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Amy und ihr Vater merkten bald, was für ein außergewöhnliches Tier zu ihnen ins Haus gekommen war. Es war nicht nur mit den Sinnen eines Hundes, bei dem bekanntlich vor allem der Geruchssinn viel tausendmal besser ist als der der Menschen, und mit einem Gehör und einem Sehen im Dunkeln ausgestattet, das die Fähigkeiten eines Menschen unglaublich übersteigt, er hatte auch die Kraft eines Löwen, und wie es den Burgess’ schien, den Verstand eines intelligenten Menschen. Es gab eine Besonderheit an ihm. Amy hatte schon, als sie ihn kaufte, gemerkt, dass Blackie kaum spielerische Neigungen hatte, sondern trotz seiner Jugend sehr erwachsen wirkte. Es kam nie vor, dass er ausgelassen auf dem Rasen herumtollte, kläffte, und man ihm die Freude am Leben und Spielen anmerkte. Er war stets ruhig und ausgeglichen, fast würdevoll in seiner Haltung und höflich, wie Amy fand.
Immer wieder setzte Blackie sie und ihren Vater mit seinen Fähigkeiten in Erstaunen. Am Klang ihrer Worte und bestimmten Gesten schien Blackie ihre Wünsche aufzunehmen. Nach nur wenigen Tagen war ihm klar, dass die Schlafräume und das Esszimmer ›off limits‹ für ihn waren. Er überschritt nie die Schwellen, sondern lag allenfalls auf der Schwelle, sein Haupt auf den Vorderläufen, wenn er Amy zusah, was sie machte. In allem, was er tat, wie er sich benahm, war klar, dass ihr seine Loyalität gehörte. Er war ihr bald eine Art Paladin, eine Mischung von Beschützer, Begleiter und Freund, ohne in dieser Rolle das Geringste seiner eigenen eindrucksvollen Persönlichkeit einzubüßen.
Amy musste den Hund nach kurzer Zeit auf der Straße nicht mehr anleinen. Er gehorchte ihr aufs Wort, ging ohne weitere Kommandos bei Fuß, kreuzte mit ihr die Straßen, wobei er die Gefahren, die von Fahrzeugen ausgingen, offenbar bald einzuschätzen wusste. Er machte Amy, die gelegentlich in Gedanken war, sogar mehr als einmal durch kurzes Bellen auf ein näher kommendes Auto aufmerksam. Er schien instinktiv zu wissen, wann eine Gefahr für Amy drohte, ob im Straßenverkehr oder beim Zusammentreffen mit anderen Menschen oder Tieren. In den Fällen wurde der sonst so gutmütige Hund ein anderer. Seine schönen, ziemlich langen Stichelhaare stellten sich am Nacken und Rücken auf, sodass er größer zu werden schien, seine Lefzen hoben sich an, und man hörte ihn zunächst nur leicht knurren. Schien sich die Gefahr zu vergrößern, wurde das Knurren laut und scharf. Und meist genügte das und ein Blick aus seinen, wenn möglich noch größeren grünen Augen, den Eindringling zu vertreiben. Aber es bedurfte nur eines leisen Wortes von Amy, ihn zu beruhigen. Ein- oder zweimal erlebte sie, dass aus ihrem sonst so ruhigen Blackie ein rasender Teufel wurde, einmal als zwei betrunkene Jugendliche abends auf Amys Heimweg handgreiflich werden wollten und ein anderes Mal, als ein streunender Schäferhund Amy anzubellen wagte.
Ein paar Ereignisse, die sich kurz hintereinander ereigneten, überzeugten auch den alten Obristen Burgess von den außergewöhnlichen Qualitäten des Hundes. Das erste war, dass Blackie eines Nachts Vater und Tochter mit kurzem Bellen aus dem Schlaf holte und sie zur Tür zum Garten führte, von wo aus sie sehen konnten, dass im Anbau eines der benachbarten Häuser Feuer ausgebrochen war, das bisher offenbar von niemandem sonst entdeckt worden war. Die Nachbarn waren bald geweckt, die Feuerwehr schnell zur Stelle.
Eines Tages hatte der Oberst seine Brille verlegt und tappte einen halben Tag halb blind herum, bis Amy auf den Gedanken kam, mit Blackie auf die Suche zu gehen. Es schien fast unmöglich, dem Hund den Suchauftrag zu vermitteln. Amy zeigte ihm eine Brille, ließ ihn am Brillenfutteral Witterung aufnehmen und schickte ihn dann durch Haus und Garten. Zur Überraschung und Freude des Hausherrn kam er nach nur einen halben Stunde und führte Amy und ihren Vater in das Gewächshaus im Garten. Die Brille war zwischen zwei Blumentöpfe gefallen, als der Oberst sie am Morgen eilig abgelegt hatte, um zum Frühstück ins Haus zu gehen.
Und ein drittes Ereignis festigte bei Oberst Burgess die Überzeugung, dass dieses unglaubliche Wesen, wie er Blackie nun respektvoll nannte, die beste Ergänzung des Haushalts gewesen sei, die er sich vorstellen könne.
Zwei, wie sich herausstellte, lang gesuchte Kriminelle verschafften sich eines Nachts über einen Anbau, in dem Waschküche und Vorratsräume untergebracht worden waren, Zugang zum Haus. Als sie die Tür vom Anbau in das Haus öffneten, wurden sie, wie sie später aussagten, von einer riesigen Bestie mit gesträubtem Haar und gefletschtem Gebiss angefallen, zu Boden gerissen und dort festgehalten. Der Krach hatte außer Amy natürlich auch Oberst Burgess auf den Plan gebracht, der die Einbrecher mit einer alten Armeepistole in Schach hielt, bis die Polizei kam.
Und auch um die altehrwürdige Firma Merskin & Threadwell machte sich Blackie eines Tages in einer Weise so verdient, dass ihm der alte Joshua Donahue, der in der Firma die Akten verwaltete, später überirdische Kräfte nachsagte. Soweit wollten Mr Merskin und seine Partner zwar nicht gehen, doch selbst sie waren tiefer beeindruckt, als man es diesen beruflich an ungewöhnliche Begebenheiten gewöhnten, nüchternen Männern zugetraut hätte.
Die Geschichte trug sich wie folgt zu: Zu den Rechtsangelegenheiten, die Merskin & Threadwell seit ihrer Gründung für eine vornehme Familie, die Viscount Haswells von Colridge Manor bei Guildford, zu erledigen hatten, gehörte die Betreuung von Nachlassangelegenheiten. Eines Tages rief Julia Haswell, die Tochter von Viscount Alexander und Viscountess Virginia Haswell an und hinterließ für Mr Merskin die Nachricht, dass sie ihn am nächsten Tag besuchen möchte. Sie wolle einen versiegelten Umschlag abholen, dessen Inhalt ihr von ihrer vor siebzehn Jahren verstorbenen Großmutter vermacht und von der Firma als Testamentsvollstrecker verwahrt worden war und der ihr an oder nach ihrem 21. Geburtstag als Erbin zustehe. In dem Umschlag war eine Kassette mit einem Collier, das seinen bedeutenden Wert vor allem einem besonders großen Sternsaphir und wertvollen Brillanten verdankte. Das Collier war bei Lloyds mit 210.000 Pfund Sterling versichert. Das Schmuckstück stammte aus Indien. Angeblich war es ursprünglich das Geschenk eines indischen Maharadschas für die Frau eines Haswell-Vorfahren, der als Brigadegeneral in Indien Dienst tat. Julia Haswell hatte erklärt, sie werde am darauffolgenden Wochenende 21 Jahre alt und wolle das Schmuckstück gerne bei einem Fest anlegen, welches ihr Vater aus diesem Anlass für sie veranstalte. Ihre Mutter war drei Jahre zuvor verstorben.
Die Ankündigung dieses Besuchs machte Mr Merskin zu schaffen. Einerseits durfte der Umschlag nach den Bedingungen des Legats erst am oder nach ihrem 21. Geburtstag an Julia Haswell herausgegeben werden, andererseits hatte sie ja gerade am Tage des Festes Anspruch auf die Juwelen, und es war durchaus verständlich, dass sie sich dann damit schmücken wollte. Irgendwie musste ein Weg gefunden werden, die rechtlichen Bedingungen einzuhalten und der jungen Frau trotzdem die Juwelen für ihren Geburtstag zukommen zu lassen. Jedenfalls veranlasste Mr Merskin, dass der Umschlag aus dem Tresor der Midland Bank in Guildford abgeholt wurde, wo derartige Verwahrstücke für Klienten normalerweise aufbewahrt wurden, und in den firmeneigenen Tresor verbracht wurde.
Wie angekündigt, erschien Julia Haswell am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Kanzlei. Mr Merskin hatte auf sie, eine hübsche und natürliche junge Frau, schon gewartet und geleitete sie persönlich in sein Büro, wo bereits Amy und Mr Goodwin, ein Juniorpartner der Kanzlei, mit dem Umschlag warteten. Der alte Merskin machte zunächst ein bisschen Umstände und nötigte seinen Besuch zu einer Tasse Tee. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Julia Haswell zu erklären, dass er ihr aus rechtlichen Gründen den Inhalt des Umschlags heute leider nicht aushändigen dürfe. Die Enttäuschung der jungen Frau war riesengroß.
»Bis dahin sind es doch nur noch drei Tage, Mr Merskin. Mein Vater ist ebenfalls der Ansicht, dass das wohl nach allen Standards nach so vielen Jahren keinen Unterschied mehr machen könne. Es ist im Übrigen für mich ein so großer Tag.«
Sie fing sogar an zu weinen, was Mr Merskin nur nervöser machte.
»Ich verstehe Ihre Situation ja völlig, liebes gnädiges Fräulein. Wer könnte nicht! Aber die juristischen Regeln sind nun einmal wie eiserne Klammern. Ich kann sie nicht ändern. Und ich möchte nicht wissen, was die Versicherung sagen würde, wenn wir uns an die genauen Regeln für die Aushändigung nicht halten würden.«
Er schnäuzte sich, weil die Aufregung etwas viel für ihn wurde.
»Nun beruhigen Sie sich bitte, mein Fräulein. Wir haben uns ja schon einen Weg ausgedacht, wie dem Recht einerseits und Ihrem Anspruch, das Juwel am Tag Ihrer Volljährigkeit tragen zu können, Genüge getan werden würde. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder wird es Ihnen hier am Sonntag, Ihrem Geburtstag, zur Verfügung stehen. Wir werden also hier sein, wenn Sie es abholen lassen. Oder aber, wir bringen es Ihnen an Ihrem Geburtstag nach Hause. Amy Burgess, meine Assistentin, hat sich bereit erklärt, den Umschlag mit angemessenem Schutz zu Ihnen nach Colridge Manor zu bringen, sodass es Ihnen dort spätestens zur Mittagsstunde zur Verfügung steht.«
Die Aussicht darauf, dass sie ihren Schmuck rechtzeitig erhalten würde, beruhigte die junge Frau. Sie wandte sich an Amy. »Würden Sie das wirklich für mich tun? Ich wäre Ihnen ja so unendlich dankbar. Ich selbst kann an dem Tag nicht kommen. Mein Vater, der gesundheitlich nicht besonders gut dran ist, könnte ebenso wenig kommen und der ganze Haushalt steht sowieso kopf wegen des Festes am Abend. Ich würde Sie auch gern einladen, daran teilzunehmen, wenn Sie mir den Gefallen erweisen. Ich schicke Ihnen unseren Wagen mit John, unserem Chauffeur, der Sie sicher nach Guildford bringen wird und zurück.«
»Ich tue das gern, Miss Haswell, und komme lieber mit meinem eigenen Wagen. Ich fühle mich sicher, zumal ich besonderen Schutz habe.«
Diese Bedingung, dass Blackie sie auf der Fahrt begleiten dürfe, hatte sie Mr Merskin abgetrotzt.
»Dann ist ja alles wunderbar geregelt.« Julia Haswell war erleichtert. »Ich bin allerdings überrascht, wie formal die Juristen sind und wundere mich natürlich ein bisschen darüber. Das müssen Sie, Mr Merskin, einer jungen Frau ohne Erfahrung nachsehen. Aber Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich dieses Erbstück, dieses Juwel, das als wichtigste Preziose der Familie gilt und das nur meine Mutter ein paar Mal getragen hat, nachdem Großmutter gestorben war, gern einmal wiedersehen und in der Hand halten möchte, wenn Sie es mir denn schon nicht heute überlassen wollen.«
Mr Merskin überlegte nur kurz. »Dagegen kann wohl keiner etwas haben, gnädiges Fräulein. Amy, geben Sie mir bitte mal den Umschlag.«
Er nahm den Umschlag, zeigte das unversehrte Siegel, brach es und entnahm ihm eine blaue Kassette, die er auf den Tisch legte. Mr Merskin wandte sich fast väterlich an Julia Haswell. »Öffnen Sie nur die Schatulle. Es ist ja bald die Ihre.«
Julia Haswell drückte auf den goldenen Knopf an der einen Längsseite, der Deckel sprang auf.
Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erstaunen und gleichzeitig Erschrecken ab. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als wenn sie einen Schrei unterdrücken wolle. Alle anderen sahen es im gleichen Moment: Die Kassette war leer. Einen Augenblick stand entsetztes Schweigen im Raum. Selbst der sonst so beherrschte Mr Merskin war wie gelähmt. Dann sprachen mehrere Stimmen gleichzeitig durcheinander. Mr Merskin wollte schon nach der Kassette greifen, um sie näher zu untersuchen, als Amy ihn zurückhielt und ihm halblaut riet, sie nicht zu berühren, um mögliche Spuren nicht zu verwischen. Der alte Herr gewann sofort wieder seine besonnene Ruhe und Autorität.
»Bitte, niemand darf etwas anrühren. Hier ist etwas völlig Unglaubliches passiert. Ich fürchte, wir müssen die Polizei einschalten.«
Mr Merskin unternahm es selbst, das zu tun, bat Mr Goodwin, alle Unterlagen bezüglich des Verwahrstücks für eine Untersuchung vorzubereiten, und Amy, sich der immer noch fassungslosen Julia Haswell anzunehmen. Das Zimmer mit dem Umschlag und der Kassette auf dem Tisch wurde verschlossen.
Es gelang Amy, Julia Haswell einigermaßen zu beruhigen. Sie stellte ihr Blackie vor und war froh, in ihr eine tierliebende Seele zu entdecken, die darüber fast ihren Kummer vergaß. Blackie schien zu fühlen, dass Amy seine Hilfe brauchte und gab sich einigermaßen zutraulich, sodass Julia schließlich von Rasse und Würde des großen Hundes ganz fasziniert war und anfing, mit Amy über die Möglichkeit zu reden, mit ihm eine Zucht anzufangen. Dieser Vorschlag kam ihr ganz natürlich, weil ihr Vater, wenn man ihr glauben konnte, durchaus mit ihrer Hilfe eine eigene Spanielzucht aufgebaut hatte. Sie redete über das Thema mit großem Engagement und offenbar umfangreicher Sachkenntnis, was Amy, der solche Überlegungen völlig fernlagen, einigermaßen verlegen machte. Jedenfalls überbrückte das großartig die Zeit, bis Mr Merskin die beiden jungen Frauen in das Besuchszimmer bat, in dem inzwischen zwei Detektive der Polizei des County Surrey warteten. Leutnant Morsley begann mit seiner Vernehmung und ließ sich Hintergrund und Umstände dieses merkwürdigen Verlustes erklären. Es wurde festgestellt, dass der Umschlag mit unbeschädigtem Siegel von der Bank in die Kanzlei gebracht und erst dort in Gegenwart von allen Beteiligten geöffnet worden sei. Es wurde weiter festgestellt, dass der Umschlag mit der Kassette in den vergangenen Jahren ab und zu aus der Verwahrung geholt worden war, weil Julia Haswells Mutter bis zu deren 21. Geburtstag ein Verfügungsrecht über den Schmuck hatte und ihn wiederholt benutzte. Der Schmuck wurde anschließend zurück in die Verwahrung durch die Firma Merskin & Threadwell verbracht.
Hier hakten die erfahrenen Detektive ein. Wie oft war der Umschlag in den Jahren abgeholt worden? Wann zum letzten Mal? War er versiegelt zurückgebracht worden oder waren Kassette und Inhalt überprüft und der Umschlag in der Kanzlei versiegelt worden?
Es brachte Mr Merskin und die zuständigen Mitarbeiter in der Kanzlei etwas ins Schwitzen, glaubwürdig zu erklären, dass der Umschlag mit der Kassette vor vier Jahren zum letzten Mal abgeholt und mit dem Siegel der Haswells verschlossen, zurückgebracht und in Verwahrung genommen worden sei.
Das machte eine Untersuchung erforderlich, wie mit dem Schmuck umgegangen wurde, wenn er von der letzten Viscountess Haswell benutzt wurde. Mr Merskin hatte den Viscount bereits telefonisch von dem Verlust des Schmucks unterrichtet und verabredete in einem weiteren Gespräch, dass Detektive mit den sonstigen Beteiligten von Merskin & Threadwell am folgenden Tag nach Colridge Manor kommen würden, um die Untersuchung fortzusetzen. Viscount Haswell bat darum, die ganze Angelegenheit vertraulich zu behandeln, was Mr Merskin ihm auch zusicherte.
Am Kopf des Eichentisches in der großen Halle von Colridge Manor saß der alte Viscount Haswell, rechts neben ihm Mr Merskin, links von ihm seine Tochter Julia. Sonst um den Tisch verteilt saßen die beiden Detektive, Mr Goodwin von der Kanzlei und ganz am Ende Amy. Wie üblich lag Blackie hinter ihrem Stuhl. Vor dem Tisch hatten sich einige der Angestellten des Hauses aufgestellt, an ihrer Spitze der Butler, der weißhaarige George Boswell, dann der Sekretär des Viscount, Alfred Erwin, und ihm folgend noch die ehemalige Zofe der Viscountess und der Fahrer John. Auf die Anwesenheit weiterer Angestellter hatten die Detektive verzichtet. Das Corpus Delicti, der Umschlag mit der leeren Kassette, lag auf einem kleinen Tisch etwas an der Seite.
Detektiv-Leutnant Morsley gab dem Viscount und den sonstigen Beteiligten einen kurzen Bericht über den Sachstand der Untersuchung. Er endete damit, es gebe gewisse Verdachtsmomente, dass das bedeutende Familienschmuckstück beim letzten Gebrauch hier in Colridge Manor abhandengekommen sei. Um diese zu erhärten oder auszuschließen sei vorgesehen, alle Mitglieder, die mit dem Schmuckstück zu tun gehabt hätten, zu befragen. Darüber hinaus wolle man auf Wunsch der Familie die Hilfe von Hunden einsetzen, die mit ihrem Geruchssinn vielleicht schneller, als es Menschen vermögen, Spuren finden könnten. Dahinter steckte ein von Amy mit Julia Haswell ausgedachter Einsatz von Blackie, dem nach einigem Zögern auch der Viscount zugestimmt hatte, nachdem er Blackie kurz kennengelernt und mit den Augen eines erfahrenen Hundezüchters seine Klasse und Integrität festgestellt hatte, obwohl er die Rasse selbst nicht kannte.
Amy stand auf. Blackie folgte ihr bei Fuß. Sie führte den Hund zu dem Tisch mit den Asservaten und ließ ihn kurz Witterung an der Kassette aufnehmen. Der Hund verstand offensichtlich, was man von ihm wollte. Er hob seine Nase in die Luft, drehte seinen Kopf hin und her. Und dann geschah das Unerhörte. Er nahm mit seinem Fang die Kassette auf, bevor ihn irgendeiner daran hindern konnte, drehte sich um und steuerte ohne Umschweife auf die Reihe der Angestellten zu und legte die Kassette vor die Füße von Alfred Erwin, dem Sekretär, setzte sich auf seine Keulen, sah den Mann aus seinen grünen Augen an und bellte einmal mit seiner tiefen Stimme.
Der Mann war bleich geworden. Er fing an zu zittern und schrie plötzlich: »Nehmt den Hund weg! Nehmt den Hund weg! Der Hund macht mich verrückt!«
Unvermittelt drehte er sich um und stürzte aus der Halle, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte, weil alles so plötzlich geschah.
Nachdem sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte, standen Detektiv-Leutnant Morsley und Mr Merskin bei Viscount Haswell und unterhielten sich, was weiter zu tun sei.
»Mein Mitarbeiter kümmert sich schon um Mr Erwin. Der Mann scheint nicht bei sich zu sein. Er jammert nur und redet wirres Zeug, als sei er behext. Wir werden ihn wohl mitnehmen müssen, Viscount Haswell.«
»Nur zu. Ich hätte nicht gedacht, dass Alfred zu einer solchen Tat fähig wäre. Immerhin war er dreizehn Jahre in meinen Diensten. Bisher ist ja nichts bewiesen. Wir haben vor allem das Schmuckstück noch nicht gefunden, den Beweis seiner Schuld.«
Da mischte sich seine Tochter Julia ein, die hinter ihm stand.
»Wenn du erlaubst, Vater, könnten wir mit dem Hund danach suchen. Ich habe da alles Zutrauen.«
Der alte Herr dachte kurz nach. »In mir sträubt sich etwas dagegen. Man muss jedem Menschen, so verdächtig er sich auch gemacht hat, doch seinen Freiraum geben. Andererseits bin ich hier Herr im Haus. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen.«
Eine halbe Stunde später waren Detektiv-Leutnant Morsley mit Julia Haswell und Amy wieder in der Halle. Sie hatten in Begleitung des Butlers mit dem Hund das kleine Apartment des Sekretärs inspiziert. Blackie hatte sie ohne zu zögern zu einer Kommode geführt, bei deren näherer Untersuchung sich ein Päckchen fand, das mit Klebestreifen unter dem Boden der Kommode befestigt war, darin lag das Collier. Es war fast unbeschädigt. Es fehlte nur einer der Brillanten. In einer Schatulle im Nachttisch fanden sich 3.610 Pfund Sterling mit der Abrechnung eines Londoner Juweliers über den Ankauf eines Brillanten für 4.000 Pfund. Das, die Fingerabdrücke des Sekretärs und schließlich sein Geständnis lösten den Fall. Er hatte vor vier Jahren den Auftrag der Viscountess Haswell, das Collier, das sie für eine Wohltätigkeitsveranstaltung unter ihrer Schirmherrschaft benutzt hatte, der Kanzlei Merskin & Threadwell zurückzugeben, auf seine Weise gelöst. Er hatte den Halsschmuck für sich behalten und die leere Kassette im versiegelten Umschlag zurückgesandt. Er hatte geplant zu kündigen und sich mit seinem Raub abzusetzen, dann aber den Absprung verpasst.
Alle freuten sich über die Aufklärung der Geschichte und beglückwünschten Amy zu ihrem erstaunlichen Hund und seinen fast übernatürlichen Kräften.
Detektiv-Leutnant Morsley lächelte ein bisschen und wandte sich zu Oberst Burgess. »So übernatürlich muss das nicht gewesen sein. Wenn das Kästchen noch die Witterung des Burschen nach dem letzten Einpacken trug, dann hat Ihr Blackie sie vielleicht nur zu dem getragen, dessen Witterung er aufgenommen hatte. Es ist erstaunlich, was solche Vierbeiner können. Immerhin war es vier Jahre her, dass Alfred die Kassette in Händen gehabt hatte. Verwunderlich ist allerdings, dass der Hund in Alfreds Zimmer sofort auf das Päckchen unter der Kommode zusteuerte. Alle anderen Objekte in dem Zimmer trugen die gleiche Witterung von Alfred. Tja, bemerkenswert ist das schon.«
Julia trug das Collier am Sonntag zum großen Fest, das ihr Vater ihr aus Anlass ihres 21. Geburtstags gab. Sie trug es ohne den fehlenden Brillanten und hatte geschworen, dass der zur Erinnerung an diese Geschichte nie ersetzt werden solle. Zu den Gästen des Festes gehörten auch Amy Burgess und Blackie. Der lag während des glanzvollen Empfangs allerdings nur auf der Schwelle der großen Tür zur Halle und beobachtete, was seine Herrin machte. Alle, die vorbeigingen, machten einen respektvollen Bogen um ihn. Er beachtete niemanden.
* * *
Eine richtige Kriminalgeschichte, nicht wahr, mein Herr? Ich habe das alles von Amy Burgess selbst, die sich noch Wochen danach nicht über die Aufregungen, die es besonders in der Kanzlei gab, beruhigen konnte. Den Haswells und vor allem den Burgess‘ war es eigentlich gar nicht lieb, dass sie und der Hund durch die Geschichte so bekannt wurden. Es gab sogar ein paar Zeitungsreporter, die darüber schrieben. Aber das war über die Jahre eigentlich nicht einmal die wichtigste der Geschichten, die sich um diesen außergewöhnlichen Hund rankten.
* * *
Im Laufe der Zeit gewann Amy den Eindruck, dass Blackie ein besonderes Benehmen an den Tag legte, wenn sie an Friedhöfen vorbeigingen. Er hob dann seinen Kopf höher, stellte seine großen Lauscher noch mehr als sonst auf und schien mit seiner auffälligen Haltung anzeigen zu wollen, dass er die Besonderheit des Ortes erkenne und würdige. Er benahm sich, wie Amy fand, ›feierlich‹, wie man es bei Menschen nennen würde. Darüber hinaus schien er sie durch Zeichen auf den Genius Loci hinweisen zu wollen, ging dicht bei Fuß oder sogar etwas vor ihr, stieß sie manchmal mit seiner Schnauze leicht an oder blickte zu ihr hoch. Wenn sie, wie es selten vorkam, über den Friedhof gingen, blieb er, wenn Amy an einem Grab stehen blieb, auf seinen Keulen sitzen und bellte mit einem Laut kurz auf, der sich wie ein Klageruf anhörte.
Amy stellte diese Eigenart fest, wenn sie, wie es fast täglich geschah, am Friedhof von St. James vorbeigingen oder ihn betraten. Selbst auf dem Hundefriedhof benahm sich Blackie sonderbar. Sie machte sich darüber Gedanken und kam zu dem Schluss, dass Blackie offenbar ähnliche Gefühle wie Menschen entwickelte, die an solchen Orten ihr Verhalten dämpften, um den Frieden und die Würde des Ortes der Toten nicht zu stören. Nur das merkwürdige gelegentliche Bellen konnte sie sich nicht erklären.
Im Laufe der Zeit bestätigte sich dieses eigenartige Verhalten des Hundes auf oder in der Nähe verschiedener anderer Friedhöfe und sonstiger Begräbnisstätten, aber auch bei der Begegnung mit Beerdigungsprozessionen. Amy fiel auf, dass sich umgekehrt aus seinem Verhalten Rückschlüsse darauf ziehen ließen, dass man sich in der Nähe eines Begräbnisplatzes befand, den man selbst als solchen eigentlich nicht erkannt und gewürdigt hatte.
Blackie wusste anscheinend genau, dass sie sich an einem Platz befanden, auf dem viele Menschen zu Tode gekommen und begraben worden waren, als er mit Amy den alten Oberst Burgess beim Besuch verschiedener historischer Schlachtfelder begleitete und zeigte das dann durch sein verändertes Verhalten. Das war so nicht nur bei einem Besuch der Normandie, wo sie zunächst die Landungsstellen der alliierten Truppen am D-Day 1944 besuchten, sondern auch später, als sie über das Schlachtfeld von Azincourt bei Calais gingen, wo die Engländer unter König Henry V. während des Hundertjährigen Kriegs im Jahre 1415 die Franzosen vernichtend geschlagen hatten, als Charles VI. König von Frankreich war.
Genauso war es, ein paar Jahre später, als sie bei anderer Gelegenheit das Schlachtfeld von Hastings in Battle in East Sussex besuchten, auf dem 1066 Herzog William aus der Normandie den letzten angelsächsischen König Harold II. und seine Truppen besiegte und König von England wurde, oder auf dem Stück Erde bei Leicester, auf dem im Jahr 1485 König Richard III. sein Leben verlor und der Sieger, Henry Tudor, Earl of Richmond, König von England wurde, der Erste der Tudors.


