glaubensinhalten festhalten zu können. Wer jahre- oder jahrzehntelang in einer solchen Struktur gelebt hat, kann das nicht von einem Tag auf den anderen ablegen.«
Das leuchtete Felber ein.
»Das Gedankengut des Ordens«, fuhr der Schüttere fort, »ist in seinem Kern ungefährlich. Gefährlich ist, was Einzelne daraus gemacht haben: Sie haben die Leute in Abhängigkeit gebracht, sie genötigt, alle anderen Beziehungen abzubrechen, und das bedeutete gegenseitige Kontrolle, totale Überwachung, Fronarbeit und finanzielle Ausbeutung. Dann, gegen Ende, kamen die Polizeiermittlungen dazu, Paranoia, Endzeitstimmung …«
»Die Gruppe steht also nicht mehr unter Beobachtung?«, hakte Felber nach.
Der andere schüttelte den Kopf. »Seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr. Dazu kommt, dass dieser Ableger, wie ich hier lese, keine neuen Mitglieder rekrutiert. Es scheint eine kleine, fast private Gemeinschaft geworden zu sein.«
»Gibt es Teilnehmerlisten?«
»Nein, natürlich nicht.«
Felber kratzte sich am Nacken. »Wenn ich diese Leute kontaktieren wollte, an wen müsste ich mich da wenden?«
Lüönd blickte ihn mit einem Ausdruck von spöttischem Unglauben an. »Mein Guter, wir sind eine Sektenberatung, keine Sektenvermittlung!«
Es gab sie also doch, sagte sich Felber, als er mit dem 6er-Tram zurück ins Zentrum fuhr, inmitten von lärmenden Schulklassen, die wahrscheinlich den Zoo besucht hatten. Lukas Baumgartner würde ihm weiterhelfen müssen. Er würde seinen Kollegen und momentanen Stellvertreter um die Informationen bitten, wenn er morgen das Gespräch mit der Dienstchefin hatte.
Es war so heiß, dass die Studentinnen von Uni und ETH kaum mehr als Hotpants, Trägershirts und Wasserflaschen trugen. Ums Unispital heulten ununterbrochen die Sirenen von Krankenwagen, die Hitzeversehrte aus den umliegenden Alters- und Pflegeheimen einlieferten. Die News-Anzeige im Wageninneren gab bekannt, dass wieder ein neuer Hitzerekord verzeichnet worden war: 34,2 Grad. Es folgte die Ankündigung eines massiven Stellenabbaus bei einer Großbank, danach die Meldung, ein lokaler Jungpolitiker sei in der Zürcher Allmend tot aufgefunden worden. Felber war froh, dass ihn solche Dinge im Moment nichts anzugehen brauchten.
In einer plötzlichen Eingebung rief er Sara an. Sie war im Kunsthaus, ganz in der Nähe also, hatte eine Klasse durch eine Ausstellung geführt und eben verabschiedet. Sara arbeitete als Lehrerin für Kunstgeschichte an einem Zürcher Gymnasium. Sie schlug vor, vor dem Kunsthaus auf ihn zu warten.
Dieses war vor einigen Jahren renoviert worden. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo früher ein altehrwürdiges Schulhaus gestanden hatte, hatte man ein weiteres Gebäude, einen architektonisch hochmodernen Würfel gebaut, der noch mit Baufolie verdeckt war. Von Weitem schon sah Felber Sara, die sich im museumseigenen Café einen Platz unter einem Sonnenschirm gesichert hatte, neben einer schwarzen Plastik, die mit viel Fantasie eine Meerjungfrau darstellte.
Sie hatte mit einer fünften Gymi-Klasse eine Ausstellung von Picasso, Gorky, Kandinsky und weiteren Künstlern besucht und war vor allem hingerissen von der Arbeit einer französischen Malerin, die Farbe, Unmengen von Farbe, auf große Leinwände spritzte. Sie zeigte ihm eines der Bilder im Katalog. Spritzer, Schlirggen. »Diese Dynamik … diese Kraft!«
Das Bild weckte bei Felber vor allem einen unbändigen Durst. Während Sara ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte, sah er sich nach einem Kellner um, als könne er ihn allein durch die Kraft seiner Blicke an den Tisch ziehen.
Als Sara es bemerkte, hielt sie inne und legte das Buch sorgfältig in ihren Rucksack zurück. »Und du?«, fragte sie.
»Sektenberatung.«
»Wegen … Wegen der Sache?«
Er nickte und hoffte, sie würde nicht weiterfragen. Sie redeten selten, eigentlich nie darüber, aber Felber entging es nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sorgen, dass er sich verrannte, dass ein richtiges Burn-out drohte, dass er paranoid wurde.
Er versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken.
Nach einer Weile legte Sara lächelnd ihre Hand auf seine. »Du bist nicht bei mir.«
Er zog entschuldigend die Brauen hoch und war froh, dass in diesem Moment der asiatische Kellner die zuvor georderten eisgekühlten Getränke brachte.
Felber erzählte Sara, um überhaupt etwas zu sagen, dass er morgen mit Petra Meienberg über seine Wiedereinstellung reden würde.
»Übernächste Woche, da steigst du wieder ein, oder?«
»Mhm.«
Kapitel 6
Übernächste Woche sollte er wieder anfangen, darauf beharrte auch Petra Meienberg, Dienstchefin und Felbers direkte Vorgesetzte. Sie war es zwar gewesen, die Felber mehrmals nahegelegt hatte, eine Auszeit zu nehmen, um die Sache mit seiner Frau zu verarbeiten (als ob man so etwas in ein paar Wochen verarbeiten könnte!), aber jetzt schien ihr doch sehr daran gelegen, ihn bald wieder im Team zu haben.
Er saß in ihrem Büro mit den gerahmten Stichen und Gemälden von Landschaften am Zürichsee, sie ihm gegenüber hinter ihrem dunklen Schreibtisch, mit der Goldbrille, dem ledergebundenen Notizbuch und den Markenkleidern. Im Lauf der Jahre hatte Felber die Mittfünfzigerin schätzen gelernt. Sie war es gewesen, die ihm vor einigen Monaten unter vier Augen mitteilte, dass die Aargauer Polizei eine Leiche entdeckt hatte – sehr wahrscheinlich diejenige seiner Frau. Und sie hatte, nach Abschluss des Vermisstenfalls von Wald, seinen Antrag auf eine Auszeit aus gesundheitlichen Gründen gutgeheißen.
Heute wirkte sie auf Felber ein wenig steif. Sie schien unsicher, wie sie die Dinge ansprechen sollte. Sie begann mit den laufenden Ermittlungen im Mordfall Deborah. Ein Team von Kollegen, unterstützt von Beamten der Kriminalpolizei Aargau, war seit März damit beschäftigt, die Erkenntnisse aus dem Leichenfund auszuwerten und neuen Spuren nachzugehen. Christoph Altherr, der am Anfang die Ermittlungen geführt hatte, als man noch nicht wusste, dass es sich um Mord handelte, war im Mai einem Krebsleiden erlegen.
Mit der neuen Ermittlungsgruppe um Peter Egloff, Sascha Hayo und Denise Glauser hatte Felber seine liebe Mühe. Sie arbeiteten seriös, nach Reglement, nach Polizeischule, gaben ihm aber wenig Einblick in die Untersuchung, da sie es für unprofessionell hielten, dass er als direkt Betroffener sich nicht raushielt.
Felber hingegen war überzeugt, dass er – gerade weil er direkt betroffen und weil er nicht an die gängigen Ermittlungsrichtlinien gebunden war – einen viel besseren Zugang hatte. Statt mit reglementarisch festgelegten Detailuntersuchungen, Laborberichten und staatsanwaltlich abgestimmten Ermittlungsschritten Zeit zu vergeuden, konnte er viel zielgerichteter vorgehen. Allein während seines Aufenthalts in Freiburg hatte er mit Sicherheit viel mehr interessantes Material zusammengetragen, als es die Kollegen in Jahren korrekter Polizeiarbeit tun würden. Das Problem war nur, dass er mit seinen Erkenntnissen nicht bei ihnen anklopfen konnte, weil sie ihn nicht ernst nahmen. Und wenn er ganz ehrlich war, wollte er das auch nicht. Bei der Sache mit den geheimnisvollen Todesanzeigen war er mehrmals angebrannt.
»Petra, du weißt selber, dass die Ermittlungen nicht vorankommen. Da ist nichts Neues, keine einzige Spur«, verbesserte er die viel zu positive Schilderung der Dienstchefin.
»Was würde denn deiner Meinung nach etwas bringen?«, versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken, aber Felber winkte nur müde ab.
»Ich bin mir schon bewusst, dass du es mir nicht sagen würdest, wenn du auf eigene Faust ermittelst.« Sie schaute ihm über den Rand ihrer Brille streng in die Augen.
Felber hob fragend die Augenbrauen und schwieg.
Nach einer Weile senkte sie seufzend den Blick. »Du kennst meine Vorgaben, ich möchte mich nicht wiederholen.«
Felber nickte ergeben. Das Gespräch hatte einen seltsamen Charakter angenommen. Nicht wie unter zwei Vertrauten, die offen miteinander redeten, es war eher ein vorsichtiges gegenseitiges Umkreisen.
»Die Auszeit hatten wir an therapeutische Maßnahmen geknüpft. Siehst du Hofmann regelmäßig? Habt ihr etwas Weiterführendes aufgegleist?«
»Nun ja, ich kann diese Woche mal zu ihm gehen.«
»Was hast du in den letzten zwei Wochen gemacht?«, fragte sie ungewohnt streng.
Felber zuckte mit den Schultern und gab keine Antwort. Vor dem Fenster kreuzten sich die Stromabnehmer zweier Trams, mehr war vom ersten Stock aus nicht zu erkennen.
Petra Meienberg musterte ihn lange und schüttelte dabei langsam den Kopf. »Pascal, ich bin in einer schwierigen Lage. Ich will, dass du bald zurückkommst. Solche … Probleme kommen vor, und dafür macht der Kanton ein Case Management. Aber ich bin auf deine Kooperation angewiesen. Das Personalamt, ja, wir alle wollen, dass du bald wieder einsatzfähig bist. Und zwar voll und ganz.«
»Ja, klar.«
»Wir wollen ausschließen, dass jemand nach einer Auszeit zurückkommt und auf der gleichen Schiene weiterfährt wie vorher, dass sich das Problem hinzieht, verschlimmert …« Sie starrte auf die Brille, die sie abgenommen hatte und in der Hand hielt. »Ich weiß, dass es nichts bringt, aber ich sage es dir doch: keine Privatermittlungen, Pascal! Du hast keinen Ermittlungsauftrag, und vor allem hast du während der Auszeit keinen Zugriff auf Ressourcen der Kriminalpolizei. Alles, was du an Ideen hast, kannst du den Kollegen weitergeben, die den Fall untersuchen. Dein persönlicher Kreuzzug darf keinen Einfluss auf deinen Job haben.«
Nach dem Gespräch ging Felber zu seiner Abteilung, wo man ihn freudig überrascht, aber auch etwas verlegen begrüßte. Felber war erstaunt, wie weit er sich in den wenigen Wochen von seiner Arbeit distanziert hatte. Er kam sich vor wie die Kollegen im Ruhestand, die ab und zu mal auf einen Schwatz vorbeischauten und mit alten Geschichten aufwarteten. Oder wie die pensionierten Kollegen seines Vaters, mit denen er in den letzten Wochen in Freiburg geredet hatte. Man hörte ihnen höflich zu, um sich nach dem Besuch wieder den ernsthaften Fällen, der professionellen Polizeiarbeit zu widmen.
In diesem Moment konnte sich Felber schwer vorstellen, zurückzukehren, ein Rädchen in diesem ewig gleichen Getriebe zu sein. Aber gut, dieses Gefühl hatte er schon länger, wahrscheinlich war es ihm durch die Auszeit nur bewusster geworden. Doch er war nun mal Kriminalpolizist und in etwas mehr als einer Woche wieder im Dienst. Er hoffte, bis dahin endlich die Sache mit Deborah gelöst zu haben oder wenigstens für sich ablegen zu können.
Lukas Baumgartner war noch unterwegs. Pamela Galtzidis, die charmante Sekretärin, machte Felber einen Kaffee, plauderte über dies und das, als wäre er nie weg gewesen. Der Hausmeister mit der getönten Brille, dieser Monn, kam kurz vorbei, zog sich aber bei Felbers Anblick sofort wieder zurück.
Baumgartner tauchte nach einer Viertelstunde auf. »He, Chef, schön, dich zu sehen!«
»Chef«, wiederholte Felber und folgte ihm in sein Büro.
»Komm, nimm dir einen Stuhl, setz dich.«
»Baumgartner, ich komme nicht aus dem Pflegeheim!«
Der groß gewachsene Beamte, der im letzten Jahr so viel an Profil gewonnen hatte, dass es Felber ihm gegenüber sogar ein-, zweimal angedeutet hatte, setzte sich auf den Drehstuhl und zog sich an der Tischplatte ein Stück zum Chef rüber. »Wir machen beim Toten von der Allmend mit, dem Politiker«, sagte er voller Stolz, als handle es sich um einen Song Contest oder eine Quizshow mit Riesengewinn.
»Spannend«, entgegnete Felber ohne eine Spur von Begeisterung und wechselte das Thema. »Erinnerst du dich noch an den Fall Leandra Winter?«
»Winter?« Baumgartner musste kurz überlegen. Dann nickte er. »Ja, klar.«
»Da war außerdem Sabrina Malic, die junge Frau, die diesem Léon Nacktfotos geschickt hatte. Ihre Kolleginnen hatten die Bilder im Netz verbreitet.«
Baumgartner nickte ernst. Die Handelsschülerin aus einer serbischen Familie hatte sich daraufhin mit Medikamenten aus der Hausapotheke das Leben genommen.
»Eine dieser Kolleginnen, die wir wegen Cybermobbing einvernommen hatten, war Mitglied einer religiösen Gemeinschaft.«
Baumgartner folgte gebannt Felbers Ausführungen.
»Kannst du mir ihre Personalien geben?«
Baumgartner grinste. »Haben wir gleich.«
Dass Baumgartner kooperativ sein würde, damit hatte Felber gerechnet. Aber dafür, dass er ihn nicht einmal fragte, warum und in welcher Sache Felber die Informationen brauchte, schrieb er ihm ein paar Extrapunkte gut.
Felber schaute ihm von der Seite zu, wie er geübt am Computer hantierte und die gewünschten Informationen an den Drucker schickte. »Scheinst gut zurechtzukommen«, stellte er fest.
Baumgartner hob fast entschuldigend die Schultern.
»Gewöhn dich nur nicht zu sehr daran. Übernächste Woche bin ich wieder da.«
»Da bin ich froh, Chef, ganz ehrlich. Die Leitung des Teams ist ein Heidenstress. Ist mir erst jetzt bewusst geworden, was du da immer leistest!«
Felber legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter, bevor er mit dem gewünschten Ausdruck die Abteilung verließ.
Am Abend googelte Felber die »Rosentempler« und fand tatsächlich eine Webseite, die im Stil der 90er-Jahre gehalten und auf den ersten Blick total unübersichtlich war. Es wimmelte von religiösen Sprüchen und Zitaten irgendwelcher spirituellen Meister und Bildern von Leuten auf Versammlungen. Eine ganze Seite verwies auf weiterführende Literatur: »Das Leben der Meister im Osten«, »Die großen Eingeweihten«, Bücher von Osho und einem Aleister Crowley über spirituelle Suche, Meditation und Bewusstseinserweiterung.
Dann gelangte Felber auf eine Art Porträtgalerie und stellte mit Befremden fest, dass es sich bei den Porträtierten um Personen handelte, die in Cheiry und Granges-sur-Salvan ums Leben gekommen waren. Er wurde nicht schlau daraus. Handelte es sich um Nachrufe, eine Warnung, eine Hommage? Einmal war von »Opfern des Transits« die Rede, gleich darauf wurde die »spirituelle Reise« in den herrlichsten Farben verklärt.
Auf einer Unterseite fand er Texte, die offenbar aus dem Nachlass der Sonnentempler stammten: »Transit in die Zukunft«, »Das Rosenkreuz«, »An alle, die die Stimme der Weisheit noch zu hören vermögen …«, schließlich sogar eine Abschrift des Briefs der Selbstmörder von Saint-Casimir an die Behörden von Québec vom März 1997.
Wer stellte so etwas ins Netz? Wozu? Und vor allem: Wer schaute sich so etwas an?
Kapitel 7
Thomas Brunegg ließ den sanften Sprühregen noch einige Sekunden lang seinen Körper massieren, dann stellte er die Regenwald-Dusche ab, schwang sich ein Handtuch um die Hüfte und ging zurück ins Schlafzimmer, wo er sich auf einen der Vitra Lounge Chairs setzte und die Nachrichten auf seinem Handy checkte. Auf dem Tisch stand vom Vorabend noch die leere Champagnerflasche neben dem Eiskübel und drei Gläsern. Am Boden, zwischen Reizwäsche und anderen Kleidungsstücken, lagen Handschellen, Lederriemen und Kondome, auf dem runden King-Size-Bett die beiden Frauen von Esplendid-Escort. Die eine, eine dunkelhaarige Tschechin, hatte sich in die Jersey-Decke eingewickelt und ließ nur einen Fuß sehen, die andere lag nackt auf dem Bauch, eine Nordafrikanerin, deren Rückgrat im gedämpften Licht eine perfekte Wellenlinie bildete.
In Gedanken ließ Thomas Brunegg die wilde Nacht Revue passieren, dann las er weiter. Roth hatte geschrieben wegen des Kredits. Thomas überlegte sich, wie er ihn am besten dazu bringen konnte, zu tun, was er wollte.
Währenddessen hatte sich die Tschechin aus der Decke gewickelt. Sie zog sie sich wie einen Umhang über eine Schulter, tänzelte zu ihm herüber und schmiegte sich an ihn. »Hey, Sweetheart …«
Er schob sie unsanft weg. »Zieht euch an und verschwindet!«
Jetzt war auch die andere wachgeworden – er konnte sich nicht an den Namen erinnern, wahrscheinlich Vanessa, Samantha, Sandy, irgend so was. In seiner Vorstellung hießen alle Nutten so. Sie setzte sich auf den Bettrand, ein wildes Tier. Aber dann machte sie alles zunichte, indem sie fragte, ob er gut geschlafen habe.
»Verpisst euch!«, schrie er und schlug mit der Hand auf den Glastisch, dass das Sektglas auf den weißen Shaggy fiel, ging mit dem Handy in die Ankleide und knallte die Tür hinter sich zu. Er bezahlte nicht fünfstellige Beträge, um am nächsten Morgen den Babysitter für die Tussen spielen zu müssen. Aus dem Wandschrank suchte er Unterwäsche, eine dünne Leinenhose und ein gebügeltes Poloshirt, wählte Roths Nummer und stellte das Handy auf Lautsprecher, um sich während des Gesprächs anzuziehen.
Der Arzt war sofort am Apparat und wiederholte seine Bitte, die Rückforderung des privaten Kredits aufzuschieben.
Thomas Brunegg gab vor, nicht zu verstehen, was Roth wolle. »Die Bedingungen sind doch klar.«
Natürlich hatte Roth das Geld nicht. Er hatte sich verspekuliert, sich eine teure Wohnung, einen Sportwagen leisten wollen, um seiner Freundin zu imponieren. Brunegg hatte ihm ausgeholfen, gegen gewisse Dienstleistungen, und nun bettelte Roth um Stundung. Er behauptete, Brunegg habe ihm eine flexible Rückzahlung versprochen.
»Die Dinge haben sich geändert, das Geld ist fällig.«
Vom Schlafzimmer her hörte er die beiden Mädchen tuscheln.
»Das ist nicht mein Problem«, sagte er kühl.
Roth bemühte die Freundschaft, die Zunftbruderschaft. Brunegg schlüpfte in ein Paar Louis Vuitton Loafers. Wie erwartet verlegte sich Roth nach einer Weile aufs Drohen.
»Es ist umgekehrt«, erklärte Brunegg ruhig. »Wenn du dich nicht an meine Regeln hältst, dann lasse ich deinem Spital Informationen zukommen, über unsauber deklarierte Medikamente, andere Unregelmäßigkeiten … Du weißt schon.«
Er kämmte sich das Haar, zog einen Seitenscheitel und brachte mit beiden Händen Gel auf, während Roth zappelte und sich wand.
»Es gibt keine Hinweise auf mich, das weißt du genau! Das ist nicht mein Problem, wie gesagt.«
Ob er wenigstens sicher sein könne, dass die Sache aus der Welt wäre, wenn er das Geld irgendwo beschaffen würde, fragte Roth.
»Ich werde es mir überlegen.«
Endlich erkannte Roth, dass er nicht mehr rauskommen würde, egal was er machte. Brunegg sei ein Teufel, meinte er, er höre nie auf.
Thomas lachte nur. Er hatte Roth genau dort, wo er ihn haben wollte. »Teufel ist gut. Aber du hast recht, ich werde vielleicht nie aufhören. Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«
Als der Arzt ausfällig wurde und ihn als verdammtes Arschloch betitelte, legte Brunegg auf. Er ging durch das lichtdurchflutete Wohnzimmer. Auf dem Tisch war das Frühstück angerichtet, Speck, Rühreier, Kaffee, Toast, Backwaren. Er nahm sich ein Vollkornbrötchen. Auf der anderen Seite der Villa war ein Angestellter auf der Sonnenterrasse dabei, mit einem langen Wischer den Pool zu reinigen.
Kurz darauf fuhr Thomas Brunegg mit seinem BMW Cabrio von der Villa über dem Zürichsee los und durch die Rebberge Richtung Seestraße. Der Zürichsee lag spiegelglatt zwischen den Hügelzügen, die Gipfel der Innerschweizer Alpen waren im Dunst nur zu erahnen. Auf der Höhe eines großen Bauernhofs kam ihm eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben entgegen. Esplendid-Escort holte seine Ladys ab.
Es herrschte wenig Verkehr auf der Seestraße. Brunegg donnerte mit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Stadt. Auf der Höhe von Erlenbach musste er allerdings wegen des Lastwagens einer Blumenhandlung stark abbremsen. Zwei Kleinwagen trauten sich offenbar nicht zu überholen. Er hupte, fuhr nahe auf, schwenkte Richtung Mittellinie, um nach vorne zu schauen, und drückte dann das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, der Wagen überholte die drei Fahrzeuge. Wie in Zeitlupe nahm er das entgegenkommende Fahrzeug wahr. Er drückte das Gaspedal ganz durch, die Scheinwerfer des anderen fest im Blick, spürte das Adrenalin, den Kick. Im allerletzten Moment schwenkte er wieder ein. Der andere war auf die Bremse gegangen, auf den Pannenstreifen gelangt und hupte langanhaltend. Thomas Brunegg raste fröhlich die letzten Kilometer Richtung Zürich.
Kapitel 8
Orte um den Zürichsee, an denen vorrömische Naturheiligtümer, Ritualplätze, Steinkreise oder Kulthügel nachgewiesen werden können, sind ausnahmslos in Relation zu Sonne oder Mond gesetzt, sind ausgerichtet auf den Sonnenaufgang an Mittwinter, die große südliche Mondwende und andere Einschnitte im astrologischen Kalender. Sie zeugen davon, dass lange vor unserer Zeitrechnung, wahrscheinlich schon in den matriarchalen Gesellschaften der Jungsteinzeit, ein tiefes Bewusstsein für das harmonische Zusammenspiel der Jahreszeiten, der Lebewesen wie auch der Gestirne bestand. Oft sind es Kraftorte mit besonderer feinstofflicher Energie. Eine solche Stelle mit Kraftwerten von bis zu 700.000 Boviseinheiten (!) befindet sich nur wenige Kilometer außerhalb von Zürich, auf der Forch bei Aesch. Hier kreuzen sich nämlich mehrere sogenannte Ley-Linien, Energie-Adern, die prähistorische Kraftorte wie Stonehenge, die Pyramiden, die Extern-Steine oder das Labyrinth von Chartres verbinden. Der Architekt Otto Zollinger, der 1922 beauftragt wurde, dort ein Denkmal für die Zürcher Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu bauen, muss die spirituelle Bedeutung des Ortes erkannt haben; ist die 18 Meter hohe Flamme auf dem Stufensockel doch nichts anderes als ein Obelisk, Symbol für die Verknüpfung der materiellen mit der geistigen Welt.
Auch Otto Froebel, der Ende des 19. Jahrhunderts den Garten der Villa Brunegg entworfen hatte, musste tiefe Ahnung vom geheimen Zusammenwirken universeller Prinzipien gehabt haben. Im Gegensatz zu anderen Zürcher Villengärten dieser Epoche war derjenige der Villa Brunegg ein wahrer Mikrokosmos voll innerer Harmonie und Symbolik. Im Zentrum, als Herzstück, die Rosenbeete; in jeder Himmelsrichtung ein Wasserelement: der Springbrunnen beim Haus vor der unteren Loggia, das flache Bassin auf der Westseite, die Nymphengrotte hinter dem Laubengang in Osten, der großzügige Neptunbrunnen in Norden. Dahinter der kleine Tempel auf dem Belveder. Geschwungene Wege, kleine Stützmauern, Kaskaden, Statuen antiker Gottheiten von einem venezianischen Bildhauer, Symmetrie ohne Starrheit. Eine Anlage, dafür geschaffen, die großen Einschnitte im Kalender zu begehen, wie die Sommersonnenwende in ein paar Wochen. Als spürten sie die Kraft des Ortes, hatten sich in den letzten Jahren Glühwürmchen angesiedelt, die in Sommernächten den Bereich um das Rosenbeet bis zum Nympharium in ein Meer magischer Lichtpunkte verwandelten.