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Unter der Bevölkerung, besonders unter den Frauen, herrschte ein großes Angstgefühl. Wie wird das Ganze wohl enden? Vorsichtshalber verbargen sich alle in den Luftschutzräumen, wir uns im Keller unseres Hauses. Es geschah absolut nichts. Noch nicht einmal ein GI kam in den Keller, um nachzuschauen. Stattdessen hörten wir Klaviermusik. Die Amis machten es sich in unserem Wohnzimmer bequem und spielten Boogie-Woogie auf unserem Klavier. Für diesen Zweck hatten es meine Eltern ganz bestimmt nicht mit auf den Umzugswagen geladen.
Eine der älteren Frauen im Keller, vermutlich die unattraktivste, fasste sich ein Herz und ging nach oben. Nach zwanzig Minuten kam sie zurück und war fassungslos. Das Haus war voller Uniformen, aber keiner der Soldaten nahm sie näher zur Kenntnis. Da sie kein Englisch sprach, wagte sie nicht, jemanden anzusprechen und Fragen zu stellen. Nach einem ungestörten Rundgang durchs Haus ging sie wieder zurück in den Keller und hatte die vage Empfehlung, man möge einfach nach oben gehen und den nicht mehr zu ändernden Dingen ins Auge sehen. Unsere Mutter zögerte, war jedoch damit einverstanden, dass ich mich oben umsah. Schon in der Diele sprach mich ein GI an und schenkte mir einen Kaugummi. Ich hatte so etwas noch nicht gesehen, ich zeigte ihn meiner Mutter. Um Himmelswillen, der könnte vergiftet sein. Die Kriegspropaganda wirkte noch immer. Der Kaugummi wurde sicherheitshalber entsorgt. Allmählich entspannte sich die Situation und alle Hausbewohner kehrten in ihre Zimmer zurück. Ein Offizier teilte die Räume neu auf. Die Hälfte des Hauses galt als beschlagnahmt für die US-Armee. Uns verblieb allein das Schlafzimmer. Das Wohnzimmer mit dem Klavier war ab sofort ein konfiszierter Sperrbezirk. Des Weiteren mussten alle Waffen auf schnellstem Wege abgeliefert werden. Der Bauer hatte herrliche Jagdgewehre mit ziselierten Läufen aus Suhler Produktion. Achtlos wurden sie über die Knie gebrochen und auf den Mist geworfen. Nachträglich wird sich sicherlich der eine oder andere der Offiziere geärgert haben, sie nicht als Souvenir mit nach Hause genommen zu haben.
Wenn die Militärjeeps vorfuhren, umrundeten sie erst den zentralen Misthaufen und hielten dann vor der Haustür. Die Fahrer waren meist Schwarze. Einer von ihnen saß sehr lässig hinterm Steuer und zündete sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette an. Das Feuerzeug hielt er etwa dreißig Zentimeter unter die Zigarette und plötzlich stieg eine gewaltige Flamme auf. Ich war fasziniert und hochgradig beeindruckt.
Nach zwei Tagen wurde das zentrale Lebensmittel-Notlager für die Bevölkerung freigegeben. Alle liefen hin, auch unsere Mutsch. Sie kam aber mit leeren Händen zurück. Einen großen Sack Zucker hatte sie ergattert, als sie aber um die Ecke bog, stand ein Schwarzer mit herausforderndem Grinsen vor ihr. Den Sack fallen lassen und nichts wie weg, das wars dann.
Hinter unserem Hofgrundstück erhob sich ein kleiner Hügel, der Rübenberg, dort stand ein Geschütz und feuerte in Richtung Magdeburg. Mein Bruder und ich hielten uns gerade in der Scheune auf, als ein heftiger Donnerschlag die Luft erschütterte und ein Regen aus handgroßen Splittern von Dachziegeln unversehens auf uns niederprasselte. Wie durch ein Wunder blieb ich unverletzt. Mein Brüderchen aber wurde getroffen, blutete aus einer großen Kopfwunde, war aber bei Bewusstsein. Mit angepresstem Taschentuch lief er über den Hof zum Wohnhaus und einem amerikanischen Militärarzt direkt in die Arme. Der nahm ihn sofort zur Seite, schnitt die Wunde frei und stillte sie mit einem darüber gestreuten Pulver. Unsere Mutter verband den Kopf und das Malheur war bald vergessen. Dem lieben Siegfried sind merkwürdigerweise derartige Missgeschicke noch mehrmals passiert. Diese gottgegebenen Kopfnüsse haben ganz gewiss zu seinen späteren außerordentlichen Schulleistungen beigetragen.
Nach etwa zwei Monaten kam die Order: alle Umgesiedelten wieder zurück zum ursprünglichen Wohnort. Wer seine Wohnung durch die Bombardierung verloren hatte, erhielt eine neue Zuweisung. Die unsere hieß Barbarastraße im ehemaligen Kruppviertel. Ein geräumiges Einfamilienhaus, das nun für drei Parteien Raum bieten musste. Mein Vater war wieder bei Krupp beschäftigt, anfänglich mit Instandsetzungsarbeiten, und stand der Familie nun wieder leiblich zur Verfügung. Viel gab es nicht mehr zu transportieren. Immerhin blieben uns neben einer ausreichenden Kleidung die Betten, Tisch und Stühle und das Klavier. Vom Porzellan und den Bestecken war uns, während wir im Schutzraum ausharrten, die Hälfte gestohlen worden.
Wieder zurück in Magdeburg
Die Schule hatte noch immer nicht wieder begonnen. Die ganztägige Freizeit währte allerdings nicht lange. In die Barbarastraße zog auch ein Lehrer ein, der alle schulpflichtigen Kinder der unmittelbaren Umgebung zum Privatunterricht einlud. Meine Eltern stimmten sofort zu. Bezahlt wurde mit Naturalien. Im Winter musste jeder Schüler zusätzlich ein Stück Kohle mitbringen. Wir waren zu sechst und saßen zusammen mit dem Lehrer um einen runden Esstisch herum. Der Name des Lehrers und die Anzahl der täglichen Unterrichtsstunden sind mir entfallen. Als dann die offizielle Schule wieder begann, wurden die meisten meiner ehemaligen Mitschüler ein Jahr zurückgestuft, während wir Privatklässler nahtlos an unsere letzte Unterrichtsstunde anschlossen. Ohne dass es mir bewusst wurde, war mein frühzeitiger Start von Bad Köstritz gerettet. Möglicherweise doch ein Primzahlprivileg.
Es blieb noch immer genügend Zeit, um sich einer Jugendbande anzuschließen und mitzuwirken. An der Straße stand ein zweigeschossiger Rohbau, ein während des Krieges angefangenes Wohnhaus. Das war unser Hauptquartier. Die Decke im Obergeschoss bestand nur aus Holzbalken im Abstand von etwa einem halben Meter. Absolut trittsicher liefen wir im Laufschritt darüber hinweg. Durch die Brandwand zum Nachbarteil brachen wir eine kleine Öffnung, durch die gerade ein Kinderkörper hindurch passte. Eine erwachsensperrige Fluchtburg. Der vorbeiführende Fußweg wurde mit Stolperdrähten abgeschirmt. Als eines Tages eine ältere Dame über einen der Drähte fiel und sich sehr schmerzhaft die Knie aufschlug, plagte uns das schlechte Gewissen. Mit einem Akkordeon sind wir zu ihrem Haus gezogen, haben uns entschuldigt und ein Lied gesungen. Das hat uns viele Sympathien eingebracht, was sich später auszahlen sollte.
Ganz in der Nähe, an der Grenzmauer des Sudenburger Krankenhauses (heute Medizinische Akademie, Gustav-Ricker-Krankenhaus) fuhr auf offener Straße eine Eisenbahn. Sie verband die Zuckerraffinerie mit dem Krupp-Gruson-Werk. Auf der Rückfahrt blieben die Tore der Güterwagen zur Entlüftung geöffnet. Wir stellten uns rücklings an die Mauer und enterten bei meistens langsamer Fahrt mit einem Hechtsprung einen Waggon. In den Ecken lagen immer große Haufen Zucker, vermutlich von geplatzten Papiersäcken.
Mütze runter und mit Zucker gefüllt. Unsere Mutter hatte so immer etwas zum Handeln auf dem Schwarzmarkt.
Eines Tages geschah das Unfassbare. Ein Bautrupp rückte an,um das Haus zu vollenden, und richtete eine Baustelle ein. Als der Polier auf dem Plumpshäuschen saß, schlichen wir uns von hinten an und kippten das Häuschen nach vorn um auf die Tür. „Laut ertönt sein Wehgeschrei, denn er fühlt sich schuldenfrei“ (Wilhelm Busch).
Ein Anwohner gegenüber der Baustelle stand im Verdacht, uns zu beobachten und auch zu verpfeifen. Nach Feierabend kaperten wir den einachsigen Plattenwagen mit langer Deichsel, richteten ihn zum Gegner aus und beluden die Deichselspitze mit einem Ziegelstein. Drei Freunde, die auf dem Wagen standen, schritten dann zugleich nach vorn zur Kante und ließen sie unten aufschlagen. Der Schwung katapultierte den Stein etwa dreißig Meter durch die Luft zielgenau in Nachbars Garten. Ich weiß nicht mehr, wie viele Steine wir ihm beschert haben. Gottlob, unsere Strafaktion verlief glimpflich ohne Personenschaden. So ging es noch einige Zeit weiter, bis eines Tages die Polizei auch bei uns vor der Tür stand. Entweder die gemeinen Umtriebe würden sofort aufhören oder man überlege die Einweisung in eine Erziehungsanstalt. Die Konsequenz war erklärtermaßen ein gehöriges elterliches Donnerwetter mit der tatsächlichen Folge einer anhaltenden Besserung.
Unsere Räuberburg war also verloren und neue politische Meldungen ließen bei den Erwachsenen wieder sorgenvolle Existenzängste aufkommen, die ohne Frage auch uns Kinder erreichten. Die Schreckensmeldung lautete, dass der Ami unsere Stadt (und weite Teile Mitteldeutschlands) gegen einen Teil Berlins eingetauscht hätte und wir in Kürze von sowjetischen Truppen besetzt würden. Eine ganze Nacht saßen Freunde und Bekannte unserer Eltern zusammen und sinnierten über die kurzfristigen Folgen, unser aller Zukunft und darüber, ob es einen möglichen Ausweg gäbe. Ein Teilnehmer verkündete, dass die vereinbarte Neuordnung den Amerikanern zwar jede Art von Bevölkerungsaustausch untersagt hätte, sie aber heute Nacht in jede Straße einen leeren Lkw abstellen würden. In den Morgenstunden käme dann ein Fahrer, der sich, ohne den Laderaum zu überprüfen, ans Steuer setzen und losfahren würde. Ja, aber wohin? Dem Ami war doch auch nicht zu trauen. Meine Eltern entschieden sich zu bleiben. Andere dagegen setzten sich mit allem, was sie tragen konnten, auf den Lkw und ließen sich in eine ungewisse Zukunft fahren.
Magdeburg wird sowjetische Besatzungszone
Den Wechsel der Besatzungsmacht nahmen wir anfangs nur am Rande wahr, wenn auf breiteren Durchgangsstraßen hin und wieder Militärfahrzeuge zu sehen waren. Meinen Vater bekamen wir Kinder immer seltener zu sehen. Offenbar zog er sich sukzessive zurück. Die Hauptlast, die Familie zu versorgen, lag schon in dieser schweren Zeit bei unserer tapferen Mutter. Sie muss es vortrefflich gemeistert haben, denn wir Kinder spürten wenig von der seinerzeitigen Not.
Nach einigen Wochen begann dann auch wieder der Schulbetrieb. Das Schulgebäude war beinahe unversehrt geblieben, ein prächtiger Bau aus der Gründerzeit, etwa zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Der Haupteingang zur Straße blieb geschlossen, so mussten alle Schüler, die aus meiner Richtung kamen, um das gesamte Gebäude herumgehen und den Eingang vom Pausenhof benutzen. Eine Herausforderung für kreative Geister. Ein etwa zwei Meter hoher Metallzaun mit aufrechten Spitzen auf einem halbhohen Mauersockel begrenzte den Schulhof. Mit Umsicht und etwas Übung war er kein wirkliches Hindernis und die Abkürzung wurde zum Normalfall. Allerdings nur kurzzeitig, denn der Herr Rektor verkündete ein strenges Verbot.
Ein renitenter Rest nahm, schon aus sportlichen Gründen, dennoch den kürzeren Nachhauseweg, zumindest gelegentlich. Jedoch einmal zu viel. Am Ende einer Unterrichtsstunde verlas unsere Lehrerin, übrigens sehr jung und schön, sieben Namen mit der Aufforderung, sie doch bitte zum Herrn Schulleiter zu begleiten. Aufgereiht standen wir nun zwei Meter vor dem Schreibtisch des Herrn Rektors und erwarteten die übliche Standpauke. Nichts geschah. Der Herr Rektor schaute kaum auf und erledigte, provozierend konzentriert, seine schriftlichen Arbeiten. Nach gefühlten fünf Minuten stand er plötzlich auf, schaute uns strafend an, wiederholte sein Verbot und beklagte unsere Missachtung. Angefangen von links bekam jeder der Reihe nach eine kräftige Backpfeife. Der Letzte fand das komisch, konnte sich das Grinsen nicht verkneifen und bekam auf die andere Seite gleich noch eine. Das wars, ab zurück in unsere Klasse.
Der Sportunterricht war sehr eingeschränkt. Keine Leichtathletik, kein Fuß- oder Handball, kein Geräteturnen, kein Schwimmunterricht. Alles war angeblich verboten. Nur Völkerball als einzige Ausnahme war gestattet. Der Lehrer durfte nicht „Antreten“ sagen oder ähnliche militärische Kommandos gebrauchen. Wir nahmen diesen Übereifer einfach hin und amüsierten uns anderweitig auf unsere Art.
Während einer großen Pause erwartete uns eines Tages eine große Gaudi. Zwei sowjetische Soldaten, von denen jeder irgendwo ein Fahrrad konfisziert und als volkseigen bewertet hatte, versuchten nun, vor unser aller Augen das Gleichgewicht zu halten. Wir haben uns köstlich amüsiert. Diese Szene kam mir immer wieder in einem späteren Gegenwartskunde-Unterricht in den Sinn, wenn wieder von der überragenden technischen Leistung des sowjetischen Systems die Rede war und behauptet wurde, dass die bedeutendsten Erfindungen russischen Ursprungs wären, sicherlich auch die des Fahrrads.
Eines Tages brach eine unerwartete Heimsuchung über uns herein. Deutsche Kommunisten und solche, die sich dafür ausgaben, sahen in der Roten Armee eine Schutzmacht, die sie zu den neuen Herren des Landes machten bis hin zu gesetzloser Machtvollkommenheit und der angemaßten Befugnis zur eigenen Bereicherung. Dazu beanspruchten sie das moralische Recht, ehemalige Erfüllungsgehilfen nach Gutdünken als solche zu bewerten und zum eigenen Vorteil zu enteignen. Unser Vater galt offensichtlich als belastet. Eines Tages hielt ein kleiner Lastwagen vor unserem Haus und zwei Männer inspizierten unsere Wohnung. Verschiedene tragbare Gegenstände nahmen sie einfach mit und drohten meiner verzweifelten Mutter mit ihrem nochmaligen Erscheinen und der Mitnahme einiger Möbel. In ihrer hilflosen Situation fand sie jedoch Beistand bei einsichtigen Menschen mit verbliebenem oder neuem Einfluss. Sie rieten, den Übeltätern nicht die Tür zu öffnen, denn diese hätten keinerlei rechtliche Befugnis für ihre Diebestouren. Polizeiliche Hilfe gäbe es allerdings auch nicht.
Auf dem Heimweg nach der Schule lief ich einige Zeit neben einem von zwei Pferden gezogenen Möbelwagen her. Plötzlich hatte ich die Eingebung, die könnten womöglich zu uns kommen, um Möbel zu holen. An der nächsten Straßenecke bogen sie tatsächlich in Richtung unseres Hauses ab. Wenige Minuten später hielten sie vor unserer Tür. Mir war sofort klar, dass ich nicht zu uns ins Haus gehen durfte. Ich ging einfach weiter bis zum Nachbarhaus und klingelte dort, wurde eingelassen und beschrieb meine Befürchtungen. Sofort erhielt ich Unterstützung und Gastrecht. Die Hausbesitzerin war übrigens die Dame, die über unsere Spanndrähte gestolpert war. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie hinter der Gardine gestanden und bangen Herzens mich zusammen mit dem Möbelwagen hatte kommen sehen. Sie hätte Blut und Wasser geschwitzt. Natürlich war ich stolz auf meine Weitsicht.
Eines Tages wurde der Vater eines meiner Freunde von den Russen abgeholt. Er war Maschinenbau-Ingenieur, schon des Längeren bei Krupp beschäftigt und spezialisiert auf Mühlenbau. Der Grund blieb unbekannt. Als glaubensstarke Katholiken betete die Familie täglich mehrmals für ihren Mann und Vater. Nach zwei Tagen kam er tatsächlich wieder heim, und einen Tag später war das Haus verlassen. Die Familie war nach Westberlin geflohen.
Mit der Zeit normalisierten sich die Verhältnisse auf ein bescheidenes Nachkriegsniveau. Mein Vater avancierte zu einer Leitfigur für den Wiederaufbau der Industrie und wechselte zum Stahl- und Walzwerk Riesa, ehemals Thyssen.
Unser Wechsel nach Riesa
Wieder ein Umzug, wieder ein Schulwechsel. In Riesa-Gröba bezogen wir im Jahr 1949 anfangs eine Werkswohnung, etwas später eine kleinere Etagenwohnung in einem Zweifamilienhaus ganz in der Nähe. Nach sechs Jahren wurden dann meine Eltern nach jahrelangem Getrenntsein geschieden. Mein Vater wechselte in der Zwischenzeit nochmals zum Stahlwerk Freital bei Dresden, um dann nach der Scheidung die DDR zu verlassen und in Hürth bei Köln unterzutauchen.
Der Schulbetrieb in Gröba unterschied sich essenziell von dem in Magdeburg. Hier gab es normalen Sportunterricht, sogar Sportfeste mit Siegerehrungen. Jede Klasse verfügte über eine Fußballmannschaft, die gegeneinander antraten. Es gab eine Turnhalle. Der Unterricht war interessant. Ich war hoch motiviert. Am Ende war ich Schulrekordhalter im Weitsprung und beendete 1951 die Grundschule Gröba „mit Auszeichnung“. Ein Jahr zuvor war ich in den Sportverein „Fortschritt Riesa“, Abteilung Fußball eingetreten und wechselte später in die A-Jugend zu „Chemie Riesa“.
Vorausgegangen war bei annehmbarem Wetter ein beinahe tägliches Treffen einer Jugendclique auf dem Sportplatz der Radrennbahn – kurz „Ratsche“ genannt. Harald war der Älteste, arbeitete bereits im Stahlwerk, verdiente Geld und konnte uns einen Fußball spendieren. Dafür war er Ehrenmitglied. Ernstl wohnte in der Nähe und konnte aus dem Dachfenster die Ratsche überblicken.
Sobald sich dort etwas regte, war Ernstl zur Stelle. Er zählt noch heute zu meinem Freundeskreis und wohnt noch immer ganz in der Nähe, sodass wir uns regelmäßig besuchen können. Auch er zählte neben zwei weiteren Freunden zum Kern unserer Jugendmannschaft in Riesa.
Meine Mutter hatte in der nahen Umgebung in einem Kolonialwarengeschäft als Verkäuferin eine Arbeitsstelle gefunden. Sie legte großen Wert darauf, nahe bei unserer Wohnung arbeiten zu können, um die Mittagszeit zu nutzen, uns beiden Kindern immer nach der Schule ein Essen bereiten zu können und stets für uns bei Bedarf erreichbar zu sein. Sie selbst war gleichermaßen eingebunden in einen Freundeskreis, der ihr sicher in vielen belastenden Situationen Halt gab.
Nach der Grundschule besuchte ich von 1951 bis 1955 die Max-Planck-Oberschule Riesa. Der einfache Schulweg nahm etwa eine dreiviertel Stunde in Anspruch. Bei ganz und gar miserablem Wetter erhielt ich von meiner Mutter für die Hin- und Rückfahrt mit dem Bus dreißig Pfennige. Viele Male habe ich mir dann doch ein Herz genommen, bin gelaufen und habe dreißig Pfennig in meine Sparbüchse getan. Da ich wegen der beruflichen Stellung meines Vaters nicht zu den Arbeiter- und Bauernkindern zählte, musste meine Mutter ein monatliches Schulgeld bezahlen. Als vier Jahre später mein Bruder zur Max-Planck-Oberschule nachrückte, galt er zu unserem Erstaunen als Arbeiter- und Bauernkind. Ein Entscheider hatte offensichtlich ein Einsehen und Mitgefühl.
Täglich sah ich, wie meine tapfere Mutter sich abmühte, um die Familie über die Runden zu bekommen und dazu das Schulgeld aufzubringen. Als ich ihr eines Abends vorschlug, von der Schule zu gehen und im Stahlwerk eine Arbeit annehmen zu wollen, war sie strikt dagegen. „Und wenn ich Tag und Nacht arbeiten müsste, meine Jungs bekommen die beste Ausbildung, die erreicht werden kann.“ Ihr Heldenmut war ungebrochen. Ohne diese starke Mutter hätten mein Bruder und ich unsere Lebensziele wohl nicht verwirklichen können. In den Sommerferien habe ich für einige Wochen im Reifenwerk eine Arbeit angenommen und konnte auf diese Weise etwas zum Familienbudget beitragen. Die Arbeitseinsätze waren sehr abwechslungsreich vom Besenschwinger der Hofkolonne über Beifahrer im Lastwagen (ohne Führerschein), Formenreiniger in der Reifenfertigung bis hin zum Hilfsarbeiter bei der Fahrstuhlmontage. Bei letzterem Einsatz habe ich zwei sehr bedrohliche Arbeitsunfälle mit glücklichem Ausgang überstanden. Hier hatte ich in der Tat einen behütenden Schutzengel.
Der erste Winter meiner Oberschulzeit war sehr kalt. Von einem Bekannten konnte ich ein Paar passende Wehrmachtsstiefel, sogenannte Knobelbecher, ergattern und erschien damit täglich in der Schule. Kein Lehrer, noch nicht einmal der Rektor, nahm daran Anstoß. Jeder musste damals eben sehen, wie er zurechtkam.
Einige der Lehrer waren Kriegsteilnehmer und durch intensive Kurzlehrgänge umgeschult worden. Der Mathelehrer war Artillerieoffizier, der Chemielehrer hatte im Lazarett gesunden können, und der Deutschlehrer war ein beinversehrter Jagdflieger, der mit Krücken umherlief. Die Biologielehrerin war zuvor bis zur Vergesellschaftung Chefsekretärin bei Thyssen im Stahlwerk. Aber ausnahmslos alle beherrschten ihr Fach und konnten es uns auch erfolgreich vermitteln. Hin und wieder durchwehte ein spürbarer Hauch entlehnter einstiger Ordnung unsere Klassenräume. Durchaus zu unserem Vorteil.
Unseren Deutschlehrer hatten wir besonders ins Herz geschlossen, obwohl es im Unterricht streng und zackig zuging. Ab dem elften Schuljahr waren wir eine reine Jungsklasse von neunzehn Schülern. Ein Schwätzer erhielt die Ermahnung: „Kerl, wenn du weiter schwatzt, schlag ich dir die Krücke auf den Schädel, dass du Plattfüße bekommst“. Oder ein Schüler, der vergessen hatte, ein Gedicht auswendig zu lernen, und eine Ausrede zusammen stotterte: „Setz dich, Dussel. Aber den Nächsten lass ich stehen, und wenn ihm der Schweiß den Arsch runterrinnt“. Wenn er das Klassenzimmer betrat, war manchmal zu hören: „Kerle, reißt die Fenster auf, ein Weibermief ist das hier.“ Wir haben uns köstlich amüsiert. Verehrt haben wir ihn vor allem, weil er in kritischen Situationen, die es auch gab, stets auf unserer Seite stand und uns beigestanden hat. Unsere Biologielehrerin rief einmal verzweifelt: „Ihr seid sehr intelligent, aber schrecklich doof.“ Gemeint hatte sie wohl unsere noch unterentwickelte Allgemeinbildung.
Auch in Riesa gab es eine Jugendclique, sogar mit einem Hauptquartier, ein kleines Wäldchen am Ufer der Elbe. Bis Anfang der Fünfzigerjahre war das Wasser sauber genug, um hinüber ans andere Ufer zu schwimmen. Danach verschmutzte die Elbe zusehends. Vorbeitreibende Lastkähne wurden von uns mit einer Steinschleuder traktiert. Wir zielten auf die Bullaugen, getroffen haben wir allerdings nie eine. Die Schiffer tobten und brüllten herüber. Eines Tages kam wieder ein Kahn vorbeigetrieben, aber der Schiffer blieb ruhig vor seinem Steuerhaus stehen. Das hätte uns misstrauisch machen müssen.
In dem Moment griff von hinten eine uniformierte Hand zu meiner Schleuder und die Polizei hatte uns am Haken. Auf der Wache erhielten wir eine einschüchternde Standpauke mit der Drohung, im Wiederholungsfall erfolge eine Meldung an die Oberschule. Das war in der Tat für mich bedrohlich. Alles durfte passieren, aber die Oberschule musste ungefährdet bleiben. So wie mir immer motivierend klar war, dass ich meine Mutter nicht enttäuschen durfte. Ich musste nicht unbedingt zur Leistungsspitze gehören, zur oberen Hälfte aber immer.
Einige Jahre später, als ich schon studierte, aber noch regelmäßig meine Mutter besuchte, hörte ich von einer längeren politischen Gefängnisstrafe für unseren ehemaligen Deutschlehrer. Man hätte angeblich belastende Literatur bei ihm gefunden. Inzwischen war er wieder frei, aber ohne Anstellung. Dennoch blieb er in Riesa, und wenn ich ihm zufällig auf der Straße begegnete, ließ ich es mir nicht nehmen, ihn freundlich zu grüßen. Augenscheinlich hat ihn das sehr berührt.
Es gab sportliche Wettkämpfe mit anderen Oberschulen. Je nach Qualifikation mussten wir auch schon mal etwas weiter reisen und in Jugendherbergen übernachten. Durch den Vereinssport war ich durchtrainiert und gehörte in mehreren Sportarten der Schulauswahl an. Für bemerkenswert halte ich die kluge Einrichtung im Sportverein, die uns beim Wechsel von der B- in die A-Jugend in Absprache mit der Ruderabteilung am dortigen Trainingsprogramm über sechs Monate teilnehmen ließ, auf der Elbe jeweils im Vierer mit Steuermann. Fußball war eben doch etwas einseitig, und die jungen Burschen sollten auch ihren Oberkörper ertüchtigen.
Als ich am Mittwoch, dem 17. Juni 1953, nach Unterrichtsschluss auf dem Heimweg war und am Werkstor des Stahl- und Walzwerks vorbeikam, sah ich schon von Weitem russische Panzer auf der Straße stehen. Je näher ich dem Werkstor kam, desto gedrängter standen die Panzer. Zivile Menschen waren nicht zu sehen. Wie man mir später berichtete, hatten die Arbeiter die Arbeit niedergelegt und waren im Werksgelände von den Panzern eingeschlossen. Zum Glück kannte ich einen unauffälligen Seitenweg, der an der Elbe entlang durch unser kleines Wäldchen führte. So konnte ich die brenzlige Situation umgehen. Bis zu unserem Zuhause bin ich dann keinem einzigen Menschen mehr begegnet. Zwei Männer aus unserem Bekanntenkreis wurden verhaftet und verurteilt. Offizieller Vorwurf: Spionage für den Klassenfeind. Im nachfolgenden Unterricht ist dieses Thema niemals erschöpfend behandelt worden. Man war sichtlich bemüht, Normalität zu simulieren.
In den Ferien besuchte ich meinen Opa in Roßlau, den Fleischermeister. Selbstverständlich musste ich mich nützlich machen.
Das Schlachtvieh kam lebend mit Güterwaggons am Bahnhof an. Ohne Transportmöglichkeiten blieb nichts anderes übrig, als jedes Tier einzeln durch die Straßen vom Bahnhof bis zum Schlachthaus zu führen. Autos kamen selten vorbei. Opa führte meistens die Bullen, deren Augen stets verbunden waren, am Nasenring. Die Gesellen übernahmen die äußerst lebhaften Färsen, die Frauen die gemächlich trabenden Milchkühe und ich eines der Schweine. Allerdings kam ich nie weit mit einem Schwein. Es war das Laufen nicht gewöhnt, legte sich nach kurzer Wegstrecke auf die Erde, meistens in den Rinnstein, und streikte. Wache halten war nun meine Aufgabe, bis endlich, nach gefühlt langer Zeit, die Gesellen mit einem zweirädrigen Plattenwagen kamen und das Borstentier aufluden. Ärgerlich waren die zum Teil geistlosen Kommentare einiger Neunmalschlauer, die laut vortrugen, mit welchen einfachen Methoden ein Schwein wieder zum Laufen zu bringen sei.