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Es war ein besonderes Jahr, ein Mondjahr, ein Jahr der Veränderung. Zuerst im Mai der Blutmond: Sie war allein mit Jakobs Mercedes zur Forch hochgefahren, zu diesem einmaligen Kraftort neben der Flammenskulptur, um sich dem energetischen Einfluss des riesigen Mondes hinzugeben. Wenig Leute waren oben gewesen, mehrheitlich Familien, aber abseits. Der Himmel war wolkenlos gewesen, wie seit Längerem wieder. Kein Regen, keine Wolken. Auch das waren Zeichen.
Früher hatten sie manchmal auf dem Jura-Bölchen, an diesem magischen Berg, Holzfeuer entfacht, aber das war lange her. Noch früher waren sie ums Holzfeuer im Garten der Pyramide in Genf getanzt – vor mehr als 25 Jahren. Von den Leuten von damals war heute niemand mehr dabei, die meisten waren tot. Es war eine neue Gemeinschaft, eine kleinere, friedlichere, passend zu dem Garten der Industriellenvilla, passend auch zu einem Jakob Brunegg, der immer teilnahm, wenn auch nur am Rande.
Für die Feier müsste die Brunnenanlage repariert werden. Die Verwaltung würde morgen jemanden vorbeischicken, um die Sache anzuschauen. Durch das Alter des Brunnens und die Vorgaben der Denkmalpflege könnte es allerdings schwierig werden.
Sie setzte den Strohhut auf und machte sich mit dem Kugelschreiber eine Notiz in ihre kleine Agenda. Um den Brunnen war mit hellem und dunklem Kies eine Art Sonnengeflecht auf den Boden gezeichnet. Mit Holzfackeln würde sie den Kreis verstärken, diesen dann dreimal abschreiten, das Licht aufnehmen, die höheren Kräfte anrufen, gewahr werden der Macht des Rituals. Vielleicht gemeinsam das »Awen« singen, auf die eine oder andere Form sich das Vergangene vergegenwärtigen, es rituell zum Abschluss bringen mithilfe des Feuers oder in einer kleinen Retraite auf dem Belveder beim Tempelchen. Niederschreiben, was einen beschäftigte, die Papiere später dem reinigenden Feuer übergeben. Oder doch lieber ohne Stift und Papier, intuitiver, vielleicht mit schamanischen Holzstäben? Danach aber auf jeden Fall etwas Gemeinsames … Sie hatte so viele Ideen, und hinter jeder taten sich neue Bezüge auf. Sie würde sich beschränken müssen. Ja, das war es, Beschränkung, Beschränkung auf ein, zwei einfache, archaische Rituale. Das allein wäre der Wende würdig.
Von der Rückseite des Hauses hörte sie einen Automotor, dann das Zuschlagen einer Tür, kurz darauf Schritte auf dem Kies. Thomas. Délphine Michelet verkrampfte sich.
In gemächlichem Schritt kam er auf sie zu, ohne eine Geste des Grußes, als wäre sie eine der vielen Statuen.
»Das Zeug ist total verrostet«, bemerkte er mit Blick auf den trockenen Neptunbrunnen.
»Die Handwerker werden das anschauen.«
»Steht eine hohe Feier an?«
»Erst in ein paar Wochen«, sagte sie knapp.
»Was betet ihr diesmal an, die Sonne, den Baal, den Golem?«
»Wir feiern die Sonnenwende.«
»Die Sonne, die allmächtige – Mutter.« Er schaute seine Stiefmutter schräg an.
»Ja, die Sonne«, sagte sie trotzig, »der Quell allen Lebens und …« Immer wenn sie mit ihm redete, kamen ihre Worte schal und floskelhaft heraus, die Sätze versiegten halb ausgesprochen.
»Ich bin kein Kenner dieser hohen Wissenschaft«, fuhr Thomas großspurig fort, »aber ist die Sonnenwende nicht auch das Fest der Vergänglichkeit?«
»Ein Moment in einem Zyklus, der zur Wiedergeburt und in einen neuen Jahreskreis führt, immer wieder.«
»Die alte Illusion, dass alles ewig weitergeht.«
»Das geht es auch, es ist eine Kontinuität über den Einzelnen hinaus …«
»Ich habe nie verstanden, wie man sich für eine Kontinuität begeistern kann, die über den Einzelnen hinausgeht«, erklärte er. »Entscheidend ist, wann der Einzelne geht, und da gibt es sehr große Unterschiede.«
Sie zuckte trotzig mit den Schultern und drehte den Strohhut zwischen den Händen. Warum sollte sie mit ihrem Stiefsohn diskutieren? Es ging ihm nur um Provokation und Spott.
»Macht ihr auch Opferrituale?«, fragte er.
Sie holte tief Luft, bevor sie ihm antwortete, dass sie das natürlich nicht vorhatten.
»Schade.«
»Es geht darum, den Jahreskreis, die Wiederkehr zu feiern, eine Art Reinigung, wie schon unsere Vorfahren seit Urzeiten …«
»Aber gerade bei den Kelten war die Sühne ein wichtiges Element in diesem Zusammenhang. Rituelle Opferungen, um Sühne zu leisten.«
Sie schüttelte den Kopf und blickte auf das leere Wasserbecken, in dem sich trockene Blätter angesammelt hatten.
»Es sühne, wer zu sühnen hat«, stichelte er weiter.
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, fuhr sie auf, schaute jedoch gleich wieder weg. Eine Sekunde lang hatte sie das Bild der toten Frau im Foyer vor Augen. Sie bekam trotz der Junihitze Gänsehaut.
»Qui tacet consentire videtur«, sagte Thomas und zeigte mit dem Finger auf sie.
Sie verstand kein Latein und fragte sich, ob er extra vor ihren Treffen immer ein Zitat heraussuchte, bloß um sie zu demütigen.
»Wie geht’s ihm heute?«, wechselte er plötzlich das Thema.
Sie wusste, dass er seinen Vater meinte. »Mäßig. Die Pflege ist seit einer halben Stunde da.«
»Also dann«, sagte er fröhlich und wandte sich zum Gehen. »Weiterhin frohes Hokuspokus!« Er schnipste mit den Fingern in der Luft und ging pfeifend über den Kiesweg auf die Villa zu, die mit ihrer efeubewachsenen Fassade, den Loggien und Balkonen im Schatten alter Bäume stand.
Délphine blickte ihm nach und versuchte, das Gesicht der Toten zu verdrängen. Doch mit den Bildern war die Angst wieder da, die Angst und das Bewusstsein, selber Teil des Verbrechens zu sein, auch wenn sie nur das Schlimmste hatte verhindern wollen.
Wieder wurde ihr klar, dass Thomas sie umbringen würde, wenn sich die Gelegenheit ergäbe. Ohne mit der Wimper zu zucken, wie bei der anderen. Nicht nur wegen der Erbschaft, die ohnehin zum größten Teil schon als Vorbezug an ihn übergegangen war, sondern weil sie zu viel wusste. Sühne – damit lag er nicht einmal falsch. Sühne war ein wichtiger Schritt auf dem Lebensweg, viele Kulturen hatten Rituale dafür geschaffen, verstanden Sühne nicht als bloßes Entschuldigen und dann Weitergehen, sondern als ein Eingestehen der Schuld, als Bedingung für eine Versöhnung. Aber für Thomas war Sühne Aburteilen, Strafen. Sie diente nicht der Wiederherstellung der Harmonie, an die er ohnehin nicht glaubte, sondern der Befriedigung seiner Lust an Schmerz, an Gewalt und dem Leid anderer.
Der Dunsthimmel lag wie ein Leichentuch über dem Garten, als habe sich allein mit dem Auftauchen ihres Stiefsohnes alle Energie verflüchtigt. Wie jedes Mal, wenn er in ihre Gegenwart trat.
Kapitel 9
Auch am Tag der Hochzeit war es wieder drückend heiß, so richtig »tüppig«, wie man hierzulande sagt. Alle hätten sich über ein erfrischendes Sommergewitter gefreut, außer Linus, der bis zum Schluss keine gute Strategie gefunden hatte, im Fall eines Wolkenbruchs den Apéro schnell genug in die Innenräume zu verlegen.
Was seine Rolle als Tätschmeister anging, machte er allerdings keine halben Sachen. Jeder Programmpunkt war perfekt durchorganisiert: die Gäste vom Apéro in den Speisesaal dirigieren und platzieren, für Aufmerksamkeit sorgen, wenn eine Produktion anstand, mit der Küche die einzelnen Gänge koordinieren – als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. So minutiös alles auch durchdacht war, so wenig duldete er es, wenn sich jemand nicht an sein Skript halten wollte. Beispielsweise wenn jemand kurz stehen blieb, obwohl er weitersollte, oder gar eine Rede oder eine kleine musikalische Produktion anbringen wollte, die nicht angemeldet war. Für Ermahnungen, er solle das Ganze nicht so ernst nehmen, hatte Linus kein Gehör. Solche Dinge ließe er sich nur von Meret sagen, die aber so von ihrer Rolle als Braut absorbiert war, dass sie von den kleinen Zänkereien am Rande nichts mitbekam.
Die meisten Gäste waren Freunde von Meret und Jan, sportliche junge Männer in Maßanzügen und sportliche junge Frauen in eleganter Abendgarderobe. Man hätte meinen können, versehentlich ins Zürcher Filmfestival geraten zu sein.
Nicht nur deswegen wurde Felber den ganzen Tag über das Gefühl nicht los, in einem Film mitzuspielen, wo er allerdings nur eine Statistenrolle hatte, ohne die Handlung richtig zu begreifen. Im Stadthaus auf dem Zivilstandsamt war es noch gegangen, aber jetzt gegen Abend im Belvoirpark fühlte er sich immer unwohler. Sara nahm ihn hoch und meinte, es sei die Hochzeit seiner Tochter, nicht seine Hinrichtung. Er führte die obligaten Gespräche, stieß brav an und versuchte sich nicht aufzuregen, als ihn Jans Mutter auf sein Burn-out ansprach. Stattdessen erklärte er ihr ruhig, es sei kein Burn-out, die Suspendierung habe mit der Untersuchung von Deborahs Tod zu tun. Im gleichen Moment bereute er schon, das Thema an diesem Tag und ihr gegenüber erwähnt zu haben.
Auch dass ihn Merets Patentante und ihr Mann kritisch musterten und zwischendurch bemerkten, sie hätten gar nicht gewusst, dass er wieder zu rauchen angefangen habe, ließ er ohne Kommentar. Er war froh, Sara an seiner Seite zu haben, die ihm mit ihrer lockeren Art durch den Tag half, ihn wegzog, wenn sie merkte, dass ihm etwas unangenehm war, ihn in unverfängliche Gespräche verwickelte oder ihm zulachte, wenn er, etwa angesichts des Drehorgel-Auftritts von Jans Vater, mehr oder weniger unauffällig die Augen verdrehte oder sich bei peinlichen Spielen ein Kopfschütteln nicht verkneifen konnte.
Meret sah hinreißend aus, aber inmitten der Schar ihrer Freunde und Brautjungfern wirkte sie weit weg, unnahbar. Natürlich kam sie immer wieder zu ihrem Vater, hängte sich bei ihm ein, stellte ihn diesen und jenen Freunden vor. Und doch fühlte er sich völlig fehl am Platz, innerlich leer. Für Meret und Jan schien es tatsächlich der schönste Tag im Leben zu sein, wie man so sagte, zumindest strahlten sie das aus. Felber dachte an seine eigene Hochzeit zurück, damals im Restaurant Grünwald oberhalb von Höngg.
Da kam ihm die erste Trauerfeier für Deborah in den Sinn, im November, nachdem sie aufgrund des zugestellten Fingers die Gewissheit erhalten hatten, dass sie tot war. Aus unerfindlichen Gründen hatte er diese idiotische Feier ebenfalls im Grünwald abhalten wollen. Deborahs Vater war durchgedreht und hatte am Schluss einen Herzinfarkt erlitten. Er hatte ihn überlebt, aber heute waren er und seine Frau nicht da. Sie hatten gesundheitliche Gründe vorgeschoben und sich, so hatte Meret erzählt, mit einem überaus großzügigen Geschenk freigekauft.
Beim Nachtessen saßen Brautpaar, Brautführer und Eltern an einem Tisch, was ein bisschen mehr Nähe schaffte. Auch Linus fand kurz Zeit, etwas zu essen, bevor er wieder davonsprang. Zwischendurch stellten sich die Raucher auf den Balkon, von dem aus man auf den Zürichsee und die Lichter des gegenüberliegenden Ufers blicken konnte. Felber unterhielt sich eine Weile mit jungen Leuten, die sich, das Weinglas in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen, auch für einen Augenblick aus der hitzigen Versammlung geschlichen hatten.
Mit Trinken hielt sich Felber zurück. Er wusste: Wenn er sein Unwohlsein mit Alkohol zu kompensieren versuchte, würde es übel enden. Überhaupt war er Biertrinker, Wein bekam ihm schlecht. Vom Rotwein schnarchte er, Weißwein hielt ihn wach, und von den Schnäpsen, die irgendwann auch angeboten wurden, wäre er bald sturzbesoffen gewesen. Na ja, schlafen würde er vermutlich diese Nacht ohnehin nicht können und noch lange auf der Terrasse am Hadlaubsteig sitzen, unter den schwarzen Baumkronen, die sanft im Wind schaukelten.
Linus hatte nach dem Nachtisch seinen Auftritt. Er hatte aus unzähligen Fotos aus Merets Kindheit eine Trickfilm-Collage gebastelt, die für viel Gelächter und langen Applaus sorgte. Felber wusste, dass er für das Werk von wenigen Minuten seit Wochen fast jeden Abend ein, zwei Stunden in seinem Zimmer gearbeitet hatte. Das Resultat war ziemlich skurril, sehr eigenwillig, ganz Linus – und damit ein wunderbar individueller Farbtupfer auf das Fest, das durch gutes Essen und gute Organisation, aber bestimmt nicht durch Originalität und Kreativität glänzte. Linus’ Collage war wunderbar lustig und wunderbar traurig. Sara, die bemerkte, wie Felber sich krampfhaft auf die Lippen biss, stupste ihn an, gab ihm einen Kuss und drückte einen Moment ihren Kopf an seine Schulter.
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