Vom Geheimnis der schönsten Liebe

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Aber die Ärzte der alten Zeit hielten von der Myrrhe noch mehr; sie hatte nicht nur vorbeugende, sondern heilende Kraft. Ich weiß nicht, wie viele Krankheiten sie damit heilten; ich nehme auch nicht an, dass diese orientalischen Ärzte Tatsachen berichteten, denn sie schrieben manchen Drogen Eigenschaften zu, die sie nicht hatten; doch selbst Ärzte neuerer Zeit glauben, dass die Myrrhe wertvolle medizinische Eigenschaften hat. Gewiss ist, dass euer Christus die beste Arznei für die Seele ist. Sein Name ist: „Ich bin der Herr, dein Arzt.“ Er rührte den Aussätzigen an, und er wurde gesund. Er sah nur die Lahmen an, und sie sprangen wie die Hirsche. Seine Stimme durchbrach die Stille des Hades und brachte die Seele zum Leibe zurück. Was könnte Christus nicht heilen? Ihr, die ihr an diesem Morgen krank seid von Zweifeln und Befürchtungen und Versuchungen, ihr, die ihr mit einem erregten Temperament oder mit einem todesähnlichen Schlaf der Trägheit zu kämpfen habt, nehmt Christus, und ihr seid geheilt. Hier treffen alle Dinge zusammen, und in allen diesen Dingen können wir sagen: „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“
Ich bin noch nicht fertig, denn Myrrhen wurden im Morgenland zur Verschönerung gebraucht. Wir lesen von Esther, ehe sie dem Ahasveros zugeführt wurde, dass sie samt den Jungfrauen die Weisung erhielt, sich vorzubereiten, und dazu gebrauchte sie u. a. Myrrhe. Die orientalischen Frauen glaubten, dass sie Falten und Flecken von dem Gesicht entferne, und sie gebrauchten sie beständig zur Vervollständigung ihrer Reize. Ich weiß nicht, wie das sein kann; aber das weiß ich, dass den Gläubigen nichts so schön macht als sein Umgang mit Jesus. Er ist schön in Gottes Augen, in den Augen der Engel und in den Augen der Menschen. Ich kenne einige Christen, mit denen umzugehen eine große Wohltat ist. Lasst mich euch sagen, dass der beste Maßstab für die Nützlichkeit eines Christen in dem Grad zu finden ist, in welchem er mit Jesus gewesen ist und von ihm gelernt hat. Sagt mir nicht, dass es der Gelehrte oder der Mann der Beredsamkeit oder der Reiche ist, sondern der wirklich starke Mann ist der Mann Gottes. Der mit Jesus gewesen ist, der ist eine Säule in der Gemeinde und ein Licht der Welt.
Und ich darf diesen Punkt nicht schließen, ohne zu sagen, dass die Myrrhe sehr wohl wegen ihrer Verbindung mit dem Opfer als ein Zeichen unseres Herrn angesehen werden kann. Die Myrrhe gehörte zu den köstlichen Rohstoffen, die zur Bereitung des heiligen Öls zur Salbung der Priester verwandt wurden, und ebenso zu dem Räuchwerk, das beständig vor Gott brannte. Es weist hin auf den Charakter Christi als das Opfer, welches allem zugrunde liegt, das Christus seinem Volk köstlich macht. Du Lamm Gottes, unser Opfer, wir müssen dein gedenken!
Mit dem allem ist sicherlich genug über die Myrrhe gesagt worden. Habt noch Geduld, da wir eben noch bemerken müssen, dass er ein Bündel Myrrhen genannt wird oder auch, wie einige übersetzen: ein Beutel Myrrhen oder eine Büchse Myrrhen.
Es gab drei Arten von Myrrhen: die Myrrhe im kleinen Zweiglein als Sträußchen, die, wenn sie verbrannt wurden, einen lieblichen Duft ausströmten; dann die Myrrhe als getrocknete Spezerei und dann drittens die Myrrhe als flüssiges Öl. Wir wissen nicht, auf welche Art hier Bezug genommen wird. Aber warum heißt es „ein Bündel Myrrhen“? Zunächst wegen der Menge. Es ist nicht ein Tröpflein, sondern eine Flasche voll, nicht ein winziges Stielchen oder Blüte, sondern ein ganzes Bündel. In Christus ist genug für meine Bedürfnisse.
Ein Bündel ferner wegen der Mannigfaltigkeit, denn in Christus ist nicht nur das eine, das not ist, sondern „ihr seid vollkommen in ihm“, in ihm ist das Nötige Nimm Christus in seinen verschiedenen Ämtern, und du findest eine wundervolle Mannigfaltigkeit: Prophet, Priester, König, Bräutigam, Freund, Hirte. Nimm ihn in seinem Leben, in seinem Sterben, in seiner Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkunft, in seinen Vollkommenheiten: Sanftmut, Mut, Selbstverleugnung, Liebe, Treue, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit ‒ in jedem Fall ein Bündel. Er ist wegen seiner Mannigfaltigkeit „ein Bündel Myrrhen“.
Er ist ferner ein Bündel Myrrhen wegen der Bewahrung und Erhaltung und Dauer ‒ nicht lose Myrrhen, die herabfallen, auf denen herumgetreten wird, sondern Myrrhen zusammengebunden, als ob Gott alle Vollkommenheiten und Vortrefflichkeiten in seinem Sohn zusammengebunden hätte; nicht auf die Erde geschüttete Myrrhe, sondern Myrrhe in einer Büchse, bewahrt in einem Kästchen. Die Kraft und Vortrefflichkeit, die von Christus ausgeht, ist heute noch ebenso stark wie an dem Tage, da die Frau seines Kleides Saum anrührte und geheilt wurde. Er kann heute noch „selig machen aufs völligste alle, die durch Ihn zu Gott kommen“.
Ferner ein Bündel Myrrhen, um zu zeigen, wie fleißig wir davon nehmen sollten. Wir müssen ihn gleichsam zusammenfassen, unsere Gedanken von ihm und unsere Erkenntnis von ihm wie unter Schloss und Riegel halten, damit uns der Teufel nichts davon stehle. Wir müssen seine Worte sammeln, seine Anordnungen schätzen, seinen Vorschriften gehorchen ‒ alles zusammenbinden und ihn als ein köstliches Bündel Myrrhen beständig bei uns behalten.
Und doch wieder ein Bündel Myrrhen wegen der Besonderheit, als ob er nicht für jedermann gewöhnliche Myrrhe wäre. Nein, hier ist auszeichnende, unterscheidende Gnade, ein Bündel zusammengebunden für sein Volk und bezeichnet mit dessen Name vor Grundlegung der Welt. Ohne Zweifel ist hier eine Anspielung auf das Riechfläschchen, das in jedem Land gebraucht wird. Jesus Christus gibt seinen Geruch nicht jedermann, sondern denen, die es verstehen, den Pfropfen zu lüften, die es verstehen, in die Gemeinschaft mit ihm einzugehen und vertrauten Umgang mit ihm zu haben. „Mein Geliebter ist mir ein Fläschchen Myrrhen.“
III.
Unsere dritte Wahrnehmung sollte sein, dass mit dem Gefühl von Christi Köstlichkeit ein Bewusstsein des Besitzes verbunden ist. Es heißt: „mein Geliebter“. Mein Zuhörer ist Christus ein Geliebter? Ein Heiland, das ist gut; aber mein Heiland, das ist das Beste von allem. Was nützt mir das Brot, wenn es nicht mein ist? Dann kann ich Hungers sterben. Was hat Gold für einen Wert, wenn es nicht mein ist? Dann kann ich doch im Armenhaus sterben. Diese Köstlichkeit muss mein sein. „Mein Geliebter.“ Hast du je mit der Hand des Glaubens Christus erfasst?
Brüder, wollt ihr ihn heute wieder erfassen? Ich weiß, ihr wollt. Ich wünschte, dass auch die, die ihn noch nie aufgenommen haben, ihn jetzt aufnehmen und sagen: „Mein Heiland!“ Hier ist sein Sühnopfer, das freiwillig für euch geopfert ist. Möchtet ihr Gnade genug haben, es anzunehmen und zu sagen: „Mein Heiland. Mein Heiland!“ Hat dein Herz ihn aufgenommen? Es ist wünschenswert, dass wir beide Hände gebrauchen, die Hand des Glaubens und die Hand der Liebe, denn das ist die rechte Umarmung wenn wir beide Hände um den Geliebten legen. Sprecht nicht von einer Religion, die im Kopf wohnt, aber nie ins Herz kommt; sie wird dir nie den Himmel bringen. Es muss nicht nur heißen: „Ich glaube dies und das“, sondern auch: „Ich liebe.“
Aber dies ist nicht das einzige Wort. „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhen.“ Vielen ist er das nicht, sondern nur eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Ein dreibändiger Roman ist ihnen lieber als dieses Buch. Sie gehen lieber ins Theater oder zum Tanz, als dass sie Gemeinschaft mit ihm suchen. Nun, sie mögen erwählen, was sie wollen, denn jedes Geschöpf hat so sein eigenes Vergnügen; mir aber, mir ist er ein Bündel Myrrhen, und wenn kein anderer ihn so findet, mir wird und soll er es sein. Der Ungläubige sagt: „Es ist kein Gott.“ Der Atheist möchte mich verspotten. Sie mögen sagen, was sie wollen; aber mir ist mein Geliebter ein Bündel Myrrhen. Ich weiß, es gibt etliche, die da sagen, sie haben ihn erprobt und ihn nicht köstlich erfunden; sie haben sich deshalb von ihm gewandt und sind zur Welt zurückgegangen, weil sie nichts Begehrenswertes an Christus fanden; aber mir ist mein Freund ein Bündel Myrrhen. O Christ, was du nötig hast, das ist eine persönliche Erfahrung, eine positive Erfahrung, und keine Religion ist auch nur einen Strohhalm wert, welche nicht aus deiner Seele entspringt. Ja, du musst sagen können: „Mag die ganze Welt irregehen; aber ‚mir ist mein Geliebter ein Bündel Myrrhen’. “
IV.
Der praktische Punkt soll den Schluss bilden. Ein Bewusstsein des Besitzes und des Genusses wird den Christen stets veranlassen, beständige Gemeinschaft zu wünschen. „Er“ oder richtiger „es soll zwischen meinen Brüsten ruhen“. Die Gemeinde sagt nicht: „Ich will dieses Bündel Myrrhen auf meine Schultern nehmen.“ Christus ist dem Christen keine Last. Sie sagt nicht: „Ich will dieses Bündel Myrrhen auf den Rücken nehmen“ ‒ die Gemeinde hat nicht Ursache, Christus vor ihrem Angesicht zu verbergen. Sie wünscht ihn zu haben, wo sie ihn sehen kann, ihrem Herzen nahe. Das Bündel Myrrhen soll auf meinem Herzen liegen, und da soll er immer seinen Platz haben. Ich vermute, dass dieser Ausdruck drei Dinge bezeichnet. Es ist der Ausdruck des Verlangens, beständig das Bewusstsein von Christi Liebe zu haben. Trägst du nicht dasselbe Verlangen in dir? Wenn du erst einmal Christus geschmeckt hast, wirst du das Bedürfnis fühlen, solange du lebst, dich an ihm zu weiden. Mein Verlangen ist, dass Jesus von früh bis spät bei mir bleibe, und ist das nicht auch dein Verlangen?
Aber dann ist es auch ihr Vertrauen. Die Gemeinde scheint zu sagen: Er wird so bei mir bleiben. Ihr mögt die sichtbare Gemeinschaft mit Christus unterbrechen, aber Christus wird nie von seinem Volk sich zurückziehen, sondern wird ihm zu allen Zeiten treu bleiben. Er mag sein Auge schließen und sein Angesicht vor euch verbergen; aber sein Herz wird nie von euch weichen. Er hat euch wie ein Siegel auf sein Herz gedrückt und wird euch das je länger je mehr zum Bewusstsein bringen.
Gebt euch nicht mit Menschen zufrieden, liebe Freunde; ihr mögt Wünsche haben und nichts weiter. Lasst eure Augen nicht schlafen und eure Augenlider nicht schlummern, bis ihr Christus im einfältigen Glauben als euer Alles in Allem angenommen habt.
Die Rose und die Lilie
„Ich bin die Rose von Saron und die Lilie der Täler.“ Hohelied Salomos 2,1
Es ist unser Herr, der hier spricht: „Ich bin die Rose von Saron.“ Wie kommt es, dass er sich selbst empfiehlt, denn es ist doch ein altes und wahres Wort, dass Eigenlob keine Empfehlung ist? Nur eitle Geschöpfe loben sich selbst, und doch lobt sich Jesus wiederholt. Er sagt: „Ich bin der gute Hirte“ ‒ „Ich bin das Brot des Lebens“ ‒ „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“ Und so betont er in verschiedenen Reden seine eigenen Vortrefflichkeiten, und Jesus ist doch nicht eitel! Aber ich sagte, dass jedes Geschöpf, das sich selbst lobt, eitel ist, und das ist auch wahr. Wie sollen wir dieses Rätsel lösen? Ist nicht dies die Antwort, dass er überhaupt kein Geschöpf ist und darum nicht unter diese Regel fällt? Das Selbstlob des Geschöpfes ist Eitelkeit, wenn aber der Schöpfer sich lobt, wenn Gott der Herr seine Herrlichkeit offenbart, so ist das sein volles Recht. Regiert Gott nicht beides, die Vorsehung und die Gnade, zur Offenbarung seiner Herrlichkeit, und stimmen wir nicht freudig dem zu, dass nichts anderes des göttlichen Sinnes würdig ist? Weil denn Christus so von sich redet, dass kein Mensch ihn als ehrgeizig bezeichnen kann, so liegt darin ein indirekter Beweis für seine Gottheit, und ich beuge mich vor ihm und preise ihn, dass er mir diesen gelegentlichen Beweis davon gibt, dass er kein Geschöpf, sondern der Unerschaffene ist. Keine Worte kommen passender von seinen Lippen als diese: „Ich bin die Rose von Saron und die Lilie der Täler.“
Wenn der Herr sich selbst lobt, so tut er es ohne Zweifel aus einem vortrefflichen Grund, nämlich dem, dass niemand als er selbst ihn den Menschenkindern offenbaren kann. Keine Lippen können den Herzen die Liebe Christi erzählen, bis Christus selber innerlich spricht. Alle Beschreibungen sind matt und lahm, wenn der Heilige Geist sie nicht mit Kraft und Leben füllt; solange der Immanuel sich nicht dem Innersten des Herzens offenbart, sieht die Seele ihn nicht. Wenn ihr die Sonne sehen möchtet, würdet ihr zu dem Zweck eure Lichter anzünden: Der Weise weiß, dass die Sonne sich selbst offenbaren muss und nur in ihrem eigenen Glanz gesehen werden kann. So ist es mit Christus. Wenn er sich uns nicht offenbart, wie er es der Welt gegenüber nicht tut, können wir ihn nicht sehen. Er muss zu uns sagen: „Ich bin die Rose von Saron“, denn alle Erklärungen der Menschen, dass er die Rose von Saron ist, reichen nicht aus.
Ist es uns allen nicht klar genug, dass Jesus, da er Gott ist, sehr passend sich selber lobt, und dass er sich selbst notwendig empfehlen muss, da wir sonst als schwächliche Geschöpfe überhaupt nie imstande sein würden, seine Schönheit zu bemerken? Wohl dem Menschen, welchem der Herr seine Schönheiten enthüllt. Er ist die Rose, aber es ist nicht allen Menschen gegeben, seinen Duft zu empfinden. Er ist die schönste aller Lilien; aber es gibt nur wenige Augen, die seine unvergleichliche Reinheit angeschaut haben. Er steht vor der Welt da als ohne Gestalt noch Schönheit, als eine Wurzel aus dürrem Erdreich, von den Eitlen verachtet und von den Stolzen verworfen.
Die große Masse dieser kurzsichtigen Welt kann von den unvergleichlichen Herrlichkeiten Immanuels nichts sehen. Nur, wo der Geist das Auge mit Augensalbe berührt, das Herz mit göttlichem Leben belebt und die Seele zu einem himmlischen Geschmack erzogen hat, nur da wird das Liebeswort meines Textes gehört und verstanden: „Ich bin die Rose von Saron und die Lilie der Täler“ ‒ „Euch nun, die ihr glaubt, ist er köstlich.“ „Euch ist er der Eckstein, euch ist er der Fels des Heils, euer Alles in Allem; aber anderen ist er der „Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses, die sich stoßen an dem Wort und glauben nicht daran.“
Ehe wir einen Schritt weiter gehen, sei es unser Gebet, dass unser Erlöser sich nun seinem erwählten Volk offenbaren und es wenigstens mit einem Lichtblick auf seine alles überwindende Anmut beschenken wolle.
I.
Zuerst will ich, wenn der Heilige Geist mir hilft, ein wenig mit euch reden über die Beweggründe unseres Herrn, sich so selbst zu empfehlen.
Ich fasse es so auf, dass er Liebesabsichten in seiner Redeweise hat. Er möchte sein ganzes Volk reich an hohen und glücklichen Gedanken über seine herrliche Person haben. Jesus ist nicht damit zufrieden, dass seine Brüder niedrig von ihm denken; er wollte, dass wir verbunden mit den freudigsten und glücklichsten Gedanken ihm gegenüber auch anbetende Bewunderung für ihn haben. Wir sollen ihn nicht nur als eine bloße Notwendigkeit wie Brot und Wasser ansehen, sondern sollen ihn als eine Delikatesse, als eine seltene und entzückende Wonne betrachten, die etwa mit der Rose und Lilie vergleichbar ist. Ihr bemerkt, dass sich der Herr hier poetisch ausdrückt. „Ich bin die Rose von Saron.“ Dieses Buch des Hohenliedes ist dem geistlichen Sinn Poesie der höchsten Art, und das Erhabene und Schöne ist in der ganzen Heiligen Schrift so sehr zu Hause wie der Adler auf seinem Horst. Sicher nimmt der Herr die Redeform in diesem Hohenlied an, um zu zeigen, dass der höchste Grad poetischer Fähigkeiten ihm geweiht sein sollte und dass erhabene Gedanken und hochstrebende Auffassungen von ihm verbunden sind, ihm zu den Füßen seines Kreuzes zu huldigen. Jesus wollte, dass wir die höchsten Gedanken von ihm hegen sollten, die uns durch die erhabenste Poesie enthüllt werden könnten, und ich will mich bemühen, euch seine Beweggründe zu unterbreiten.
Ohne Zweifel empfiehlt er sich selbst, weil hohe Gedanken von Christus uns in den Stand setzen, in Übereinstimmung mit unseren Beziehungen zu ihm zu handeln. Die gerettete Seele hat sich mit Christus verlobt. Im Eheleben nun fördert es die Glückseligkeit sehr, wenn die Frau eine hohe Meinung von dem Mann hat. In der Verbindung zwischen der Seele und Christus ist dies außerordentlich notwendig. „Er ist dein Herr, und du sollst ihn anbeten.“ „Denn der Mann ist das Haupt der Frau, gleichwie auch Christus das Haupt ist der Gemeinde, und er ist seines Leibes Heiland.“ Wenn die Frau den Ehemann verachtet und auf ihn herabblickt, dann ist die Ordnung durchbrochen und der Haushalt außer Ordnung, und wenn unsere Seele Christus je verachten sollte, dann kann sie nicht länger in der rechten Beziehung zu ihm stehen; aber je erhabener wir Christus auf dem Thron sehen und je niedriger wir sind, wenn wir uns vor dem Thron beugen, desto wirklicher sind wir bereit, gegenüber dem Herrn Jesus zu handeln, wie es die Gnadenordnung erfordert. Unser Herr wünscht, dass wir hoch von ihm halten, damit ihr euch freudig seiner Autorität unterwerft und euch als die beste Braut diesem besten Mann erweist.
Ferner weiß unser Herr, dass hohe Gedanken von ihm unsere Liebe vermehren. Menschen werden das nicht sehr lieben, was sie nicht hoch schätzen. Lieben und Schätzen gehen miteinander. Es gibt eine Liebe des Mitleids, aber diese wäre in Bezug auf unser erhöhtes Haupt nicht am Platz. Wenn wir ihn überhaupt lieben, muss es die Liebe der Bewunderung sein, und je höher diese Bewunderung steigt, desto inniger wird unsere Liebe entflammen. Meine Brüder und Schwestern, ich bitte euch, denkt viel über eures Meisters Vortrefflichkeiten nach! Studiert ihn in seiner ursprünglichen Herrlichkeit, ehe er eure Natur an sich nahm! Denkt an die mächtige Liebe, die ihn von seinem Thronhimmel herabzog um am Kreuz der Schmach zu sterben! Bewundert ihn, wenn ihr seht, wie er in seiner Schwäche über alle Mächte der Hölle siegt und durch sein Leiden alle Heere eurer Sünden überwindet, so dass sie sich nie wieder gegen euch erheben können! Seht ihn auferstanden, um nie mehr zu sterben; gekrönt um nie wieder entehrt zu werden; verherrlicht, um nie mehr zu leiden! Beugt euch vor ihm, denn nur so wird eure Liebe zu ihm sein, wie sie sein sollte!
Ferner ist eine hohe Meinung von Christus sehr notwendig zu unserem Trost. Dann erscheinen euch die Dinge dieser Welt sehr unbedeutend, und ihr Verlust wird nicht so sehr empfunden. Wenn euch eure Verluste und Kreuze so gewichtig werden, dass die Schwingen der Liebe Christi euch nicht über den Staub zu erheben vermögen, dann habt ihr zuviel von der Welt und zu wenig von Christus. Wenn ihr durch eure Trübsale so bedrückt seid, dass ihr euch gar nicht freuen könnt, obgleich ihr wisst, dass eure Namen im Himmel angeschrieben sind, dann fürchte ich, dass ihr Jesus nicht lieben könnt, wie ihr solltet. Verschafft euch glückliche Gedanken von ihm, und ihr werdet gleich dem Mann fühlen, der einen Kieselstein verloren, aber seine Diamanten behalten hat. Ihr werdet euch in eurer tiefsten Not freuen, weil Jesus euer ist, d. h. wenn ihr ein hohes Bewusstsein von der Köstlichkeit eures Meisters habt. Jesus, Jesus, Jesus, sei du mit uns, und wir hören auf, unsere Plätze und Lagen selber zu erwählen; wirf uns in Nebukadnezars Ofen, und wir wollen kein Unglück fürchten, wenn Du als unser Gesellschafter bei uns sein willst.
Ferner möchte der Herr, dass wir große Gedanken über ihn in uns aufnehmen, weil dies alle Kräfte unserer Seele belebt. Ich sagte soeben, dass die Liebe infolge unserer Meinung von Jesus an Kraft gewinne, und ich könnte dasselbe vom Glauben oder von der Geduld oder von der Demut sagen. Wo Christus hoch geschätzt wird, da üben sich die Fähigkeiten des geistlichen Menschen mit Energie. Ich will eure Frömmigkeit nach diesem Barometer beurteilen: Steht Christus hoch oder niedrig vor euch? Wenn ihr gering von ihm denkt und damit zufrieden sein könnt, dass ihr ohne seine Gemeinschaft lebt, wenn ihr euch wenig um seine Ehre kümmert, wenn ihr gleichgültig seid hinsichtlich seiner Anordnungen, dann weiß ich, dass eure Seelen krank sind; Gott gebe uns, dass es keine Krankheit zum Tode sei! Aber wenn es euer erster Gedanke ist, wie ihr Jesus verherrlichen könnt, wenn es der tägliche Wunsch eurer Herzen ist: „Dass ich wüsste, wo ich ihn finden könnte!“ dann bin ich davon überzeugt, dass ihr sicher seid, weil ihr hoch von Jesus haltet. Wie denkst du über den König in seiner Schönheit? Hat er einen herrlichen hohen Thron in deinem Herzen? Möchtest du ihn noch höher heben, wenn du könntest? Würdest du bereit sein zu sterben, wenn du zu dem Chor, der seinen Ruhm verkündigt, noch eine Posaune hinzufügen könntest? Dann steht es gut mit dir. Was du auch immer von dir selbst denken magst ‒ wenn Christus groß in dir ist, dann wirst du bald bei ihm sein.
Hohe Gedanken von Christus werden uns zu hohen Unternehmungen zu seiner Ehre veranlassen. Was können Menschen nicht ausrichten, wenn sie von der Leidenschaft der Liebe beherrscht werden! Wenn der große Gedanke der Liebe zu Gott Besitz von der Seele genommen hat, sind Menschen imstande, tatsächlich auszuführen, was anderen nicht einmal in den Sinn gekommen ist.
Die Liebe hat über Unmöglichkeiten gelächelt, und sie hat bewiesen, dass viele Wasser sie nicht ersäufen und Ströme sie nicht ertränken können. Was hat die Liebe zu Christus in den verschiedenen Missionen zustande gebracht! Es ist nicht möglich gewesen, den Eifer der Himmelserben zu überwinden, obgleich sich alle Elemente mit der Grausamkeit der Gottlosen und mit der Bosheit der Hölle verbunden hatten. Christi Diener haben weit überwunden durch den, der sie geliebt hat, nachdem seine Liebe durch den Heiligen Geist in ihre Herzen ausgegossen worden war und sie erhabene Gedanken von ihrem Herrn in sich aufgenommen hatten.
II.
Welches auch immer der lobenswerte Beweggrund zu einem Ausspruch sein mag, er darf nicht getan werden, wenn er nicht genau richtig ist, und darum komme ich dazu, des Herrn Rechtfertigung für diese Empfehlung zu beachten, und sie ist überschwänglich befriedigend für alle, die ihn kennen.
Was unser Herr von sich sagt, ist durchaus wahr und keine Übertreibung. Beachtet jedes seiner Worte! Er beginnt: „Ich bin.“ Ich will nicht auf diesen beiden Wörtchen bestehen, aber man tut der Sprache keinen Zwang an, wenn man sagt, dass hier eine große Tiefe zu finden ist. Welches Geschöpf kann mit genauer Wahrhaftigkeit sagen: „Ich bin“? Der Mensch könnte eher sagen „Ich bin nicht“ als „Ich bin“. Wir sind so kurze Zeit hier und sind sobald dahin, dass die Eintagsfliege unsere Schwester ist. Jesus sagt: „Ich bin“, und gelobt sei sein Name, er kann die Eigenschaften der Selbstexistenz und der Unveränderlichkeit mit Recht für sich in Anspruch nehmen.
In den Tagen seines Fleisches sagte er: „Ich bin“, und er sagt uns zu dieser Stunde: „Ich bin“; was er jemals war, das ist er, und was er seinen Heiligen jemals gewesen ist, das ist er uns noch heute. Komm, meine Seele, freue dich deines unveränderlichen Christus, und wenn du nichts Weiteres als diese zwei ersten Worte des Textes erhältst, so hast du doch ein Mahl, das deinen Hunger stillt, so dass du in der Kraft dieser Speise mit Elias weitere vierzig Tage wandern kannst. „Ich bin“ hat sich dir in einer viel herrlicheren Weise geoffenbart, als er sich einst dem Moses im brennenden Busch offenbarte; das große „Ich bin“ im menschlichen Fleisch ist dein Heiland und dein Herr geworden.
„Ich bin die Rose.“ Wir verstehen darunter, dass Christus lieblich ist. Er erwählt eine der reizendsten Blumen, um sich selbst darzustellen. Alle Schönheiten aller Kreaturen sind in Christus in größerer Vollkommenheit zu finden als in den Kreaturen selbst. „Was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was rein, was lieblich, was wohl lautet“ ‒ alles ist in unserem Vielgeliebten zusammengefasst zu finden. Was an Schönheit in der materiellen Welt sein mag, das besitzt Christus alles in der geistlichen Welt, nur in einem vielfach größeren Maß. Er ist unendlich schöner in dem Garten der Seele und im Paradies Gottes, als die Rose im Garten der Erde sein kann, obgleich sie die allgemein anerkannte Königin der Blumen ist.
Aber der Bräutigam fügt hinzu: „Ich bin die Rose von Saron.“ Diese war die beste und seltenste der Rosen. Jesus ist nicht die Rose allein, sondern „die Rose von Saron“, ebenso wie er seine Gerechtigkeit „Gold“ nennt und dann hinzufügt: „Das Gold von Ophir“ ‒ das Beste vom Besten. Jesus ist also nicht nur positiv lieblich, sondern im Superlativ der Lieblichste. Der Sohn Davids nimmt unter den Schönsten unter den Zehntausenden den ersten Platz ein. Er ist die Sonne, und alle anderen sind die Sterne; vor ihm verbergen sich die schwächeren Lichter, denn sie sind nichts, und er ist alles in allem. Schämt euch eurer Entstellungen, ihr Schönheiten der Erde, denn seine Vollkommenheiten verdunkeln euch! Im Vergleich zu ihm sind die Himmel schwarz und der Tag ist dunkel. Oh, ihn von Angesicht zu Angesicht sehen zu können! Das wäre ein Anblick, für den man das Leben gern hingeben möchte.