Vom Geheimnis der schönsten Liebe

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Nun bitte ich euch, lasst euren Mund voll Lachens, eure Zunge voll Rühmens und euer Herz voll heiligen Entzückens sein, indem ihr daran denkt, wer euer Vielgeliebter ist, wie groß er ist und welche Größe er kraft seiner Verbindung mit euch auf euch übertragen hat. Wir können nicht gut Christi gedenken, wie wir es sollten, solange wir ein schwer bedrücktes Herz mit uns herumtragen. Komm, betrübte Seele, freue dich in dem Herrn. „Freut euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich, freut euch!“ Wenn je eine menschliche Seele Grund zur Freude hat, so muss es die Seele sein, die an Christus glaubt. Wenn jemals eins der Kinder Adams Ursache hat, fröhlich zu sein und mit den Händen zu klatschen, dann ist es der Mensch, der in Christus sein Heil, sein ein und alles gefunden hat.
Dies sind also die Vorbereitungen zu der heiligen Feier, von welcher unser Text redet. Wenn sie gut getroffen sind, wird es euch keine Schwierigkeit bereiten, der Liebe Christi zu gedenken.
II.
Nun will ich weiterhin, wenn ich dazu gestärkt werde, über den göttlichen Gegenstand dieses heiligen Gedächtnismahles sprechen: „Wir wollen deiner Liebe gedenken.“
Wir wollen zunächst der Tatsache der Liebe Christi gedenken. Welche wundervolle Sache ist es, dass der Sohn Gottes uns liebt! Ich wundere mich nicht so sehr darüber, dass er jemand von euch liebt, aber ich verliere mich in der Bewunderung der Tatsache, dass er Liebe zu mir hat. Fühlt nicht jeder Gläubige, dass das Wunder der Wunder beständig ist, dass der Herr Jesus ihn liebt? Er war in der Herrlichkeit, im Schoße des Vaters, und genoss unaussprechliche Wonne. Wenn er es nötig fand, seinen Liebesblick einem seiner Geschöpfe zuzuwenden, so gab es Myriaden glänzender Geister vor seinem Thron.
Aber nein, er musste hinabblicken auf den Staub und uns ausfindig machen, die wir seiner Beachtung gänzlich unwürdig waren. Dann hätte er uns bemitleiden, uns in unserem verlorenen Zustand lassen können; aber das war bei einem, der ein solches Herz hatte, wie unser teurer Heiland es hat, nicht möglich; er musste uns unbedingt lieben. Was es für Gott ist, zu lieben, das weiß Gott allein. Infolge der Liebe, die in unserem Herzen für die Gegenstände unserer Liebe brennt, können wir nur schwach vermuten, was die Liebe Gottes sein muss. Die Liebe Gottes muss eine mächtige Leidenschaft sein. Ich gebrauche dieses Wort, weil ich kein besseres kenne. Ich bin mir bewusst, dass es nicht das rechte ist, denn die menschliche Sprache ist zu schwach, um die göttliche Liebe zu beschreiben. Die Liebe Christi! Es muss das Wunder der Wunder bleiben, dass Jesus Christus, der Liebling des Himmels, die Augen seiner Liebe Menschen von sterblichem Gebilde, sündigen Menschen, mir ‒ mir, das ist der Höhepunkt ‒ zugewandt hat.
Aber wir wollen auch der Wesenszüge der Liebe Christi gedenken. Welch eine Liebe ist es! Er liebte uns vor Grundlegung der Welt. Mit der Göttlichkeit seines Vorherwissens sah er unsere Existenz voraus und liebte uns, da wir noch nicht da waren. Da ging er mit dem Vater einen Bund unserethalben ein und verpflichtete sich, als Stellvertreter für uns einzutreten und uns von unserem Untergang durch die Sünde zu erlösen. O die Liebe, die ewige Liebe Christi! Vom ersten Augenblick an hat er nie aufgehört, uns zu lieben. Er hat seine Erwählten durch die Jahrhunderte hindurch jeden Augenblick geliebt und hat sie völlig geliebt. Könnt ihr die Anmut dieses Gedankens in eure Seele trinken? Ich bitte euch, gedenkt der Ewigkeit und der Beständigkeit der Liebe Christi zu seinem Volk! „Wir wollen deiner Liebe gedenken.“
Es war unverdiente Liebe, welche ihren Grund nicht in uns hatte. Er liebte uns, weil er uns lieben wollte. Es war die unbeschränkte Göttlichkeit seiner Liebe, die ihn veranlasste, die zu lieben, die zu lieben er erwählte. Er liebte sie frei, ohne Rücksicht auf das, was sie je tun würden, um seine Liebe zu verdienen. Aber er liebte ebenso völlig wie freiwillig; er liebte innig, göttlich, unermesslich. Du kennst deine Liebe zu deinem Kind; sie ist im Vergleich zu der großen Sonne der Liebe Christi zu dir nur ein schwacher Funke. Du kennst deine Liebe zu deinem Mann; sie ist im Vergleich zu dem Ozean der Liebe Christi zu seinem Volk nur ein winziges Bächlein. Geliebte, führt euch die wundervollen Eigenschaften der Liebe Christi zu euch vor Augen, und sprecht, während ihr an seinem Tisch sitzt: „Wir wollen deiner Liebe gedenken, denn das freudige Thema drängt sich uns auf.“
Wir wollen auch der Werke der Liebe Christi gedenken. Es ist eine erhabene, großartige Geschichte. Ich kann sie euch nicht erschöpfend erklären. Ihr wisst wie der Sohn Gottes, als die Zeit erfüllt war, aus der Herrlichkeit herabkam und in einem Stall Platz nahm. Er, der alle Welten gemacht hatte, lag an der Brust einer Frau, denn er ward Fleisch, um uns von unseren Sünden zu erretten. „Darinnen steht die Liebe!“ Seht ihn, wie er ein mühevolles Leben führte, umherzog und wohltat, wie er verachtet und misshandelt wurde und doch stets bereit war, den Unwürdigen noch mehr Gnade und Barmherzigkeit zu erweisen. Ihr kennt sein Leben, das wundervolle Leben Christi. „Darinnen steht die Liebe!“ Schließlich gab er sich selbst zu heftigem Kampf hin, der zum blutigen Schweiß führte. Er bot seinen Rücken dar denen, die ihn schlugen, seine Wangen denen, die ihn rauften, er verbarg sein Angesicht nicht vor Schmach und Speichel. Und dann gab er sich selbst: seine Hände den Nägeln, seine Füße dem Kreuz und dem grausamen Eisen, seine Seite dem Speer, seinen Leib dem Grab, seine Seele dem Vater. Hier ist unaussprechliche Liebe. Ich wünschte, ich könnte über dieses Thema predigen, wie es verdient, verkündigt zu werden. O dass ich es verstände, von Christi hingebender Liebe zu reden! Die Engel gelüstet, in das Geheimnis der Liebe Jesu zu schauen; aber selbst sie können die unermessliche Höhe und Tiefe und Länge und Breite nicht erfassen. Wollt ihr, die ihr die Auserwählten derselben seid, nicht seiner Liebe gedenken?
Aber Jesus ist auferstanden vom Grab. Er ist auferstanden mit derselben Liebe; er fuhr mit derselben Liebe auf und lebt mit derselben Liebe und bittet für uns. Er liebt uns jetzt. Er wird in Liebe wiederkommen. Die Liebe wird ihm Schwingen geben, wieder auf die Erde zu kommen. Er wird hier herrschen. Aber nicht ohne sein Volk. Er wird ewig in Liebe herrschen. Christus wird durch alle Ewigkeiten ruhen in seiner Liebe. Er wird seinem Volk auch Anteil an seiner Herrlichkeit geben, dass es mit ihm auf seinem Thron sitze und mit ihm herrsche immer und ewiglich.
O welch ein Thema ist dies, die Taten der Liebe Christi! Indem ich versuche, davon zu reden, komme ich mir vor wie ein armer Schulknabe, der hier steht und von einer Sache redet, die er lieb hat.
Ich möchte auch, dass ihr der Beweise der Liebe Christi gedenkt. Ihr wart fern, aber er suchte euch und brachte euch zurück. Ihr wart taub, aber er rief euch und öffnete eure Ohren, dass ihr seinen Ruf hören konntet. Ihr kamt zitternd und furchtsam, aber er tröstete euch, und in einem Augen-blick nahm er eure Last von euch und machte euch frei. Erinnert ihr euch dessen? Ich gedenke der Stätte, da ich den Herrn zuerst sah. Einige unter euch konnten nicht so bestimmt davon sagen, und ihr habt nicht nötig zu erröten, weil ihr es nicht könnt. Ist Jesus zu dir gekommen? Hat er dir deine Sünden vergeben? Hat er dich mit seiner Liebe getröstet? Dann gedenke heute daran. Gedenke seiner Liebe!
Seitdem Jesus zum ersten Mal zu dir kam und dich rettete, bist du manchmal in Trübsal gekommen, und er hat dich getröstet. Er hat dich in deiner Arbeit aufrechterhalten. Du bist verdächtigt und geschmäht worden, aber er hat dich geehrt. Du hast dich leider seiner Liebe unwürdig erwiesen, aber er hat dir dein Abweichen vergeben. Du bist von ihm abgeirrt, aber er hat dich zurückgebracht. Gedenke seiner großen Liebe!
Kommt denn und lasst uns zu dem köstlichen Gedenken der Liebe Christi verbinden. Die Predigt ist kurz, aber der Gegenstand ist lang, und ihr habt nun eine Veranlassung, zum Tisch des Herrn zu kommen und das Thema fortzusetzen, das ich euch angegeben habe: „Die Liebe Christi zu mir.“ Dann setzt es in Beziehung zu dem: „O meine armselige Liebe zu Christus.“ Wenn ihr eurer Liebe zu Christus gedenkt, sagt euch, wie gering das ist, woran ihr denkt. Seine große Liebe ist gleich der Sonne am Himmel. Eure Liebe ‒ und ihr werdet eure Sonnenbrille aufsetzen müssen, ehe ihr sie sehen könnt ‒, sie ist ein so kleines Ding. Gott gebe, dass sie heute wachse! Möchtet ihr am Tisch des Herrn eine solche Gnadenheimsuchung von Christus erfahren und so herrliche Gemeinschaft mit ihm haben, dass ihr imstande seid, in das Gelöbnis auszubrechen: „Wir wollen frohlocken und uns freuen an dir; wir wollen deiner Liebe gedenken.“
Ein Bündlein Myrrhen
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten ruht.“ Hohelied Salomos 1,13
Gewisse Theologen haben die Inspiration des Hohenliedes angezweifelt; andere haben es für nichts anderes gehalten als eine Probe von alten Liebesgesängen, und etliche haben sich gar gefürchtet, darüber zu predigen, weil es einen so hochpoetischen Charakter trägt. Der wahre Grund für all dieses Fernhalten von einem der himmlischen Teile des Wortes Gottes liegt in dem Umstand. dass der Geist dieses Liedes nicht leicht zu erreichen ist. Seine Musik gehört dem höheren geistlichen Leben an, und diese hat für ungeistliche Ohren keinen Reiz. Dieses Hohelied umschließt ein heiliges Gehege, durch welches niemand unvorbereitet treten darf.
„Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füssen, denn die Stätte darauf du stehest. ist heiliges Land“, das ist die warnende Stimme, die aus dem verborgenen Gezelt heraus ertönt. Die historischen Bücher möchte ich mit dem äußeren Vorhof des Tempels vergleichen; die Evangelien, die Briefe und die Psalmen führen uns in das Heilige oder in den Vorhof der Priester; aber das Hohelied ist das Allerheiligste, vor welchem noch für geistlich unreif Wirkende der Vorhang hängt. Es sind nicht alles Heilige, die hier eintreten können, denn sie sind noch nicht zu dem heiligen Vertrauen des Glaubens und zu der innigen Vertrautheit der Liebe gelangt, die es ihnen ermöglicht, in ehelicher Liebe mit dem großen Bräutigam zu verkehren.
Man sagt uns, dass die Juden es den jungen Studenten nicht gestatteten, dies Hohelied zu lesen, dass man die Jahre voller Reife für erforderlich hielt, ehe der Mann aus dem geheimnisvollen Liebesgesang den rechten Nutzen ziehen könne; vielleicht waren sie weise, auf jeden Fall aber schattete das Verbot eine große Wahrheit ab. Das Hohelied ist in Wahrheit ein Buch für ausgewachsene Christen; es bedarf eines Mannes von völligerem Wachstum, der sein Haupt an den Busen seines Meisters legt, um die erhabenen Berge der Liebe zu ersteigen, auf denen die Braut mit ihrem Geliebten steht. Das Hohelied wird vom ersten bis zum letzten Vers denen klar sein, die die Salbung empfangen haben von dem, der heilig ist, und dies alles wissen (1.Joh. 2.20).
Sie sind so von dem Geist der Liebe durchtränkt, der aus diesem Buch heraus duftet, dass die, welche in der Schule der Gemeinschaft nicht gelehrt sind, ausrufen: „Wir können es nicht lesen, denn es ist versiegelt.“ Dieses Hohelied ist ein goldenes Kästchen, zu welchem mehr die Liebe als die Gelehrsamkeit der Schlüssel ist. Möchte es Gott gefallen, uns in der Gnade wachsen zu lassen und uns viel von dem Heiligen Geist zu gehen, dass wir mit Füßen gleich denen der Gazellen auf den Höhen der Schrift stehen und innigen Umgang mit Jesus Christus haben können.
Lasst uns hinsichtlich unseres Textes sehr einfach handeln und zuerst bemerken, dass Christus den Gläubigen sehr köstlich ist; zweitens, dass guter Grund dafür vorhanden ist; drittens, dass gemischt mit dem Gefühl der Köstlichkeit hier das freudige Bewusstsein seines Besitzes ist und dass darum viertens sich ein ernstes Verlangen nach beständiger Gemeinschaft mit ihm zeigt. Wenn ihr noch einmal auf den Text blickt, werdet ihr diese Dinge darin finden.
I.
Zunächst: Christus Jesus ist den Gläubigen unaussprechlich köstlich. Die Worte schließen das offenbar in sich: „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Sie nennt ihn ihren „Geliebten“ und drückt so ihre Liebe auf das nachdrücklichste aus; er ist nicht nur der Geliebte, sondern der Vielgeliebte. Dann blickt sie sich um, um etwas zu finden, das an sich wertvoll und zugleich nützlich in seinen Eigenschaften ist, und Myrrhen erblickend sagt sie: „Mein Vielgeliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Ohne jetzt das Bild näher anzusehen, halten wir uns an den Ausspruch, dass Christus dem Gläubigen köstlich ist.
Beachtet zunächst, dass dem Gläubigen nichts soviel Freude macht als die Gemeinschaft mit Christus. Fragt euch ihr, die ihr an seinem Tisch gesessen, wo solche Freude zu finden, wie ihr sie in Gemeinschaft mit Jesus genossen habt. Der Christ hat in den gewöhnlichen Gnadenerweisungen ebenso gut Freude wie andere Leute. Er kann sich an Gottes Gaben und Werken der Schöpfung freuen wie jeder andere. Er ist nicht tot für häusliche Freuden; er findet an seinem eigenen Herd glückliche Verbindungen, ohne welche das Leben wirklich traurig wäre. Seine Kinder erfüllen sein Heim mit Frohsinn, seine Frau ist sein Trost und seine Wonne, und seine Freunde sind seine Erfrischung; aber er wird euch sagen, dass er in all diesem nicht so wesentliche Wonne findet als in der Person seines Herrn Jesus. Brüder, hier ist ein Wein, wie ihn kein Weinberg auf Erden jemals liefert; hier ist ein Brot, das selbst die Kornfelder Ägyptens nicht hervorbringen könnten. Wo wir sahen, dass andere ihren Gott in irdischen Annehmlichkeiten fanden, da sagten wir: „Ihr mögt euch des Goldes, des Silbers und der Kleidung rühmen; ich will mich freuen in dem Gott meines Heils.“
Nach unserer Überzeugung sind die Freuden der Erde im Vergleich zu Jesus, dem Himmelsmanna, wenig besser als die Treber für das Vieh. Ich wollte lieber ein wenig von Christi Liebe und von seiner Gemeinschaft als eine ganze Welt voll fleischlicher Wonnen. Was ist die Spreu gegen den Weizen? Was ein Traum gegen die herrliche Wirklichkeit? Was ist dieser Zeit Freude in ihrem besten Schmuck im Vergleich zu unserem Herrn in seinem verachtetsten Zustand? Wenn ihr etwas von dem inneren Leben wisst, werdet ihr alle bekennen, dass unsere höchsten, reinsten und beständigsten Freuden die Frucht von dem Baum des Lebens gewährt, der im Paradies Gottes wächst. Wie der Prediger sagte, so sagen wir: „Ich sprach zum Lachen: Du bist toll! und zur Freude: Was machst du?“ „Eitelkeit der Eitelkeiten; es ist alles eitel.“ Alle irdische Seligkeit ist von der Erde und irdisch, aber die Tröstungen der Gegenwart Christi sind gleich ihm himmlisch. Wir können unsere Gemeinschaft mit Jesus überschauen und finden keine Leere darin; in diesem Wein ist kein Bodensatz, in dieser Salbe keine tote Fliege. Die Freude am Herrn ist wirklich und fortwährend, und sie ist in Zeit und Ewigkeit wert, genannt zu werden „die einzige wahre Wonne“.
Wir können deutlich sehen, dass dem Gläubigen Christus so köstlich ist, weil es außer Christus für ihn nichts Gutes gibt. Gläubige Seele, hast du nicht inmitten der Fülle einen schmerzlichen Hunger empfunden, wenn dir dein Herr fehlte? Die Sonne schien, aber Christus hatte sich verborgen, und die ganze Welt war dir dunkel. O welche heulende Wüste ist diese Welt ohne meinen Herrn! Wenn er sich in seinem Zorn nur einen Augenblick vor mir verbarg, verdorrten die Blumen meines Gartens, meine schönen Früchte verfaulten, die Vögel ließen ihren Gesang verstummen und schwarze Nacht senkte sich auf alle meine Hoffnungen hernieder. Nichts kann die Gemeinschaft des Heiles ersetzen; alle Kerzen der Erde können keinen Tag machen, wenn die Sonne der Gerechtigkeit untergegangen ist.
Als andererseits dir alle irdischen Tröstungen versagt blieben, hast du da nicht Genüge in deinem Herrn gefunden? Sind deine schlechtesten Zeiten nicht deine besten gewesen? Dein Krankenbett machte Jesus zu einem königlichen Thron, auf welchem du mit ihm regiertest. Jene dunklen Nächte waren nicht dunkel. Denkst du daran, als du arm warst? Wie nahe war dir Christus, und wie reich machte er dich! Du bist von Menschen verachtet und verworfen worden, und niemand gab dir ein gutes Wort; aber seine Gemeinschaft war dir süß, und es war wonnig, ihn sagen zu hören: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott!“ Als du des Leidens viel hattest, wurdest du auch reichlich getröstet durch Christus. Ja. wir können in stiller Ergebung auf Armut, Krankheit und selbst auf den Tod blicken; denn wenn alle Tröstungen uns genommen werden sollten, würden wir doch gesegnet sein, solange wir die Gegenwart des Herrn, unseres Heilands, genießen dürfen.
Ich tue auch der Wahrheit keinen Zwang an, wenn ich sage, dass der Christ lieber alles andere aufgeben, als seinen Meister verlassen würde. Ich habe etliche gekannt, welche sich fürchteten, dem Wort ins Auge zu sehen, der da sagte: „Wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ Ja, ich habe gefunden, dass gerade die, die sich am meisten fürchteten, es am häufigsten bewiesen, dass sie aufrichtige Liebe zu Jesus hatten. Vielleicht ist es die beste Art, nicht ruhig dazusitzen und unsere Liebe zu wägen, denn sie lässt sich nicht mit kühlem Urteil messen, sondern deine Liebe praktisch auf die Probe zu stellen. Wenn es nun dahin kommt, dass du Christus verleugnen oder das Liebste, das du hast, aufgeben sollst, würdest du erst überlegen? Aber auch, wenn es sich darum handeln sollte: „Willst du deine Augen verlieren oder Christus aufgeben?“ würde ich gern blind werden. Oder wenn es heißen sollte: „Willst du von heute ab stumm sein und nie mehr vor der Menge reden?“
Es ist besser, stumm zu sein, als ihn verlieren. Tatsächlich kommt es mir wie eine Beleidigung meines Herrn vor, Hände und Augen und Zunge mit ihm vergleichen zu wollen. Wenn ich gefragt werden sollte: „Willst du ohne Christus leben oder mit Christus sterben?“ so würde ich nicht erst überlegen, denn mit Christus sterben heißt, mit Christus ewiglich zu leben; aber ohne Christus leben hieße, des anderen Todes, des schrecklichen Todes, des ewigen Verderbens der Seele zu sterben. Nein, hier gibt es keine Wahl. Ich denke, wir könnten weitergehen und, wenn die Liebe inbrünstig ist und das Fleisch unterdrückt wird, sagen, dass wir irgendetwas mit Christus erdulden würden. Es liegt etwas Himmlisches in dem Leiden für Christus. In seinem Kreuz liegt eine solche Majestät und geheimnisvolle Wonne, die, je schwerer es wird, desto leichter auf den Schultern der Gläubigen liegt.
II.
Aber zweitens: die Seele hängt an Christus, und sie hat guten Grund da-zu, denn ihre Worte lauten: „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Wir wollen zuerst die Myrrhen nehmen und dann das Bündel betrachten.
Jesus Christus ist gleich Myrrhen. Diese sind wegen ihrer Köstlichkeit mit Recht ein Bild von Christus. Es ist ein überaus kostspieliges Arzneimittel. Die Schrift spricht davon als von einem seltenen und kostbaren Handelsgut. Aber keine Myrrhen lassen sich mit Jesus Christus vergleichen, denn er ist so köstlich, dass, wenn Himmel und Erde zusammengenommen würde, beides nicht einen anderen Heiland erkaufen könnte. Als Gott der Welt seinen Sohn gab, gab er das Beste, das der Himmel hatte. Christus war Gottes Alles, denn steht nicht geschrieben: „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“! Wie unschätzbar köstlich der Leib, den er von der Substanz der Jungfrau annahm! Wie ist er als Myrrhe köstlich in der Darbringung seines großen Versöhnungsopfers! „Erlöst nicht mit Silber oder Gold, sondern mit dem teuren Blut Christi.“ Wie köstlich ist er auch in seiner Auferstehung! Er rechtfertigt sein Volk mit einem Schlag!
Diese herrliche Sonne zerstreute mit einem Aufgehen alle Nächte seines ganzen Volkes. Wie köstlich ist er in seiner Himmelfahrt, wie er das Gefängnis gefangen führt und den Menschen Gaben gibt! Und wie köstlich heute in seiner beständigen Fürbitte, infolge derer die Gnaden Gottes gleich Engeln auf Jakobs Leiter zu unseren bedürftigen Seelen herabkommen! Ja, er ist dem Gläubigen in jeder Hinsicht gleich den Myrrhen.
Myrrhe war sodann angenehm. Es war angenehm, in einem Raum zu sein, der von Myrrhen durchduftet war. Von Christus kann gesagt werden, dass seine Kleider duften wie Myrrhen, Aloe und Kassia; aber er hat nicht allein geistlichen Duft, sondern auch der Geschmack wird befriedigt, denn wir essen sein Fleisch und trinken sein Blut. Seine Stimme ist lieblich und das Ohr unserer Seele wird von seinen Melodien entzückt. Er ist ganz lieblich. Wir können ihn nur mit Myrrhen vergleichen. Er ist alles, was gut anzusehen oder zu schmecken oder zu fühlen oder zu riechen ist; er ist, alles zusammengenommen, der Hauptinhalt aller Wonnen. Wie alle Ströme ins Meer fließen, so haben alle unsere Wonnen ihr Zentrum in Christus.
Ferner macht die Myrrhe wohlriechend. Sie wird gebraucht, um anderen Dingen Duft zu verleihen. Sie wurde mit dem Opfer vermischt, so dass es nicht nur der Rauch von dem Fett der Widder und das Fleisch fetter Tiere war, sondern auch der liebliche Duft der Myrrhe, welcher mit dem Opfer zum Himmel emporstieg. Gewiss macht Jesus Christus sein Volk wohlriechend. Macht er nicht ihre Gebete wohlriechend, so dass der Herr den lieblichen Duft riecht? Durchduftet er nicht unsere Wirksamkeit, denn steht nicht geschrieben: „Er gibt uns allezeit Sieg in Christus und offenbart den Geruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten; denn wir sind Gott ein guter Geruch Christi unter denen, die selig werden, und unter denen, die verlorengehen“. Unsere Personen werden von Christus durchduftet. Woher anders haben wir unsere Narde als von ihm? „Wir sind angenehm gemacht in dem Geliebten.“ ‒ „Ihr seid vollkommen in ihm ‒ vollkommen in Christus Jesus.“ ‒ „Er hat uns zu Königen und Priestern gemacht vor Gott, und wir werden herrschen in Ewigkeit.“
Myrrhen haben erhaltende Eigenschaften. Die Ägypter gebrauchten sie zur Einbalsamierung der Toten, und wir finden, dass Nikodemus und die Frauen Myrrhen und Aloe brachten, um den toten Leib des Heilandes darein zu hüllen. Sie wurde gebraucht, um der Verwesung vorzubeugen. Was kann die Seele anders bewahren als Jesus Christus? Welches ist die Myrrhe, die unsere Werke bewahrt, die an sich tot und verderbt und faul sind, so dass sie vor Gott nicht stinkend sind, wenn nicht Jesus Christus? Was wir aus Liebe zu Christus getan, was wir durch seine Vermittlung geopfert haben, was durch den Glauben an seine Person durchduftet ist, wird angenehm und annehmbar. Gott blickt auf alles, was wir sagen oder tun, und wenn er Christus darin sieht, nimmt er es an; aber wenn kein Christus darin ist, verwirft er es als etwas Schmutziges.
Achtet denn darauf, dass ihr nie ein Gebet betet, welches nicht mit Christus gewürzt ist. Ich möchte nicht eine Predigt halten, welche nicht zum Überfließen voll von Christus ist, denn was ist eine christuslose Predigt! Ein Bach ohne Wasser, eine Wolke ohne Regen, ein zwiefach entwurzelter Baum, ein Himmel ohne eine Wolke, eine Nacht ohne einen Stern. O Christ, wir müssen Christus haben! Achte darauf, dass du an jedem neu begonnenen Tag durch die Betrachtung der Person Christi einen frischen Duft von ihm an dir trägst. Lebe den ganzen Tag, indem du, soviel an dir ist, dein Herz mit ihm anfüllst. Es gibt nichts, das uns bewahren und uns von der Sünde abhalten und unsere Werke heilig und rein halten kann als dieses „Bündel Myrrhen“.
Myrrhen wurden als ein Desinfektionsmittel gebraucht. Wenn sich das Fieber ausbreitet, kennen wir Leute, die kleine Beutel mit Kampfer um den Hals tragen. Sie mögen gut sein; ich weiß es nicht. Aber die Orientalen glaubten, dass zu Zeiten der Pest und anderer Krankheiten ein kleines Bündelchen Myrrhen, zwischen den Brüsten getragen, von wesentlichem Nutzen für den Träger sei. Und in den Myrrhen ist ohne Zweifel irgendwelche Kraft, vor ansteckender Krankheit zu schützen. Ich bin gewiss, dass es hinsichtlich Christi der Fall ist. Ihr müsst in die Welt hinausgehen, die einem großen Lazarett gleicht; aber wenn ihr Christus mit euch nehmt, werdet ihr nie der Welt Krankheit bekommen. Ein Mensch mag noch so reich sein, aber er wird nie weltlich werden, wenn er Christus auf seinem Herzen behält. Ein Mensch mag sehr arm sein und schwer um sein tägliches Brot arbeiten müssen; aber er wird nie unzufrieden werden und murren, wenn er in Christi Nähe bleibt. Einige unter euch müssen mit Alkoholikern und Fluchern zusammen arbeiten. O nehmt meinen Meister mit euch, und die Plage der Sünde kann keinen Einfluss auf eure moralische Natur haben.