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„Warum? Man muss die Leute doch vor ihm warnen?“
„Du weißt genau, dass das alles nur dumme Gerüchte sind!“
„Aber aufregende Gerüchte!“ Über dem Handschuh funkelten die blauen Augen begeistert.
Cecilia schüttelte den Kopf. „Louisa, seit wann bist du so eine unangenehme Klatschbase? Ich bin enttäuscht von dir. Kommt, wir fahren weiter!“
Einige Minuten später hielt Walsey auf seinem Braunen neben dem Landauer an und zog seinen Hut. Cecilia nickte freundlich, Portia lächelte, Benedict unterhielt sich sogar mit Walsey, der sich schließlich verabschiedete und weiterritt.
„Jetzt möchte ich aber doch wissen, welche albernen Gerüchte über Walsey im Umlauf sind. Mir kommt er nämlich sehr vernünftig vor“, erklärte Portia und funkelte die Lynets kriegerisch an.
„Das ist er auch“, stimmte Benedict zu. „Kluger Mann, kümmert sich um Arme im East End, hat wenig Sinn für die Albernheiten der feinen Gesellschaft – die Melly und Cecilia so lieben.“ Er grinste.
„Wir machen uns über den ton doch nur lustig. Und wir versuchen, netten Mädchen den richtigen Mann zuzuschanzen und nicht irgendwelche dümmlichen Mitgiftjäger…“, erklärte Cecilia.
„Das finde ich auch sehr lobenswert, Cecilia – aber was sagen die Klatschbasen denn nun über Walsey? Ich versichere euch, ich falle nicht in Ohnmacht! Was die Ziegen, die wir vorhin getroffen haben – Poulmere und jene andere? - behaupten, ist ja höchstwahrscheinlich ohnehin gar nicht wahr…“
„Das denke ich auch, aber man müsste es eben beweisen. Und Walsey tut nichts dergleichen! Also, man sagt, er habe seine Frau getötet, weil sie untreu gewesen sei.“
„Das ist eine böse Anschuldigung“, stellte Portia fest. „Und wie ist man darauf gekommen? Warum kam er nie vor Gericht – oder gab es tatsächlich einen Prozess?“
„Nicht dass ich wüsste. Ich werde Seb fragen, er hat das Gesellschaftliche damals wohl besser verfolgt.“
„Damals? Ist das schon so lange her?“
„Ach nein, vier Jahre. Ich glaube, seine kleine Tochter ist jetzt sechs… als sie zwei war, verschwand Lady Walsey.“
„Aha. Und sie kann nicht einfach durchgebrannt sein? Vielleicht mit einem – äh – Liebhaber?“
„Aber Portia!“, rügte Cecilia ohne rechte Überzeugungskraft. „Was bitte weißt du denn von Liebhabern?“
„Natürlich überhaupt nichts, liebste Cecilia.“ Sie zog ein frommes Gesicht, musste aber leider kichern.
„Portia hat da vielleicht recht“, machte Benedict dem Vergnügen ein Ende, „war da nicht tatsächlich von einem jungen Verehrer die Rede? Wir müssen unbedingt Seb fragen. Am besten heute, das interessiert mich nämlich jetzt selbst. Der bedauernswerte Walsey… ich glaube nicht, dass er so glücklich ist. Oder auch nur zufrieden.“
„Er hat eine Tochter?“, fragte Cecilia. „Keine Söhne?“
„Nein, offenbar ist Lady Walsey schon zuvor verschwunden. Warum fragst du?“
„Ich könnte mir vorstellen, dass er nach einer zweiten Frau sucht, denn er braucht ja ein, zwei Erben für sein Earldom, nicht wahr?“
„Sehr richtig. Er soll aber in seine erste Frau durchaus verliebt gewesen sein. Ob er da noch viel Gefühl aufbringen kann, wenn er so enttäuscht worden ist…?“
„Wäre ihm denn zuzutrauen, dass er in seiner Enttäuschung auch zu Gewalt greift?“
Das wusste Benedict seiner Frau nicht zu beantworten. „Er ist nun nicht gerade mein engster Freund, nicht wahr? Ich könnte mich umhören, aber schlafende Hunde zu wecken ist nicht ganz ungefährlich…“
„Du lieber Himmel, bitte, Benedict, tu das nicht!“, bat Portia sofort, „wenn diese Gänse jetzt schon über aufregende Gerüchte tratschen und Idioten wie Kelling mir versichern, Walsey werde mich nicht heiraten und darüber möge ich gefälligst froh sein, solltest du auf keinen Fall die falschen Leute fragen!“
Benedict nickte. „Hattest du denn Interesse an Walsey?“
Portia rollte die Augen. „Nach einem Tanz und einem – zugegebenermaßen nicht langweiligen – Gespräch? Das wäre doch wohl leicht übertrieben! Sicher möchte ich in dieser Saison gerne heiraten, aber in den ersten Tanzpartner auf dem ersten Ball muss ich doch auch nicht gerade meine Krallen schlagen, oder? Er ist recht sympathisch, mehr weiß ich ja auch noch nicht. Etwas düster vielleicht.“
„Das könnte an seiner Enttäuschung liegen“, vermutete Benedict.
„Oder er kennt alle diese Gerüchte über ihn und lehnt die Gesellschaft deshalb ab?“, schlug Cecilia vor.
„Wahrscheinlich beides“, seufzte Portia.
Cecilia zwinkerte ihrem Gemahl zu. „Und eine gewisse Düsternis kann bei einem Mann ja auch recht attraktiv wirken, nicht wahr?“
„Wie bitte? Wann war ich denn jemals düster?“
„Wer spricht denn von dir, mein Schatz? Du warst höchstens rätselhaft – und das ist nicht unbedingt anziehend!“
Er ergriff die Hand seiner Gemahlin und hauchte einen Kuss darauf. „Ich bin nur froh, dass du mittlerweile nicht mehr so schlecht von mir denkst!“
Cecilia kicherte und Portia überlegte, ob die beiden sie ganz vergessen hatten oder ihr mit dem verliebten Geplänkel etwas sagen wollten: Sollte sie vielleicht nicht auf die düstere Atmosphäre, die Walsey um sich verbreitete, hereinfallen? Aber was hieß denn überhaupt hereinfallen? Sie hatte nicht das Gefühl, dass Walsey sie überhaupt umworben hatte; er hatte sich doch nur ernsthaft mit ihr unterhalten! War er überhaupt düster gewesen? Vielleicht war das auch das falsche Wort gewesen…
In der Ferne sah sie den großen Braunen mit Walsey im Sattel, wie er den Park verließ. Er saß sehr gut zu Pferde – aber das taten nahezu alle Gentlemen… nun, Sir Alexander bestimmt nicht, der hing wohl wie ein Sack im Sattel!
„Portia, was ist los? Bist du müde?“
„Nein“, antwortete sie verträumt, „ich dachte nur an Sir Alexander Jessen.“
„Wie bitte? Warum ausgerechnet an diesen – diesen -“
„Trottel“, ergänzte Benedict den Satz seiner Frau.
„Herzlichen Dank.“
„Ich dachte gerade, er hat gewiss einen furchtbaren Sitz zu Pferde. Wie ein Sack Getreide…“
Die Lynets prusteten beide los. „Genau!“, japste Cecilia dann. „Portia, du hast eine böse Zunge – und du hast vollkommen recht! Er muss ein miserabler Reiter sein…“
Sie winkten noch Lady Tenfield und ihrer immer geknechtet wirkenden Gesellschafterin zu, gönnten Sir George Dalley und seiner arroganten Gemahlin einen recht schmallippigen Gruß und versuchten den Earl of Carew zu ignorieren.
Dann wies Benedict den Kutscher an, zur South Audley Street zu fahren und Cecilia erinnerte an den Ball bei Mrs. Ramsworth am folgenden Abend.
„Darauf freue ich mich schon sehr – ihre Bälle sind immer besonders nett“, antwortete Portia. „Und mir scheint, sie lädt vergleichsweise wenige unangenehme Gäste ein, nicht wahr?“
„Ich würde mir nicht zu viele Hoffnungen machen, dass dir Kelling und Jessen erspart bleiben, meine Liebe“, wandte Benedict ein. Portia seufzte darob kummervoll und machte sich daran vor dem Haus ihrer Verwandten auszusteigen.
Kapitel 5
Am nächsten Vormittag besuchte sie mit Melinda und deren Zofe zusammen Hatchards am Piccadilly, um nach interessanten Büchern Ausschau zu halten. Melinda hatte zuerst verkündet, ein Spaziergang tue ihr in ihrem delikaten Zustand nur gut – die frische Luft, nicht wahr?
Das ließ Portia grinsen. „Frisch? Mir scheint eher, es weht etwas Garstiges vom Fluss hierher. Aber die Bewegung ist gewiss gesund…“
Melinda fand einen neuen Roman mit einer vernünftigen Heldin, Portia eine kurzgefasste Geschichte Englands und eine Abhandlung über den richtigen Umgang mit Waisenkindern, obendrein ein Buch, das sich zum Lesenlernen eignete. Sie blätterte kurz darin – ja, das würde den kleinen Mädchen gefallen!
Zufrieden wandte sie sich um, um ihre Fundstücke zu bezahlen, und wäre fast mit einem sehr großen Gentleman zusammengestoßen.
„Oh! Es tut mir leid – Lord Walsey? Ich wünsche einen guten Morgen!“
Walsey erwiderte diesen Wunsch freundlich, begrüßte auch Lady Hertwood formvollendet und erkundigte sich nach ihren Lektüregepflogenheiten. Es stellte sich heraus, dass seine Vorlieben eher bei Reisebeschreibungen und landwirtschaftlichen Verbesserungen, aber auch bei der Armenfürsorge lagen. Er und Portia waren schon im Begriff, ein längeres Gespräch über ihre Leseerfahrungen zu beginnen, aber Melinda mahnte zum Aufbruch; das lange Stehen strengte sie doch schon an.
„Natürlich, Melinda! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mylord – und gewiss können wir uns ein anderes Mal über Bücher unterhalten…“
„Zum Beispiel heute Abend bei Mrs. Ramsworth“, schlug Melinda lächelnd vor.
Walsey verbeugte sich. „Das sollte mich freuen.“
„Er scheint ganz sympathisch zu sein“, bemerkte Melinda auf dem Rückweg betont beiläufig.
„Auf jeden Fall tanze ich lieber mit ihm als mit Kelling oder Jessen. Aber es gibt auch noch andere nette Männer. Ich werde ja sehen, wieviele Männer mit mir tanzen wollen!“
„Walsey zum Beispiel…“
„Zum Beispiel“, antwortete Portia friedlich. „Ich hoffe nur, dass Kelling sich den Fuß verstaucht und Jessen sich den Magen verdorben hat. Die beiden sollen sich bitte schön lange auskurieren.“
„Wünschen wir ihnen also gute, aber langsame Besserung!“, bemerkte Melinda fromm. „Ach, mir geht es so gut!“
„Weil du den idealen Mann schon gefunden hast?“, erkundigte sich Portia.
„Richtig. Den richtigen Mann für mich, der mir alle meine Ängste genommen hat, dazu einen netten Onkel, der sich um Mama und Jane kümmert – nächstes Jahr könnte Jane schon debütieren! -, einen entzückenden Sohn und hoffentlich bald eine kleine Schwester für ihn, ich habe Spaß an der Saison und zwei liebe Freundinnen – Cecilia und dich: Was sollte ich mir mehr wünschen?“
„Vergiss nicht Lady Tenfield und ihre unschätzbaren Ratschläge“, entgegnete Portia mit einem Kloß im Hals. Sie war Melindas Freundin? Wie nett von ihr… spontan umarmte sie Melinda kurz. „Ich denke, das alles hast du doch auch mehr als verdient! Du bist eine so liebe Freundin!“
Melinda lachte etwas zittrig. „Komm, wir gehen rasch zu uns, bevor wir uns auf offener Straße weinend in den Armen liegen und zum Gespräch des Tages werden.“
Portia sah sich hastig um und kicherte. „Zwei Nannys… aber die tratschen gewiss.“
„Und damit rennen die Gerüchte von Haushalt zu Haushalt.“
Zu Hause trafen sie auf Sebastian, der offensichtlich seine Zeit im Arbeitszimmer verbracht hatte und nun ein Brieflein in der Hand hielt. „Ben hat mir geschrieben, ihr wüsstet gerne mehr über die Gerüchte um Walsey?“
„Und, weißt du etwas?“ Melinda reckte sich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er strich ihr zärtlich über den schon sichtbar gerundeten Bauch. „Und wie geht es unserer Kleinen?“
„Ich glaube, jetzt hast du sie geweckt!“, kicherte Melinda.
Portia versuchte, die Augen diskret abzuwenden, aber das war nicht einfach – zu faszinierend war die Szene. Ob sie wohl eines Tages auch eine solche Ehe führen konnte – so liebevoll, so zärtlich, so – so gar nicht steif und förmlich?
Das konnte sie sich mit niemandem vorstellen, mit Walsey nicht, mit Kelling oder Jessen schon überhaupt nicht.
„Ich habe noch keine weiteren Informationen, denn es ist zwar bekannt, dass Lady Walsey mit einem Liebhaber durchbrennen wollte – sofern das eine Tatsache und nicht nur ein verselbstständigtes Gerücht ist, aber niemand hat jemals den Namen dieses Liebhabers erfahren. Walsey spricht nicht über die Ereignisse, die Tochter war damals wohl noch zu klein, um sich an etwas zu erinnern.“
„Wer war Lady Walsey eigentlich?“, fragte Portia. „Ich meine, wer war sie vor ihrer Heirat?“
„Gute Frage“, murmelte Sebastian und notierte dies. „Ich bilde mir ein, die Tochter eines verarmten Baronets. Vielleicht hat sie ja erwartet, jetzt ein Luxusleben zu führen und die Königin der Londoner Gesellschaft zu werden.“
„Also so kam mir Walsey nicht vor, aber ich habe ihn ja nur das eine Mal vorgestern gesehen“, überlegte Melinda. „Was meinst du, Portia?“
„Viel besser kenne ich ihn doch auch nicht“, verteidigte diese sich sofort, „aber auf endlos viele Bälle scheint er mir auch nicht erpicht zu sein.“
„Er braucht wohl eine neue Ehefrau“, stellte Sebastian fest, was sie ohnehin alle wussten. „Vielleicht geht er deshalb auf Bälle, wirkt aber zugleich etwas lustlos?“
Melinda und Portia betrachteten ihn mit milder Verachtung und er lachte prompt. „Das habt ihr beide euch natürlich schon lange überlegt!“
„Erst seit vorgestern“, korrigierte Portia freundlich, „davor wusste ich doch nicht einmal, dass er existierte. Und bevor er auftauchte, hat mir gegenüber auch niemand hässliche Andeutungen gemacht.“
„Glaubst du diese hässlichen Andeutungen denn?“, wollte Melinda wissen.
„Nein, eigentlich nicht. Er kommt mir recht überlegt und vernünftig vor, aber wirklich einschätzen kann ich ihn noch lange nicht. Nur, wenn er wirklich ein Mörder wäre, wäre er dann nicht längst gehängt – oder nach Australien deportiert worden?“
Grässliche Vorstellung, dachte sie, noch während sie das aussprach.
„Ich glaube es auch nicht“, stellte Sebastian in einem recht endgültig klingenden Tonfall fest. „Etwas düster ist Walsey freilich, aber eher, als habe man ihn stets missverstanden. Ansonsten ein ungewöhnlich vernünftiger und vielseitig gebildeter und interessierter Mann. Nachdem, was er ab und zu erwähnt hat, ist er auch seiner kleinen Tochter sehr zugetan. Ob es außer Vater und Tochter noch weitere Beauforts gibt, weiß ich freilich nicht. Wenn er so weiter macht, erlischt der Titel möglicherweise…“
Um den Titel machte Portia sich nun wirklich keine Sorgen, aber Walsey tat ihr ein wenig leid: Ein ernsthafter Mann musste sich mit den Oberflächlichkeiten in den Ballsälen abgeben, um die Zukunft seiner Familie zu sichern!
Aber ging es ihr selbst denn so viel anders? Sie musste mit Leuten wie Kelling tanzen und sich das Getuschel dummer Gänse anhören, nur um endlich jemanden zu finden, der ihr eine Zukunft bot und damit sowohl die allmählich alternden Arnebys als auch ihren Vater entlastete.
Nun, man würde ja sehen, was der heutige Abend brachte, bei Mrs. Ramsworth – diese Bälle waren immer besonders schön. Hoffentlich hatte sie unangenehmes Volk wie Kelling und Jessen gar nicht erst eingeladen!
Ein netter, einigermaßen kluger und angenehmer Mann, gerne vom Land, da war sie gar nicht so wählerisch, wäre doch schon ideal?
Nun, ideal vielleicht nicht, so ganz ohne Liebe, aber doch schon akzeptabel. Ein vernünftiges Auskommen, ein Dach über dem Kopf, eine nette Kinderschar…
Kapitel 6
„Euer Lordschaft?“
Cecil stand vor dem Spiegel und fingerte an seinem Halstuch herum. Naja, es ging schon - aber dieser Abend würde gewiss so wenig Erfolg bringen wie der letzte.
„Ja, Grin?“
„Der Wagen steht bereit, lässt Mr. Parton ausrichten.“
„Danke, Grin“, seufzte Cecil und warf seinem Spiegelblick einen letzten Blick zu. „Dann werde ich meine Pflicht tun…“
„Aber Euer Lordschaft mögen Mrs. Ramsworth doch?“
„Jeder mag Amelia Ramsworth. Du hast ja recht, Grin, ich bin einfach nur griesgrämig.“ Damit begab er sich nach unten, in die Halle, wo der Butler schon Hut, Cape und Stock bereithielt.

Mrs. Ramsworths Ballsaal war dieses Mal hellblau und sandfarben dekoriert, als befände man sich in Brighton – nur der umstrittene Pavillon des Prince of Wales fehlte, wofür zumindest Portia recht dankbar war. Wie allerdings die blassrosa Treibhausrosen in diesem Zusammenhang zu deuten sein konnten, war ihr nicht recht erfindlich.
Ach, vielleicht gab ihr diese Frage etwas Beschäftigung, falls ihre Tanzkarte sich nur unzureichend füllen sollte…
Was sich zunächst zügig füllte, war der Ballsaal, aber es wurde kein derartiges Gedränge wie auf dem letzten Ball, den Portia besucht hatte. Darauf pflegte Mrs. Ramsworth ja auch zu achten – und das machte ihre Einladungen so exklusiv und damit auch so begehrt. Portia wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, zu diesem Kreis von Auserwählten zu gehören. Warum die Lady (auch wenn sie keinen Titel trug) immer wieder junge Damen mit ihrem Wohlwollen auszeichnete, wusste offenbar niemand: Man war geschmeichelt und fragte lieber nicht so genau nach…
Cecilia und Benedict winkten ihr zu, Lady Tenfield schenkte ihr ein schildkrötenhaftes Grinsen, von Kelling und Jessen war nichts zu sehen, dafür setzte sich die junge Lady Pelham zu ihr. „Bin ich froh, dass ich schon verheiratet bin – dieser Heiratsmarkt ist doch wirklich entsetzlich!“
„Wem sagen Sie das, Virginia! Vor allem, wenn man mit so unangenehmen Männern tanzen muss.“
„Ich werde mich in diesem Fall auf delikate Umstände herausreden. Niemand will mit einer Frau tanzen, der mittendrin übel werden könnte.“
„Das könnte ja die Stiefel ruinieren… leider kann ich diese Ausrede nicht verwenden.“
„Versuchen Sie es – das wäre ein hübscher Skandal!“
Portia kicherte. „Dazu bin ich doch zu feige – oh! Delikate Umstände? Da gratuliere ich auch ganz herzlich!“
Virginia Pelham lächelte verträumt. „Danke schön, wir freuen uns auch schon sehr. Ein kleines Mädchen haben wir schon, jetzt wäre ein Söhnchen nett. Sie wissen ja, der Erbe…“
„Gewiss. Diese Frage treibt wohl die meisten jungen Männer in den Ballsaal, nicht wahr?“
„Gefolgt von besorgten Eltern.“
Sie lachten beide und in diesem Moment fanden sich gleich drei junge Herren vor Portia ein, die sie noch nie gesehen – oder gleich wieder vergessen? – hatte. Eifrig trugen sie sich in ihre Tanzkarte ein, jeder gleich für zwei Tänze, was schon ein klein wenig dreist war, wie sie fand. Aber die Jungen wirkten alle harmlos, sie waren nüchtern und strahlten sie recht erfreulich an – und je weniger Plätze für Kelling und Jessen blieben, desto besser…
Bis das Orchester zu spielen begann, hatte sie alle Tänze bis auf einen, den vorletzten Walzer, vergeben. Von ihren beiden Feinden war noch nichts zu sehen, offenbar hatte die kluge Mrs. Ramsworth die beiden Rüpel tatsächlich nicht eingeladen.
Sie begab sich also auf die Tanzfläche und arbeitete sich einigermaßen beschwingt durch Ländler, Allemandes, Kontertänze und Walzer, plauderte über das Wetter, die neuesten Gerüchte über den Gesundheitszustand des Königs, die Extravaganzen des Prince of Wales, über die Frage Leben in London oder Leben auf dem Land (und wenn auf dem Land, wo dann am besten?) und allerlei anderes und nutzte die Pausen zwischen den Tanzabfolgen, um sich mit Lady Tenfield, Melinda und Cecilia auszutauschen.
Ein bisschen stand sie immer noch unter Spannung, weil dieser eine Walzer noch offen war und Kelling oder Jessen sich doch auch uneingeladen auf den Ball schmuggeln konnten - Mrs. Ramsworth hatte schließlich wohl kaum Porträtskizzen der beiden anfertigen lassen und sie an die Lakaien an der Eingangstür verteilt!
Später am Abend aber betrat Walsey den Ballsaal und sah sich ruhig um. Ohne ein Lächeln.
Ohne erkennbares Interesse an einer der Damen.
Ohne sich mit einem der Gentlemen – soweit sie noch nicht im Kartenzimmer verschwunden waren, sich bei den Erfrischungen herumdrückten oder schlicht gerade tanzten – zu unterhalten.
Bestenfalls nickte er bekannten Gesichtern flüchtig zu, während er die Tanzfläche bedächtig umrundete und sich schließlich vor Portia verbeugte. „Miss Willingham, Sie haben nicht zufällig noch einen Tanz frei?“
Sie lächelte erleichtert. „Doch, Mylord, genau einen.“ Sie reichte ihm die Karte; er las und sah auf: „Da habe ich ja Glück – ausgerechnet einen Walzer zu ergattern!“ Rasch trug er sich ein, lächelte noch einmal und entfernte sich.
Portia sah ihm nach: Hatte dieses Lächeln eigentlich seine Augen erreicht? Oder hatten sie immer noch diesen so traurigen Ausdruck gehabt?
Er war wohl wirklich ein Opfer der Klatschsucht der oberen paar Tausend – wenn es überhaupt so viele waren! Viel mehr als die Anzahl, die in einen durchschnittlich großen Ballsaal passte, konnten das überhaupt nicht sein.
Wer nicht eingeladen wurde, war auch nicht wichtig; wer auf dem Land lebte, war auch nicht so wichtig und konnte den Klatsch damit kaum befeuern.
Warum konnten so wenige (und obendrein zum Teil außerordentlich eingebildete und auch dumme) Menschen so viel Einfluss haben?
In der englischen Gesellschaft lag wirklich einiges im Argen… aber das würde sie allein auch nicht ändern können. Da musste man wohl ein Mann sein – oder Verbündete um sich sammeln. Aber wenn jeder, der (oder die, man sollte die Damen auch nicht stets unterschätzen!) guten Willens war, so viel tat, wie er konnte? So musste doch einiges zusammenkommen?
Nun, darüber konnte man mit den meisten Tänzern wohl kaum leicht und elegant plaudern. Dann doch lieber Wetter, Theater, Mode, die Fülle des Ballsaals…
Was tat wohl Walsey gerade? Er war recht spät gekommen, so dass wohl nur die weniger begehrten Damen noch freie Plätzchen auf ihren Tanzkarten vorzuweisen hatten. Ach, das war wohl recht arrogant von ihr – sie war auch nicht gerade die Unvergleichliche der Saison! Er tat ihr leid, denn sie glaubte nicht, dass ihn diese Bälle glücklich machten. Was machte ihn wohl glücklich?
„Miss Willingham?“
Sie schrak zusammen, drehte sich hastig nach Vorschrift und lächelte entschuldigend. „Ich fürchte, ich war nicht sehr aufmerksam. Was heute mit mir los ist, weiß ich auch nicht.“
Das führte zu längeren Ausführungen über die Schädlichkeit bestimmter Wetterphänomene für die Gesundheit, vor allem die zarte Gesundheit junger Damen. Portia merkte sich sorgfältig die wichtigsten Passagen – gute Ausreden konnte man schließlich immer gebrauchen. Sie musste vielleicht noch den schmerzlichen Griff an die Schläfe noch etwas üben, vor dem Spiegel am besten.
Und ein Riechfläschchen in ihr Retikül packen… Aber vernünftige Männer mochten wahrscheinlich solche Zimperliesen gar nicht. Sir – wie hieß er gleich wieder? – war mittlerweile bei den schädlichen Ausdünstungen (er sprach von Miasmen) der Stadt London angekommen, die der Gesundheit ja nun auch nicht zuträglich sein konnten. Er selbst, zum Beispiel, habe es sich zur Regel gemacht, sich nie in der Nähe der Themse aufzuhalten, weil dort die schädlichen Ausdünstungen geradezu waberten; sobald er eine gleichgesonnene Ehefrau gefunden habe, werde er sich mit ihr auf sein Landgut in Yorkshire zurückziehen. Portia lobte diese Idee, speziell im Hinblick auf seine empfindliche Gesundheit, gestand aber gleichzeitig ihre Begeisterung für die Kulturangebote Londons. Ihr unbekannter Tänzer hob gerade an, Kultur im Vergleich zur Gesundheit als unwesentlich abzutun, als das Orchester verstummte und ihm nichts blieb, als Portia zu ihrem Platz zurückzuführen.1
Erleichtert ließ sich auf den Stuhl sinken, und äußerte ein wenig damenhaftes „Puh!“ Cecilia setzte sich neben sie und neckte sie: „So furchtbar?“
„Ach, gar nicht so sehr. Nur recht langweilig. Hast du gewusst, dass in London gefährliche Dämpfe aus dem Boden aufsteigen, durch die man krank wird?“
„Lieber Himmel, wo soll das denn sein?“
„Überall!“, verkündete Portia mit der nötigen Dramatik. „Besonders schlimm an der Themse.“
„Nun ja, müffeln tut sie ja wirklich recht unerfreulich…“
Portia grinste breit. „Wie könnte etwas erfreulich müffeln?“
„Du bist manchmal schon eine rechte Haarspalterin.“