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Er hatte seine Frau eingebüßt, wie, war ihm nicht ganz klar. Er hatte schon wenig Zeit für sie gehabt, ein bisschen viel Beruf, ein bisschen Stammtisch, ein bisschen Sport – er wollte ja nur leben. Sie auch, aber profaner als er, sie wollte Lust und Fleisch, im Prinzip hatte er dagegen auch nichts, aber es konnte nicht alles sein in einem menschlichen Leben.
Sie hatte ihm eröffnet, dass sie ihn verlasse, und er war nicht wirklich überrascht. Freilich hatte es ihn vor Schmerz schier zerrissen, aber mehr, weil er sie lieber nach außen weiter besessen hätte, als dass ihm noch viel an ihr lag. Wenn sie meinte, dass sie ihn nicht mehr brauchte, konnte sie ihn sein lassen, sie hätten ein Arrangement finden können unter demselben Dach, viel wollte er auch nicht mehr von ihr. Aber gehen war blöd, gehen sah so aus, als ob er als Mann nichts taugte. Gehen zu einem anderen, den es auch gab, machte es noch schlimmer, aus ihm den noch größeren Versager. Diese Schande tat ihm weh, die Frau eigentlich nicht. Dazu sah er viel zu gut aus, als dass er diese Freiheit nicht amourös ausfüllen würde.
Ein bisschen anders war es schon gekommen. Er hatte zunächst vor allem gesoffen wie ein Weltmeister nach dem Finale. Das war in Ordnung, die Kollegen akzeptierten das, war schließlich ein Schicksalsschlag, der relativ vorzeichenlos über den Kommissar hereingebrochen war. Den Damen signalisierte er damit Unbesetztheit.
Sie hatten einen Sohn, einen Oliver. Der war gerade im besten Alter von 16, der hatte innerlich ganz schön gelitten, sich aber nichts anmerken lassen, war cool geworden. Abraham war nicht von allem begeistert, was er sich an- und mit wem er rumzog, aber insgesamt bewunderte er die Tapferkeit seines Buben, der, seit seine Mutter sie so allein gelassen hatte, immer mehr zu einem Kumpel geworden war. Sie waren eine Männer-WG, hatten am Anfang ein paar ungeschickte Versuche mit der Hausarbeit gebraucht, waren jetzt aber Herren der Lage. Oliver war, das mochte Abraham gar nicht abstreiten, ein ganz wichtiger Grund, warum es ihm nicht so beschissen ging, wie es möglich wäre nach allem. Wenn sie auf die Idee käme, ihn ihm auch noch wegzunehmen, dann hätte sie ihn auf dem Gewissen, wahrscheinlich. Aber auf die Idee war sie nicht gekommen, sie fühlte sich lieber wohl in den Armen ihres Neuen, eines Ausländers noch dazu, der sein wahres Gesicht erst zeigen musste. Auf diese seine große Stunde wartete Abraham und auf ihr Zurückkriechen, worauf er ihr mit harter Schulter antworten könnte. Solange würde der Sohn gelegentlich seinen Vater kotzend auf der Toilette vorfinden, ihm die Haare aus dem Gesicht streichen, den Mund putzen, ihn in den Schlafanzug stecken und ins Bett helfen. Und der Vater würde dasselbe für seinen Sohn tun, und die Mutter dürfte von nichts wissen, denn sonst würde ihre schöne Einsame-Wolf-Zeit vorbei sein, und sie würden wieder Vernunft annehmen müssen.
Von Tina wusste er nicht allzu viel, außer dass jeder männliche Kollege für sie schwärmte. Auch er, aber er hatte sich, als er noch fest gebunden war, dafür geschämt, der Fremden, die nicht seine war, auf den Hintern zu schauen. Die Kollegen waren da nicht so streng mit sich, sollten die machen, was sie wollten. Jetzt durfte auch Abraham ungeniert stieren, jeder wusste das, selbstverständlich auch Tina, und deshalb konnte es kein Zufall sein, dass sie ihm noch einen verhuschten Blick schenkte, als sie sich setzte mit zwei neuen Ordnern.
Viel hatte er heute noch nicht gemacht, nicht weil er verkatert war – er soff nicht mehr so viel wie kurz nach der Trennung –, aber es gab nicht viel. Sein Kollege Inspektor Trimalchio war mal da gewesen, sie hatten über den Müll geredet, weil die Stadt eine Verordnung erlassen hatte, die Müll-Trennungssünder strenger zu kontrollieren. Sie hatten sich überlegt, wie sie das organisieren könnten. Sie hatten sich aufgeregt, dass immer mehr von ihnen verlangt, aber immer weniger Personal und Geld ihnen zugebilligt werde. Kleinbürgerkram. Er mochte Inspektor Trimalchio – gleiche Wellenlänge.
Er würde jetzt aufstehen und Tina einladen, egal wozu, Mittagspause, Kaffee, Eis oder Drink nach dem Dienst oder abends richtig. Sie würde nicht Nein sagen können bei den vielen Optionen, die er ihr böte, sie würde bekommen, was sie wollte. Dachte Abraham.
Mit »Servus, Tina« ging er sie an.
»Ja?«
»Hast du es streng heute?«
»Geht so.«
»Weißt du, ob noch Kaffee da ist?«, fragte Bruno Abraham.
»Alles ausgetrunken.« Das wusste Bruno, deshalb hatte er so blöd gefragt, jetzt würde sie gleich fragen: »Soll ich noch einen machen?«, und er könnte sie einladen.
»Nein, nicht nötig. Aber Lust hätte ich schon. Hast du auch? Wir könnten rausgehen. Ich lad dich ein.«
»Du mich? Wieso?«
»Weil’s meine Idee war. Rausgehen und Kaffeetrinken.«
»Okay, aber ich kann uns hier einen machen.«
»Das ist eigentlich nicht deine Aufgabe.«
»Nein, ich mach’s nebenbei, das lenkt mich nicht ab.«
»Was würde dich denn ablenken?«
»Hm? – Was würde mich ablenken? Wenn hier den ganzen Tag ein Fernseher liefe.«
»Ein Fernseher?«
»Ja, das würde mich ablenken.«
»Weißt du, was mich ablenkt?«
»Was?«
»Deine Beine.«
»Hab ich das Falsche an?«
»Im Gegenteil: genau das Richtige. Wenn deine Beine nicht wären, könnte ich diesen Job schon lange nicht mehr machen.«
»Oh.«
»Macht dir deine Arbeit hier Spaß?«, fragte Bruno, weil er selbstbewusster wurde, da sie mit ihm redete.
»Schon.«
»Warum?«
»Heute willst du es aber sehr genau wissen.«
»Ich interessier mich für dich. Das ist doch schön. Oder?«
»Freilich. Also, ich finde meine Arbeit hier schön, weil hier kein Massenbetrieb herrscht, weil man sich hier noch füreinander interessiert.«
»Im Ernst.«
»Ich mag die Leute hier, ich mag die Arbeit im Büro, sie ist übersichtlich und doch nicht eintönig, die Fälle und so weiter, dahinter stecken Menschen, Schicksale und ich bin da dran, nah. Verstehst du?«
»Ja, ich bin näher.«
»Weiß ich, aber das wollte ich schon nicht mehr, weil ich Angst hätte, ich nähme davon zu viel mit nach Haus. Im Kopf. Ich denke, damit hast du kein Problem.«
»Nein, das verstehe ich unter Professionalität, die Dinge hier nicht zu nah an mich ranzulassen, obwohl sie sich manchmal sehr aufdrängen. Im Moment habe ich das Problem eher andersrum.«
»Andersrum?«
»Die Dinge daheim drängen in meine Arbeit. Das ist schwerer wegzuhalten. Wie sieht’s bei dir daheim aus? Das würd ich gern wissen. Mensch, würd ich das gern wissen.«
»Da drückt nichts.«
»Bei mir schon. Weißt du, dass mir die Frau weg ist, dass sie mich verlassen hat? Ich bin einsam. Warst du schon mal einsam? Ich glaub’s nicht, wenn ich dich so anschau.«
»Allein und einsam ist ein Unterschied. Ich bin gern allein, ich nenne das unabhängig, ich bin nicht gern angebunden.«
»Ich genieße das, klar, mal zu lassen, was ich will und zu tun auch. Aber irgendwann drückt es, vor allem, wenn du es ein Leben lang zuvor nicht gewohnt warst. Ich war nie einsam. Alle wollten immer nur mich. Ich weiß gar nicht, was sie alle an mir finden. Aber irgendwas muss dran sein an mir, sonst würden sie es nicht alle versuchen. Versuch’s doch auch mal, oder kostet es dich was?«
»Was sollte es mich kosten?«
»Wartet jemand daheim auf dich?«
»Du willst es heute sehr genau wissen.«
»Ja, will ich, ich geb zu, dass ich dich gern anschau, dass ich mir das erlaube, seit ich das darf und nun will ich, dass du es mir auch erlaubst.«
»Du darfst schauen, soviel du willst und solange du nur mit den Augen schaust, gefällt es mir sogar, geb ich zu. Und mit den Händen, da schaut man nicht. Davon haben wir nicht gesprochen.«
»Noch nicht. Gehst du jetzt mit?«
Er musste allein gehen, er ging dennoch und fühlte sich nicht schlecht dabei. Er war vorangekommen und er würde es weiter probieren, bis der Tag vorbei war. Er spürte, dass die Frau nicht aus Granit gebaut war und er wollte spüren, woraus sie tatsächlich gebaut war.
*
Über den ersten Eindruck konnte Birne Seiten füllen, weil er einer war, der sich an der Platte immer wieder verbrannt hatte, es immer wieder versucht hatte, seinen Vorurteilen nicht zu glauben und dann so bitter enttäuscht wurde. So oft. Birne verstand was vom ersten Eindruck, wie wichtig er war, dass man ihm traute, auch wenn es nach einer Weile oder zwischendrin mal anders aussehen konnte: Der erste Eindruck ist wichtig. Hatte Birne gelernt, so oft und bitterlich.
Menschen verändern sich, freilich, manchmal ist einer auch wirklich besser, als man gedacht hätte, als man ihn zum ersten Mal eine Zigarette hat anzünden sehen, aber wenn man einen von Anfang an abgrundtief hasst und nicht nur, weil er einen an jemanden erinnert, der ihm die erste oder zweite Freundin ausgespannt hatte, dann ist da was dran.
Birne hatte sich Gedanken über das neue Leben gemacht, hatte sich gedacht, dass es inkonsequent wäre, wenn man schon ein neues Leben anfinge, nicht auch Dinge anzurühren, in deren Nähe man sich im alten Leben gar nie gesehen hätte.
Birne hatte beschlossen, ein Fitnessstudio zu besuchen. Das machte man hier so, keiner fand was dabei; Freunde hatte er hier, so gesehen und beim besten Willen, noch keine, also konnte man es darauf ankommen lassen. Der Spaß war nicht billig, und Birne war schon dagegen, dafür so viel zu zahlen, das hätte er mit echter Körperarbeit um einiges billiger haben können, aber ranlangen – apropos – ließ ihn ja niemand. Das war, wenn man streng hinschaute, auch der Grund, warum er hier war – in der Stadt und auch in dem verfluchten Studio.
Die waren alle viel schöner, als er sein wollte, alle hier nicht zum ersten Mal und Birne musste sich daran erinnern, dass er gezahlt hatte, wie sie alle, um hier sein zu dürfen, und deshalb auch ein Recht hatte, auch wenn er nicht so schön war. Außerdem: Was heißt schön?
Der Tag war dumm gelaufen, er hatte praktisch bei seinem Chef verschissen. Birne hatte früh am Morgen sein Haus verlassen, um zu schießen. Er war, ohne zu schießen, in sein Büro gegangen, hatte einen gewöhnlichen Tag verlebt und ihn mit einer Katastrophe abgeschlossen. Vollsaufen wäre konsequent und für jedermann nachvollziehbar gewesen. Birne wäre am nächsten Tag, nach Hustenbonbon und Jägermeister riechend, einen Tropfen zu spät erschienen, hätte damit seinen Kredit vollends verzockt, wäre geflogen, hätte das neue Leben nach einer Woche abgebrochen, wieder ein neues angefangen, hätte sich kurz gefragt, ob das den Rest jetzt so weiterginge, dass man mehr anfängt als führt. Und so weiter.
»Das musst du nicht so ernst nehmen«, hatte Werner gesagt, als sie draußen waren.
»Ist der immer so?«
»Eigentlich nicht.«
Werner meinte es ehrlich gut mit ihm. Birne spürte das, Birne war so etwas auch wichtiger als der Job und die Karriere, die konnte er immer noch machen, aber zwischenmenschlich musste es passen, sonst ging einem da oben irgendwann die Luft aus und es würde dich zusammenhauen und runterziehen.
»Ich hab mir gedacht, ich bring ihm morgen Ferrero Rocher mit und entschuldige mich in aller Form.«
»Der alte Sekretärinnen-Umwickler. Der Mann versteht was von den Menschen. Gute Idee.«
Birne hätte gerne gewusst, wie ernst Werner das meinte, hatte sich aber nicht zu fragen getraut. Sie waren nach wenigen Metern getrennte Heimwege gegangen. Birne war gar nicht so schlechter Laune, wie er gedacht hatte. Er hatte sich aus dem Supermarkt ein Weizen mitgenommen und, nachdem das weg war, beschlossen, es mit dem Studio zu versuchen.
Birne hatte gedacht: Nichts. So billig bin ich nimmer, mach nicht mehr, was am nächsten liegt, den Tag vollends versaufen, sondern erst, was das dritte oder vierte ist, worauf einer jetzt gekommen wäre. Er hatte seinen Geldbeutel gepackt und war los zum Studio, hatte den Preis für ein Vierteljahr hingelegt, gerade um sich für die Schweinerei auf dem Anzug des Chefs zu strafen: Wenn die nämlich Konsequenzen hätte, wären die Euro fürs Studio auch für den Arsch. Innerlich hatte Birne also schon gebüßt. Wusste der Chef natürlich nicht, mit dem Selbstbewusstsein konnte ihm Birne aber morgen begegnen. Mit dem Selbstbewusstsein und vor allem ohne Alkohol im Geruch. Birne lachte über die doppelte Fliege.
Er hatte ein Handtuch und einen Haustrainingsanzug mitgenommen, den er gern anzog, wenn er in den Fernseher schaute – wenn er in den Fernseher schaute. Der Anzug stank noch nicht, obwohl er ihn zwei Jahre sicher nicht gewaschen hatte. Er roch schon, er stank halt nicht.
Birne war allein da. Birne wollte eine tolle Frau kennenlernen. Zunächst nur reden, sich höchstens später und im Idealfall bei einem Ausgehen in eine Freundin von ihr verlieben.
Die wiesen ein, sagten ihm, wie er anfangen sollte, wenn er noch nie da war, und wie er sich dann steigern sollte. Sie maßen ihm den Blutdruck.
Die anderen, die noch da waren und nicht so verloren schauten, die waren auch einmal zum ersten Mal da gewesen, die wussten doch, was die einem sagten, der zum ersten Mal da war, wie er anfangen sollte und wie er sich steigern könnte. Für sich sah Birne wie einer aus, der zum ersten Mal da war, tausend Meter gegen den Wind, ohne dass sein Anzug stank. Birne gab die Hoffnung auf, hier gleich eine tolle Frau kennenzulernen, hier war kein Ort, an dem Verlierer eine Chance bekamen. Zum Verlieren ging man woanders hin.
Da drüben lachte eine zu ihm herüber, sie musste ihn auslachen, er passte nicht hierher. Nebenan der Mann, den konnte sie auch meinen, auch wenn das unwahrscheinlich war und sie dazu ein bisschen hätte schielen müssen, was er auch nicht glaubte, dass hier eine war, die schielte. Nebenan der Mann, der steckte in einem blau-metallic-glänzenden Body und hatte seine schwarzen Locken im Zaum mit einem weißen Stirnband. Und einen Schnauzbart – Birne hasste ja Schnauzbärte und Frauen, die sich von Schnauzbärten angezogen fühlten. Der Mann wäre zu dick gewesen, wenn er nicht trainiert hätte. Aber das tat er ja, der Schnauzbart-Mann, trainieren, dass es krachte, und Birne bekam einen Hassanfall, dass er gar nicht wusste, woher auf einmal, und hätte aufhören müssen oder seine Energie bündeln und sich gleich beim ersten Mal richtig steigern. Der Hass kam, und Birne konnte ihn nicht erklären dadurch, dass die Frau den Mann neben ihm auch hätte meinen können mit ihrem Grinsen.
Birne warf ihr einen freundlichen Blick zu, und sie schaute ihn schon längst nicht mehr an, sondern schwitzte und sah ihrem Schweiß zu, wie er ihr zwischen die Brüste rann. Birne mochte das Wort drall und freute sich, endlich wieder eine Frau zu sehen, die er wem auch immer mit diesem schönen Wort hätte beschreiben können. Er starrte sie an und stellte sich eine Freundin von ihr vor. Er nahm sich vor, den Rhythmus herauszufinden, in dem sie herkam. Hatte sie einen Tag in der Woche, der reserviert war für den Sport oder richtete sie sich nach dem Mondkalender? Der Schweiß rann ihr nicht nur in den Ausschnitt, sondern klebte einen Teil ihrer blonden Locken auch an ihre Stirn, die über den großen und trotz der Anstrengung nachgeschminkten Augen thronte. Sie hatte ein kräftiges, aber noch kein maskulines Gesicht. Birne war gespannt auf ihre Freundin, vergaß beinahe, es beim ersten Mal nicht zu übertreiben, aber die Maschine erzeugte in ihm keine Schmerzen, noch nicht einmal eine Anstrengung. Sie schaute noch einmal zu ihm – eindeutig zu ihm – herüber, und sie schaute noch einmal eindeutig zu dem Schnauzbart herüber: Der Wettkampf war ausgebrochen. Birne fühlte sich mächtig, der Kaffeefleck des Nachmittags war ihm an diesem Abend nicht anzusehen. Heute war Leibesertüchtigung. Sie machten alles richtig, alle drei. Die besten zwei von ihnen würden den Tag als Könige beschließen.
Birne war am späten Nachmittag heimgekommen, hatte schon gar nicht mehr mit einer Zeitung gerechnet und auch keine bekommen. Sie war ihm am zweiten Tag in Folge gestohlen worden. Das passte, Birne hatte nicht mehr mit einem Geschenk des Schicksals gerechnet und dann, als er sich frisch gemacht hatte nach der Leibesertüchtigung, auf dem Wartetisch neben dem Wartestuhl in seinem Studio eine zusammengefaltete, kaum gelesene Allgäuer Zeitung entdeckt. Er hatte sich gefreut und hingesetzt, war in den Neuigkeiten und Bildern buchstäblich versunken, hätte gar nicht mehr geglaubt, wie schön so etwas sein konnte, und das nach nur zwei Tagen, in denen man bestohlen worden war. Beinahe konnte er den Dieb verstehen. Eine Zeitung ist besser als manches Buch, dachte Birne, manchmal sogar besser als die Bibel. Er hatte sich vollgesaugt mit Druckerschwärze und dem Geruch grauen Papiers. Als er aufblickte, sah er sie noch einmal vorbeigehen, unglaublich elegant in ihrem rosafarbenen T-Shirt, die Locken klebten nicht mehr an ihrer Stirn, sondern wurden mit einem schwarzen Haarband gebändigt. Und das an seinem ersten Tag hier. Er war verliebt.
Dann folgte auch noch der Schnauzbart, sah aus wie ein alkoholkranker Zuhälter. Birne hatte seinen größten Feind entdeckt und fühlte sich ihm zehn Meter überlegen.
*
Bruno Abraham hatte eine Zusage erhalten und zwischen hier und seiner umwerfenden Verabredung noch ein bisschen Zeit. Die würde er nutzen, dachte er sich und trat kräftig auf die Straße.
*
Birne ging noch einmal in den Supermarkt, kaufte Schokolade, ein Stück Fleisch und eine Halbe Bockbier. Das Fleisch briet er sich noch und trank das Bier, bevor er müde und viel besser gelaunt, als er es sein sollte nach allem, ziemlich früh die Augen schloss und nichts mehr mitbekam.
3. Tag
Sie war früher gekommen als er und hatte ihn ziemlich ausgebremst, indem sie seine Frage, nachdem sie diesen irren Abend gehabt hatten gestern, mit einem »Ich kann mich nicht erinnern, ich kann mich nie erinnern« abgeschmettert hatte und seinen Übermut auf die Größe einer Zeckenbisswunde hatte schrumpfen lassen.
Er hatte sie gefragt »Na, hast du auch so heiß geträumt wie ich?«, und saß nun da und dachte an die Arschlöcher, die mit ihrem Müll nicht umzugehen wussten. Sie sollten ihn doch am Arsch lecken und mit ihrem Dreck machen, was sie wollten. Tina von Martina erledigte ihren Job wie immer und das, wo sie gestern so geil essen und hinterher einen trinken waren, dass er schon geglaubt hatte, neue Zeiten brächen an. Bis spät in die Nacht waren sie unterwegs und heute Morgen das. Dieses Verhalten. Ob er sich in ihren Gefühlen für ihn getäuscht hatte? Sie sah so verdammt gut aus und war auf einmal so kalt geworden. Hatte er zu viel geredet, hatte er sich zu toll dargestellt? Was stimmte nicht an ihm? Hatte sie einen Freund und nun ein schlechtes Gewissen?
Heute würde nichts passieren. Trimalchio würde kommen, sie würden sich ein raffiniertes Raster einfallen lassen, wie sie Leute einteilen und auf Streife schicken könnten, um die, die ihren Müll durcheinander und in eine Tonne warfen, zu erwischen und vor ihren verdienten Richter zu führen. Abraham dachte, dass er manchmal schon nur die kleine Hand eines sehr kleinen Mannes war als Polizist, als Kommissar sogar.
»Tina!«
»Ja?«
»Tina, ist noch ein Kaffee da?«
»Wie immer.«
»Tina, trinkst du einen mit?«
»Hab zu tun. Danke.«
»Und nachher, Tina? Machen wir am Mittag eine Pause?«
»Bin schon verabredet.«
Schon verabredet?
»Hast du Lust auf heute Abend?«
»Hast du heute nicht deinen Stammtisch?«
Hatte er, stimmte schon. Hatte sie aber nicht kapiert, dass sie etwas Besonderes war, dass er für sie einiges ändern würde im Leben? Konnte sie, wenn sie so aussah, überhaupt nicht kapieren, dass sie etwas Besonderes war? Hätten alle Frauen auf einmal von der Erde verschwinden müssen und er hätte nur eine einzige retten dürfen von allen Frauen, er hätte Tina genommen. So war das, an diesem Morgen.
»Dann halt ein anderes Mal.«
»Vielleicht.«
»Versprochen.«
Sie widersprach nicht.
Das Telefon klingelte.
Trimalchio war dran. Was wollte er?
Ein Mord war geschehen.
*
Der Tag war schnell vergangen, sein erster mit Zeitung, sein dritter im Geschäft. Das mit der Zeitung hatte ihn glücklich gemacht. Er hatte seinen Wecker früh gestellt und war doch ausgeschlafen, weil er rechtzeitig die Lampe gelöscht hatte am Abend zuvor. Kein Messer fiel ihm aus der Hand, kein Nutella verschmierte ihm die Finger, kein Kaffee tropfte ihm aufs Blatt. Er war zum Zeitungskasten gegangen und hatte sie sich herausgeholt, als ob das die normalste Sache der Welt wäre, die Millionen von Deutschen jeden Morgen verrichteten, ohne irgendetwas dabei zu verspüren. Wie Zähneputzen zum Beispiel.
Es gibt Tage, da möchte man an sich verzweifeln oder an der Welt oder an seinem Verhältnis zur Welt, wenn man grundsätzlich dazu in der Lage ist. Da schlägt man seine Zeitung auf und nichts, was da drin steht, nichts, was irgendwo anders passiert ist, interessiert einen einen Dreck. Birne hielt sich beim Leben nicht viel mit Philosophieren auf, ursprünglich zu einer Zeit, die er als seine Jugend bezeichnete, schon ziemlich oder was heißt ziemlich, dass es halt noch normal war. Nach und nach war ihm das Zeug aber lästig geworden oder albern vorgekommen – er hatte es weggeschmissen. Einer der wenigen Sätze, die ihm geblieben waren, die ihm hin und wieder noch ein Ziehen in der Seele verursachten, war einer des Griechen Aristoteles: »Wegen des Staunens haben die Menschen angefangen zu philosophieren.« Birne sah in dem Satz eine Aufforderung, sich für alles interessieren zu müssen, nicht weil er Philosoph werden wollte – der Zug war abgefahren –
nein, weil der, der nicht staunt, ein Nicht-Philosoph ist und früher oder später zum Depp wird. Ein Depp wollte Birne nicht sein, das wollte keiner sein. Keiner hält sich selbst für bescheuert. Man merkt aber auch nicht, wenn man bescheuert wird. Jedem kann es passieren, schon lange vor Alzheimer und dann – Scheiße – zeigen die Jungen mit Fingern auf einen im Bus und man meint, es liege am neuen Hut oder einem Zahnpastarest im Mundwinkel, dabei wird man für einen Depp angesehen und ist zufrieden mit einer Zahnpastaerklärung, wo man doch am gescheitesten sofort anfinge, an sich zu arbeiten, dass der Depp rausgeht aus einem.
Andrerseits hat kein Mensch die Zeit, sich für alles zu interessieren, außer vielleicht beim Warten auf den Bus, wenn er lange nicht kommt und die Langeweile Gestalt annimmt und die Werbung ohne schöne Frau auf dem Plakat auskommt. Eine Zeitung komplett durchzulesen, entzöge einen dem Alltag, dann existierte man nur noch zwischen Papier und Druckerschwärze, was an sich nicht die schlechteste aller Daseinsformen wäre, man müsste sich nur trauen.
Birne blätterte durch diese erste Zeitung in der neuen Stadt – es war da draußen außerhalb seines kleinen Kosmos nichts, absolut nichts von Belang passiert. Birne freute sich trotzdem an jeder Kleinigkeit, er roch an jedem Artikel, bevor er ihn las. Er führte ordentlich und ausgiebig ab, er genoss dabei dermaßen seine Lektüre, dass er vom Geruch der eigenen Exkremente beinahe nichts mitbekam. Er las folgende völlig unspektakuläre Geschichte:
Noch vor 20 Jahren, in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, beherrschte ein Thema unsere Medien wie heute die Klimaerwärmung: Deutschland und die gesamte westliche Zivilisation war drauf und dran, im Müll zu ersticken, die Müllberge wuchsen ins Unermessliche und drohten umzukippen und ganze Landstriche unter sich zu begraben. Man schalt die Medien, dass sie aus Mücken Elefanten machten, jede Kleinigkeit ausschlachten, bis der letzte Leser übersättigt abwinkt, doch in dem Fall hat es was genutzt: Die Menschen haben umgedacht, sie haben begonnen, Müll einzusparen, sie recyceln – dieses Wort wurde damals geboren – und sie trennen ihren Abfall, was eine Menge ausmacht. Immerhin müssen wir über Müll schon lange nicht mehr reden, wir haben den Kopf frei fürs Klima, wir können anderes anpacken.
Doch das ist zu schön gedacht. Leider. Immer mehr macht sich der Schlendrian breit. Müllmänner aus der ganzen Republik klagen über verschmierte Joghurtbecherdeckel im Papiermüll, Essensreste, ja und sogar echte Tierleichen im Gelben Sack. »Wenn wir so weiter machen, fallen wir zurück in die Steinzeit der 60er- und 70er-Jahre«, sagt ein Sprecher der Stadtwerke München. Die Bundesregierung will jetzt handeln. Müllsünder sollen ab heute stärker bestraft und vor allem strenger kontrolliert werden. Die Mülldetektive sind unterwegs und sie verhängen saftige Ordnungsgelder, damit uns in Zukunft nicht die Vergangenheit einholt.






