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Gemessen an der normalen Anzahl der Zuteilung von Schlachtvieh, bekam mein Opa einige Sonderlieferungen. Ihm oblag die Verpflichtung, die dortige Kaserne der Roten Armee mit entsprechend kontingentierten Fleischwaren zu versorgen. Abgeholt wurde die Ware von zwei gut Deutsch sprechenden Offizieren. Schon nach kurzer Zeit hatte mein Opa es geschafft, ein anhaltendes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die Offiziere parkten bei ihm in der Garage ein sicherlich irgendwo beschlagnahmtes Motorrad mit ausreichenden Benzinreserven, um an Wochenenden heimliche Spritztouren zu unternehmen. Wenn Fleischwaren abzuholen waren, zog man sich ins Kontor zurück und besprach die Lieferliste mit einigen Gläschen Wodka. Sobald sich die Möglichkeit bot, hatte ich mich mit ins Kontor geschlichen und setzte mich in eine hintere Ecke. Niemand nahm von mir Notiz. So hörte ich eines Tages, wie die Zwei von stalinistischen Zwangslagern erzählten. Am Ende seines Berichtes hielt einer der beiden die gespreizten Finger beider Hände über Kreuz vor sein Gesicht, um anzudeuten, was zu erwarten wäre, wenn seine Schilderung bekannt würde. Soweit meine frühen Einblicke in die politische Realität.
Etwa zwanzig Minuten Fußweg trennten mich vom Ufer der Elbe. Während des Krieges war dort in Ufernähe ein Frachtschiff, voll beladen mit Briketts, untergegangen. Es lag etwa zwei Meter unter Wasser. Eine Einladung für meine Freunde und mich, nach der Kohle zu tauchen und so manchen Handwagen voll davon zu Hause abzuliefern.
Direkt vor der Fleischerei endete die Straßenbahn, die Dessau und Roßlau verband – ein Triebwagen und ein, hin und wieder auch zwei Anhänger. Die Schienen waren niveaugleich in das Straßenpflaster eingelassen und endeten abrupt ohne jede Sperre. Die Straße sollte ja schließlich auch für Pferdewagen und Autos in voller Breite genutzt werden können. An dieser Endhaltestelle musste nun der Triebwagen die Richtungsposition ändern, an den Anhängern vorbei wieder an die Spitze Richtung Dessau fahren. Dafür waren zwei Weichen und ein kurzes paralleles Gleisstück eingerichtet. Gar nicht so selten kam es vor, dass der Triebwagenführer zu weit ausholte und mit den vorderen Rädern auf das Straßenpflaster geriet und festsaß. Der Schaffner ging dann zur nahe gelegenen Gaststätte, kam auch in unseren Fleischerladen und bat alle dienstbereiten Männer um Hilfe. Mit lauten Rufen und Kommandos gelang es stets, die Straßenbahn wieder einsatzbereit zurückzuschieben. Ein immer wieder unterhaltsames Schauspiel für zahlreiche Zuschauer.
Die Schlachtabfälle lagerten einige Tage im Hof bis zur Entsorgung. Das zog natürlich Ratten an. Scherry, unser Hofhund, ein Terrier, besorgte die Abwehr. Leider hatte er auch einen großen Freiheitsdrang und benutzte jede Gelegenheit, bei offenem Hoftor auszubüxen. Klar, dass Opa mich auf die Suche schickte. So lernte ich viele Straßen, Gassen und Plätze kennen. Wenn ich ihn fand, kam er ganz vertraulich angewedelt und ließ sich widerstandslos an die Leine nehmen. Meistens fand ich ihn im Schlossgarten und so hatte ich wenig Mühe, seinem Fluchtweg zu folgen.
Die Ferien gingen zu Ende. Die Abiturprüfungen nahten heran. Die zu erwartenden schriftlichen Prüfungsaufgaben, wurden von einer Zentralstelle formuliert. Die mündlichen Fragen ergaben sich aus dem Lehrplan. In jedem Fach umriss in den letzten Wochen der Lehrer jeweils das gesamte Spektrum der erforderlichen Kenntnisse, die jeder Schüler für ein Bestehen „drauf haben“ musste. Unser Primus ersann eine ungewöhnliche Vorbereitungsmethode. Für jedes Prüfungsfach wurde eine „Expertengruppe“ gebildet mit der Aufgabe, sachbezogene Gliederungstitel zu formulieren und eine erschöpfende Abhandlung zu Papier zu bringen. Jeder hatte am Ende einen umfassenden Ordner mit ausreichendem Prüfungswissen, beste Vorbereitungschancen und keiner fiel durch. Anlässlich späterer Klassentreffen war diese Strategie immer wieder ein mit vielen Episoden drapierter Gesprächsstoff.
Wenige Wochen vor dem Abitur wurde ohne Ankündigung jeder Schüler, somit auch ich, ins Zimmer des Rektors bestellt. Vier Herren saßen um einen Tisch herum und boten mir dort einen Sitzplatz an. Ich sei doch wohl auch, wie sie, für den Frieden, den es aber zu sichern gelte. So wäre der Eintritt in die Nationale Volksarmee doch eine große Chance für jeden jungen Mann, dem der Frieden am Herzen läge.
„Was hast du denn für Berufsvorstellungen?“
„Ich möchte gern Bauingenieurwesen studieren.“
„Sehr gut, aber völlig überlaufen, wohl aussichtslos“.
Leider war ich so unvorsichtig, Interesse an Flugzeugen zu zeigen, und in der Folge hatte ich schweißtreibende Mühe, mich aus dieser Klammer wieder herauszuwinden.
Entgegen dieser Angstmache wurde ich ohne Probleme als Student des Bauingenieurwesens zum Herbstsemester 1955 an der Technischen Hochschule Dresden immatrikuliert. Noch war ich erst siebzehn Jahre alt. Hans, ein Klassenkamerad, wählte das gleiche Studium, ebenfalls in Dresden. Auch er wurde angenommen. Noch immer bin ich mit ihm freundschaftlich verbunden. Mit seiner Familie wohnt er heute gleichfalls in unserer Nähe und wir sehen uns regelmäßig.
Vor Studienbeginn konnte ich noch einige Wochen im Riesaer Reifenwerk arbeiten und etwas zum Familienetat beisteuern. Ab Studienbeginn erhielt ich ein Stipendium, etwas gekürzt, da ich nach wie vor kein Arbeiter-und Bauernkind war. Meine erste Unterkunft in Dresden war ein Zimmer im Studentenwohnheim, zusammen mit weiteren fünf Kommilitonen untergebracht in drei Doppelstockbetten. Einer von ihnen war Hans, mein heutiger Freund und ehemaliger Klassenkamerad.
Der lange Schatten und der 50. Breitengrad
Prägend waren für mich zwei besondere Erlebnisse während der Oberschulzeit.
Anfang März 1953 verstarb der gefürchtete wie untertänig verehrte Übervater Josef Stalin. Wir waren inzwischen in die elfte Klasse aufgestiegen. Der Jahrgang vor uns bereitete sich auf das Abitur vor.
Etwa Mitte März wurden alle Schülerinnen und Schüler wieder einmal in die Aula zu einer klassenübergreifenden Zusammenkunft gebeten. Das Lehrerkollegium versammelte sich wie gewöhnlich vorn links. Mit meinen Klassenkameraden hatte ich einen Platz in der Mitte des Saales. Die Abiturklassen saßen weiter vorn. Das Hauptthema und das Nachspiel haben sich mir unvergessen eingebrannt. Der Rektor betrauerte noch einmal pflichtgemäß den unermesslichen Verlust für die gesamte Menschheit und setzte uns unversehens in Kenntnis über das schändliche Treiben der Riesaer Jungen Gemeinde.
Sie sei eine Brutstätte antisozialistischer, konterrevolutionärer Umtriebe, ihre Aktivisten seien Volksschädlinge, scheinheilig getarnt hinter christlichen Wertvorstellungen, einfach Abschaum. Das Allerschlimmste aber sei, dass einige Schüler unserer Oberschule dort mitwirkten.
Als schlagenden Beweis könne er den von ihm selbst besichtigten Schaukasten der Jungen Gemeinde anführen. Zum Tod des allseits schmerzlich betrauerten Generalissimus hätte die Junge Gemeinde ein Bild von ihm auf rotem Hintergrund ausgehängt. Mit dem Rot der Arbeiterklasse wolle sie nur täuschen und ihre versteckte Freude über Stalins Tod signalisieren, denn die Farbe wirklicher Trauer sei Schwarz. Eine unerhörte Provokation. Des Rektors Gesicht war inzwischen rot angelaufen, nicht schwarz. Beklemmende Stille trat ein. Die Luft im Saal lastete schwer auf der Schülerschaft.
Ein Arm ging in die Höhe und ein Schüler aus einer der Abiturklassen erhob sich. Mit ruhiger Stimme bekannte er sich als Mitglied der Riesaer Jungen Gemeinde. Ich sah ihn nur von hinten, meine aber, mich an einen eher schmächtigen rotblonden Burschen zu erinnern. Er verwahrte sich gegen die ungeheuerlichen Anschuldigungen. Nichts würde stimmen. Die Riesaer Junge Gemeinde sei eine Jugendgruppe der evangelischen Kirche mit dem alleinigen Ziel einer gemeinschaftlichen christlichen Betätigung. Sie seien Teil der Kirchengemeinde. Politische Arbeit oder gar oppositionelle Öffentlichkeitssuche fände nicht statt.
Er konnte tatsächlich ausreden. Allem Anschein nach hatte niemand mit einer derartigen Widerrede gerechnet. Dieses mutige Bekenntnis empfand ich als tollkühn und es fuhr mir in alle Glieder. Ich war starr vor Ehrfurcht und Bewunderung, aber gleichzeitig auch mit bestürzender Ahnung. Musste nicht mit einem sofortigen Schulverweis gerechnet werden? Abitur ade, Lebensplanung dahin, Zukunft verdorben. Später erfuhr ich, dass er tatsächlich unsere Schule verlassen hatte oder musste, jedoch in Westberlin Aufnahme fand und gewiss sein Abitur nachholen konnte. Ich war erleichtert. Dieser unerschrockene Bekennermut, diese charakterstarke Zivilcourage haben mich zutiefst beeindruckt und durchdringen mich bis zum heutigen Tage.
Wie ich noch berichten werde, gab es auch in meinem weiteren Leben Zeiten, an denen ich das Herz in beide Hände nehmen, Angst überwinden, mich erkühnen und neuen Mut schöpfen musste. Die Erinnerung an diese Lehrstunde hat mir in kritischen Momenten sehr geholfen. Es war eine wegweisende Lebenserfahrung. Ein prägendes Ereignis mit langem Schatten.
Wieder eine weitere Zusammenkunft in der Aula. Ein westdeutscher Friedenskämpfer aus Mainz hatte sich angesagt und wollte von seiner löblichen Tätigkeit berichten. Der Vortag war eine läppische Aneinanderreihung von alltäglichen Delikten, natürlich im Sinne der Friedenssicherung, und davon, wie man in überlegener Weise die Polizei zum Narren halten konnte. Am Ende durften Fragen gestellt werden. Unser schon etwas älterer Lateinlehrer bat um Auskunft, da er seit dem Krieg nicht mehr in seiner Studentenstadt Mainz war, ob denn der 50. Breitengrad noch immer unversehrt geblieben und für jeden Besucher sichtbar sei. Die Reaktion war ein verlegenes Gestammel, ein hilfesuchendes Herumgerede. Jedem intelligenten Menschen im Saal war klar, dass es sich um einen auf Tour geschickten Schwindler handelt. Jedes Mainzer Schulkind kennt das in der Innenstadt in das Straßenpflaster sichtbar eingelassene Metallband als Markierung des 50. Breitengrades nördlicher Breite. Noch heute haben es die politischen Propagandisten und die Missionare der Indoktrination schwer mit mir.
Studium an der TH Dresden
Angefangen habe ich mit einer Vier in darstellender Geometrie, aber das Studium beendet mit einem „Sehr gut“ in der Diplomarbeit. Die größte Hürde war für mich Russisch. Bei der ersten Prüfung durchgefallen und die zweite mit Ach und Krach bestanden. Ich bin einfach nicht sprachbegabt. Die Ingenieurfächer mit mathematischen, physikalischen, mechanischen und konstruktiven Anforderungen fielen mir dagegen umso leichter.
Da ich bei Studienbeginn erst 17 Jahre alt war, durfte ich noch in der A-Jugend spielen und wechselte zu „Empor Tabak Dresden“.
Die erste Note an der TH, die schon erwähnte Vier, war ein Segen für mich, denn nun gab es keinen Zweifel mehr, ich musste mich auf das Studium konzentrieren und dem Vereinsfußball für immer ade sagen. So verabschiedete ich mich am Ende der Jugendsaison von meinen Sportkameraden.
Das siebte Semester war für ein Praktikum bestimmt. Hans und ich erhielten eine Anstellung bei der damals noch privaten Baufirma Louis Schneider in Riesa. Zu Beginn arbeitete ich auf einer Brückenbaustelle, wechselte danach zum Gerüstbau und die restliche, etwa halbe Zeit, durfte ich im Konstruktionsbüro mitwirken. Dessen Leiter war ein ehemaliger Professor aus Rostow am Don. Er hatte in Karlsruhe studiert und sprach sehr gut deutsch. Auch seine Familie lebte in Riesa. Der erwachsene Sohn arbeitete ebenfalls bei Louis Schneider. Anfangs war er sehr zurückhaltend und beschränkte sich auf die notwendigen technischen Anweisungen. Mit der Zeit aber öffnete er sich mehr und mehr, es entstand in der Tat ein Vertrauensverhältnis.
Eines Tages überraschte er mich sogar mit der Prognose, dass ich eine große Zukunft vor mir hätte. Von ihm hörte ich dann auch seinen Lebensweg: festgenommen und eingekerkert während der Oktoberrevolution. Ein nachträglich empfundener Glücksumstand, denn der Kerker war ein unerwartet sicherer Ort. Nur weniger seiner Gefährten hatten die verderblichen Unruhen überlebt. Danach arbeitete er als Bauleiter an verschiedenen Orten. Amüsant, wie fehlendes oder unpassendes Material auf russische Art beschafft oder passend gemacht wurde. Nach einigen Jahren erreichte ihn ein Ruf an die Rostower Technische Hochschule als Professor für Baukonstruktionen. Als die deutschen Truppen Rostow am Don erreichten und sich später wieder zurückzogen, schloss er sich mit seiner Familie dem Rückstrom an und galt später in der DDR als Heimatvertriebener aus den deutschen Ostgebieten. Stets plagte ihn die Sorge, unter den sowjetischen Offizieren könnte ihn ein ehemaliger Student durch einen unglücklichen Zufall wiedererkennen. Es erfüllt mich noch heute mit ehrendem Erstaunen, von ihm auf diese Weise ins Vertrauen gezogen worden zu sein.
Meine Studienjahre waren zwar angefüllt mit ernsthaftem Bestreben und aufsteigendem Erfolg, ließen aber auch Raum für studentisches Lebensgefühl. Das Vordiplom feierten wir auf der Bastei in der Sächsischen Schweiz. Zur Eröffnung sangen wir gemeinsam „Gaudeamus igitur“, zogen später mit brennenden Fackeln auf Bergeshöhe, wo ein Kommilitone die „Bergpredigt“ verkündete.
Meine Unterkunft im Studentenheim konnte ich schon nach zwei Semestern mit einem Vierbettzimmer in einer alten Villa tauschen. Wiederum zwei Semester später bezog ich ein Privatzimmer bei einem Ehepaar. Der Mann war mir bestens bekannt, denn es war mein ehemaliger Trainer beim Fußballklub, sowohl in Riesa als auch später bei Tabak Dresden. Zufälle gibts. Als vier Jahre nach mir mein Bruder ebenfalls an der TH Dresden ein Studium für Radiochemie aufnahm, konnte ich ihm in Absprache mit meinen Vermietern das Zimmer überlassen, da es mir gelang, ein anderes Privatzimmer zu finden. Bei der Zimmersuche hatten es Erstsemester sehr viel schwerer als Altsemester, eine Privatunterkunft zu finden. Mein neues Zuhause war ein gut möbliertes Zimmer, allerdings mit einer Waschkommode am Bett. Dafür wurde ich aber von meinen beiden Wirtinnen, zwei alleinstehenden, schon etwas älteren Schwestern im Ruhestand, wie ein Herr Studiosus alter Prägung umsorgt. Nach dem Aufstehen ging ich gewöhnlich zur Toilette auf halber Höhe im Treppenhaus. Zurückgekehrt stand ein Kännchen mit heißem Wasser zum Nassrasieren neben der Waschschüssel. Etwas später, nie zu früh, wurde das Frühstück serviert und der Herr Studiosus begab sich gestärkt auf den Weg zur Universität. Die überaus fürsorgliche Betreuung erstreckte sich allerdings auch auf die übrige Zeit. Die Beaufsichtigung kannte keine Unterbrechung. Damenbesuche waren ohnehin strikt untersagt. Das letzte Semester war hauptsächlich für das Anfertigen der letzten Belegarbeiten und für die Vorbereitung der Diplomarbeit vorgesehen. Planmäßige Lehrveranstaltungen blieben nur noch für Nachzügler im Programm.
Die Einteilung des Tages oblag nunmehr der persönlichen Neigung und dem Vorwärtsstreben, sofern keine Wiederholungen anstanden. Einige Studienkameraden wohnten ganz in der Nähe, und so verabredeten wir uns mal beim einen, mal beim anderen zum geselligen Abend bei Schach, Skat, Plausch und selbstredend auch zum Junggesellentratsch und so manchen studentischen Träumen. Bier zu trinken war üblich, höherprozentigen Alkohol gab es nur zu ausgesprochenen Ausnahmesituationen. Ich habe nie einen betrunkenen Studienkameraden erlebt. Rauschgift war völlig unbekannt. Es war noch nicht einmal ein Thema. Über Politik sprachen wir selten, obwohl jeder von uns eine Vorstellung von der übereinstimmenden Grundüberzeugung des anderen hatte. Keiner wollte sein Studium leichtfertig gefährden, hielt gesellschaftspolitische Kritik in unserer Situation ohnehin für fruchtlos. Noch war es für einen normalen, intelligenten Kopf einigermaßen machbar und erträglich, im Strom der vorgegebenen Sichtweisen mitzuschwimmen. Der heutige Leser muss bedenken, wir gehörten zu den Überlebenden eines furchtbaren Krieges, unser Land war größtenteils zerstört, der Wiederaufbau hatte gerade begonnen und wir wollten als zukünftige Bauingenieure daran nach besten Kräften mitwirken.
Hin und wieder flog mitten in der Nacht ein Steinchen an meine Fensterscheibe. Unten stand meistens mein Kommilitone Paulchen und forderte mich auf, unverzüglich zu ihm zu kommen. Es fehlte der dritte Mann zum Skat. Der Trainingsanzug war schnell über den Schlafanzug gezogen und ich stand zur Verfügung. Hatte ich doch selbst Freude und Vergnügen am Skatspiel und der Geselligkeit. Gegen elf Uhr am Morgen machten wir uns dann auf zur Mensa, noch immer im Trainingsanzug, um uns zu stärken. Wieder im heimatlichen Quartier erschien eine meiner Wirtinnen mit erhobenem Zeigefinger und der Ermahnung: „Manfred, Sie leben wieder sehr unsolide.“ Es blieb bei dem Tadel, Konsequenzen hatte er jedoch keine.
Die Osterfeiertage 1960 verbrachte ich zusammen mit meinem Bruder bei unserer Mutter in Riesa. Nach dem üblichen Osterspaziergang auf dem Gröbaer Elbdeich war ein Besuch im örtlichen Kino geplant. Viele Mitbewohner schlossen ein Wochenende oder einen Feiertag mit einem besinnlichen Kinobesuch ab. Vorausgesetzt, ein akzeptabler Film stand auf dem Programm. Dieses Mal wurde „Fanny“ angeboten. Nach Schluss der Vorstellung standen noch einige Grüppchen zusammen und unterhielten sich angeregt über private Begebenheiten. Mit uns unterhielten sich ein mit unserer Mutter sehr gut befreundetes älteres Ehepaar und stellten uns seine Enkelin Sybille aus Berlin-Rahnsdorf vor. Ein sehr charmanter, aparter und dazu noch sehr hübscher Teenager mit strahlenden Augen kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag. Sie gefiel mir auf Anhieb. Ich war aber völlig unvorbereitet, da mich das Studium total ausfüllte, und empfand leichte Hemmungen, einmal wegen ihrer Jugend und zum anderen wegen des zusprechenden Interesses meiner Mutter. Ja, so war ich nun einmal gewickelt. Meine Mutter kannte Sybille bereits von gelegentlichen Einkäufen bei ihr. Gefragt nach meinem Eindruck erfand ich die Ausrede, Sybille sei wohl eine sympathische Person, sie habe aber eine deutliche Knollennase. Meiner Mutter war meine Ausflucht sofort klar. Sie schwieg zwar, vereinbarte aber einen Familienbesuch bei Sybilles Großeltern anlässlich einer Fernsehübertragung von Goethes Faust schon am nächsten Abend. Brav saßen wir beieinander, die Gedanken ganz sicher nicht bei der Darbietung im TV. Diese Begegnung sollte sich als glückliche Fügung des Himmels erweisen. Sybille hat bis zum heutigen Tag mein weiteres Leben bestimmt, in Liebe, Zufriedenheit und Dankbarkeit. Näheres darüber etwas später auch von ihr.
Zurück in Dresden schlich sich eine „schöpferische Pause“ ein. Unversehens bemerkte ich im Fach Statik einige Lücken, die mein weiteres Vorankommen in diesem Fach hemmten. Meine Idee war: Ich musste etwas organisieren, was mich zwang, vermehrt zu arbeiten. Die Lösung: Ich bewarb mich am Lehrstuhl für Statik als Hilfsassistent zur Betreuung jüngerer Semester in Übungsstunden und wurde angenommen. Die Lösungen der gestellten Übungsaufgaben mussten anschließend von einem der Hilfsassistenten im Schaukasten des Lehrstuhls ausgehängt werden. Das war für mich der schweißtreibende, aber heilsame Zwang. Außerdem gab es ein willkommenes Salär. Nun, Ende gut, alles gut.
Zur Diplom-Abschlussfeier nach Ende des erfolgreichen Studiums versammelten wir uns zusammen mit unseren Professoren in einer Gaststätte an der Tharandter Talsperre. Ein eigens verfasstes Schattenspiel in mehreren Bildern schilderte das erlebnisreiche Studentenleben von der Immatrikulation bis zum Finale in Versform, erschaffen von einem eigenen, begabten Team. Das Stück trug den Titel „ Stud. ing. Flasche“. Mir kam die ehrende Auszeichnung zuteil, den Titelhelden zu spielen. Der Auszug im folgenden Kapitel soll es dem Leser nahebringen und ihn sicher auch erfreuen.
Den Höhepunkt der Feier bildete der symbolische Abschied von den Lehrfächern unserer Disziplin. Alle Teilnehmer einschließlich unserer Professoren, unserer Gäste und die Kapelle bestiegen um Mitternacht bereitstehende Ruderkähne und fuhren weit auf den See hinaus. Mitgeführt hatten wir für jedes Fach eine mit Steinen bewehrte Holzkiste, mit deutlicher Aufschrift. Unter Dankesworten und Musikbegleitung wurde nacheinander jede einzelne Kiste symbolisch und feierlich auf den Grund des Sees versenkt. Sollte das Holz widerstandsfähig genug sein, dann liegen unsere Reliquien noch heute dort unten.
„Stud. ing. Heinrich Flasche“– ein Schattenspiel
Amor hominis
Flasche hat sich vorgenommen,
heut zu einem Weib zu kommen. …
Jetzt fragt er, ob sie’s interessiere,
dass er an der TH studiere …
Doch als er nun auf Tröstung wartet,
da ist die Schöne schon gestartet.
Ganz anders ist hier cand. ing. Bock,
der hat die Hand schon unterm Arm,
das zeugt von ganz besonderem Charme.
Prüfung
Nach dieser kleinen Ouvertüre
büffelt er die Fachlektüre,
denn am Mittwoch, welche Qual,
muss er zur Prüfung noch einmal.
Ach, lieber Gott, hab doch Pardon
mit mir und mit dem Stahlbeton. …
Nach dergestalter Vorbereitung
naht sich für Flasche die Entscheidung.
Der gute Anzug wird geplättet,
mit Freunden wird um Bier gewettet,
dass man `ne Fünf baut, garantiert,
und dann wird prüfungswärts marschiert.
Am Ort der Handlung angekommen,
ist Flasche etwas arg beklommen.
Er wünscht da drinnen den zur Hölle
und sich selbst an dessen Stelle.
Doch nichts ist jetzt mehr aufzuhalten,
die Tür geht auf, er steht vorm Alten.
„Sie sind Herr Flasche? Sehr erfreut!“
So heuchelt man voll Freundlichkeit.
Drauf setzt man allerseits sich hin,
auf dass die Folterung beginn.
Und auf Herrn Flasche treu und bieder,
senkt drohend sich ein Schatten nieder.
Und salbungsvoll und voller Tücke
ertönt‘s: „Was ist denn eine Brücke?“
Die Frage trifft ihn wie ein Hieb,
er duckt sich und glotzt merklich trüb.
„`Ne Brücke? Das ist sozusagen“,
warum so Schweres immer fragen?
„Nun ja, man spricht von einer Brücke,
wenn im Gelände eine Lücke
– man nennt dies Tal – vorhanden ist,
welch Selbes man dann kunstvoll schließt.
Wobei man darauf achten muss,
dass, wenn im Talesgrund ein Fluss
sich tummelt, vielerorts derselbe,
als Beispiel denk ich an die Elbe,
naturgemäß sehr dankbar ist,
wenn man beim Bauen nicht vergisst,
die Brücke also anzulegen,
dass er sich drunter kann bewegen.
Zu welchem Zweck man oft bei Brücken
gar große Löcher kann erblicken.
Wobei man noch auf diese Art
sehr viel des Materials erspart.“
„Das reicht, Herr Flasche! Denn fürwahr,
die Antwort scheint mir ziemlich klar.“
Bejahend nickt der Assistent,
der nebenan am Tische pennt.
Und bloß damit er auch was spricht,
sagt er: „Mehr weiß ich selber nicht!“
So naht der große Augenblick,
der Delinquent wird rausgeschickt,
denn Ordnung muss ja schließlich sein.
Gleich drauf, da muss er wieder rein.
Was falsch war, wird ihm offeriert,
– man hat im Buch sich informiert –,
dann reicht man ihm mit Gönnermiene
`ne Vier, weil mehr er nicht verdiene.
Worauf er froh verlässt den Saal
Und denkt – ihr alle könnt mich mal.
Ein Wunsch, wie später er versteht,
der doch nicht in Erfüllung geht.
Finale
Dies jedoch war nicht der Schluss,
denn jetzt kommt nun, was kommen muss.
Flasche spricht zu Schulz und Staufen:
„Los, jetzt geh´n wir einen saufen.
nach der alten Väter Weise,
wandert man, nicht grade leise,
eben zu besagtem Zwecke
zur Kaschemme an der Ecke,
auf dass man nach bestand´nem Werke,