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Das, was sie da eben gehört hatte, machte Amy zu schaffen. Sie dachte an Blackies Verhalten an Friedhöfen und Grabstätten und sah sich plötzlich tausend Fragen gegenüber. Sie bedankte sich bei dem Kurator für seine Erklärungen und bat darum, ihn am Ende noch etwas weiter befragen zu dürfen.
Der Kurator lud sie später zu einem frugalen Lunch im Museumscafé ein, wo Amy ihm über Blackie und seine Eigenheiten und Taten berichtete. Das wiederum fand bei Mr Al-Budai, dem Kurator, einem Professor für Geschichte und Mythologie der Universität von Kairo, uneingeschränktes Interesse. Amy zeigte ihm zwei Fotos, auf denen der Gelehrte unschwer die Anubis geweihte Hunderasse erkannte, die, wie er erklärte, von den Ägyptern auch ›Anubis-Hunde‹ genannt würden.
Als er erfuhr, dass die Burgess’ noch den Besuch von Luxor und danach Assuan planten, gab er ihnen seine Karte und schrieb ein paar arabische Wörter auf die Rückseite und den Namen Ernest Graham.
»Er ist Kurator im ›Tal der Könige‹ bei Luxor, das Sie sicher besuchen werden. Er ist ein Freund und wird sich gut um Sie kümmern. Ich werde Sie ihm avisieren. Außerdem empfehle ich Ihnen auf der Weiterfahrt nach Assuan einen kurzen Aufenthalt im Ort El Kays zu machen und die Reste des alten Tempels des Anubis auf der Nilinsel zu besuchen, was vielleicht nicht ganz einfach zu arrangieren ist, weil es nicht in den normalen Fahrplänen der Kreuzfahrtschiffe vorgesehen ist. Der Tempel ist uralt und zeigt natürlich nicht so viel her wie das, was Sie in Luxor sehen und sonst auf der Route. Aber bei Ihrem Interesse an dem, was Ihr Hund möglicherweise verkörpert, könnte ich mir vorstellen, dass sich der Aufenthalt lohnt.«
Nachts träumte Amy zum ersten Mal von Blackie. Zunächst erschien er ihr, wie sie ihn kannte, als der Hund, der ihr Gefährte war. Dann verwischte sich das Bild mit dem des Gottes Anubis aus dem Museum, der sich riesengroß über sie beugte. Der Gott sprach auch mit ihr. Aber, als sie morgens aufwachte, konnte sie sich nicht erinnern, was er ihr gesagt hatte.
Am Ausflug zu den Pyramiden bei Giseh nahm Blackie teil. Er wartete geduldig, während Oberst Burgess und nach einigem Zögern auch Amy sich einem der Führer für einen Kamelritt um die Pyramiden vorbei an der großen Sphinx mit anschließendem Besuch einer der Grabkammern in der Cheopspyramide anvertraut hatten. Auf diesem Wege benahm der Hund sich mehrfach sehr merkwürdig. Er blieb immer wieder stehen, an den Pyramiden selbst und an den Mastabas, auf dem westlichen und im östlichen Friedhof, legte seinen Kopf zurück und ließ einen tiefen Laut hören, kein Bellen, sondern eher ein Heulen, wie eine Wehklage. Es war nur kurz und keiner konnte Anstoß daran nehmen. Nur ein paar Kameltreiber sahen erschrocken zu dem Hund hin und machten Bewegungen, als wollten sie niederknien. Amy bekam fast ein bisschen Angst vor ihrem Hund. Ihr gegenüber ließ er überhaupt keine Änderung seines bisherigen, anhänglichen Benehmens erkennen.
Die sechs Tage in Kairo gingen nach einem Tagesausflug zum alten Memphis und zur Stufenpyramide von Sakkara und einem Ausflug per Schiff in das Nildelta bis zum Tempel von Dendera schnell vorüber und verliefen darum zur besonderen Zufriedenheit von Oberst Burgess, weil er den Besuch eines höheren Offiziers der ägyptischen Armee erhielt, der ihn als ehemaligen Offizier einer befreundeten Nation würdigte und zu einem Besuch seines Offizierskasinos einlud.
Die Fortsetzung des Urlaubs fand auf dem etwas älteren, aber besonders luxuriösen Nilkreuzfahrtschiff ›Alexandria‹ statt, das sich bei aller Modernisierung seiner technischen Einrichtungen die Atmosphäre eines guten englischen Klubs bewahrt hatte. Das Doppelapartment im oberen der beiden Hotel-Stockwerke war bequem und sah einen Platz für Blackie vor, der von dem Personal mit zwei anderen Hunden, die auch mit an Bord gekommen waren, aufmerksam und, wie es Amy erneut schien, fast ehrfürchtig behandelt wurde. Seinen Auslauf fand der Hund meistens abends, wenn das Boot an einem der Nilorte anlegte.
Meistens hielten sich Vater und Tochter Burgess im Verlauf des Tages auf der Aussichtsplattform auf dem Oberdeck auf, wo man unter Sonnensegeln einen Blick über den Fluss und die Uferregion hatte und den leichten Wind genießen konnte, der ständig über dem Nil hinzog. Während Amy las, in ihrem Tagebuch schrieb oder ihren Hund beobachtete und nur gelegentlich einen Blick über das Wasser und auf die Uferregion warf, hatte Oberst Burgess oft das Fernglas am Auge und wunderte sich vor allem über das Nebeneinander von Baumaßnahmen und technischen Einrichtungen eines sich modernisierenden Staates und von Dingen, die es gegeben haben mochte, solange es den Nil und eine Zivilisation im Niltal gab. Da waren auf dem Wasser die alten Nilbarken, sogenannte Feluken mit ihren Trapezsegeln, auf denen Personen- und Frachtverkehr des Landes seit Jahrtausenden stattgefunden hatte oder die Wasserschöpfräder am Uferrand, die den Wassersegen den Feldern im engen Niltal zuführen. Die Eindrücke eines uralten Landes überwogen immer mehr, je weiter sie nach Süden kamen.
Blackie lag auf dem Sonnendeck meistens im Schatten neben Amys Liegestuhl. Nur manchmal stand er auf und ging an die Reling und schaute, wie es schien, in angespannter Haltung zu einem Punkt am Ufer, dessen Bedeutung für Amy und ihren Vater meistens nicht zu erkennen war und ließ gelegentlich einen kurzen, leisen Klageton hören. Nur am Anfang, als sie Kairo gerade verlassen hatten und Oberst Burgess mit dem Glas die Spitzen der Pyramiden auszumachen versuchte, stand der Hund neben ihm und heulte ein wenig lauter auf.
Für die etwa 700 Kilometer lange Strecke flussaufwärts nach Luxor brauchte die Alexandria zweieinhalb Tage, die Vater und Tochter Amy nicht lang wurden. Sie legten einmal abends in el-Balyana an, gingen mit Blackie von Bord und beobachteten das Leben und Treiben in der uralten Stadt, die über einer der Metropolen des alten Ägyptens, dem alten Abydos, entstanden war, das schon in vordynastischer Zeit von Bedeutung war.
Am nächsten Morgen besichtigten sie freigelegte Reste der Tempel für Sethos I., die Reste eines Osiris-Tempels und alte Grabfelder aus vordynastischer Zeit, auf denen Blackie wiederum mehrmals kurz seine Klagelaute hören ließ. Sie sahen an verschiedenen Tempelwänden auch Reliefs des Anubis.
Auf dem Rückweg zum Schiff liefen sie über den lokalen Markt, ohne von den in Ägypten nur allzu oft aufdringlichen Verkäufern lokaler Früchte, von Schmuck und Kleidung belästigt zu werden, was sie wohl zu Recht der Begleitung durch Blackie zuschreiben konnten, der allen Leuten Respekt und vielleicht sogar Ehrfurcht oder gar Angst einzuflößen schien.
In Luxor war ein Aufenthalt der Alexandria von drei Tagen vorgesehen. Das Schiff hatte einen für die Reisenden recht bequemen Liegeplatz, bequem, weil man direkt vor dem alten Luxushotel ›Old Winter Palace‹ lag, in dem man Tagesbequemlichkeit und jede Möglichkeit der Kommunikation und drei gute Restaurants fand. Als Erstes stellte Oberst Burgess Verbindung zu dem ihnen vom Kurator des Ägyptischen Museums empfohlenen Kurator des Tals der Könige, Ernest Graham, her, der von seinem Kollegen schon informiert war und ihnen anbot, sie am nächsten Tag persönlich nach Theben-West, der Gräberstadt auf der Westseite des Nils, zum Tempel der Hatschepsut und schließlich ins Tal der Könige zu begleiten. Zum Kennenlernen verabredeten sie sich für den Abend zum Dinner im Old Winter Palace.
Ernest Graham, Mitte sechzig, war, wie sich herausstellte, ein in Habitus und Persönlichkeit typisch englischer Professor – easy to talk to – sehr gelehrt, ohne Aufdringlichkeit oder Weltfremdheit. Er kam mit seiner Frau Lucy, die von der Art war, dass man sie nach kurzem Kennenlernen am liebsten als Familientante adoptiert hätte. Es dauerte also nicht lange, bis man sich nach Austausch von ein paar einführenden Fragen und Antworten fast wie eine Familie benahm.
»Sie sind aus Weybridge? Wie interessant. Wir kommen aus Esher. Wir sind somit eigentlich Nachbarn!«
»Sie waren Chef der 22. Fuseliers? Wir sind befreundet mit John und Edith Granworth, Ihrem Nachfolger bei den Fuseliers. Vielleicht wissen Sie, dass er auch aus Esher stammt.«
Das britische Netzwerk arbeitete.
»Esfra, ich meine meinen Kollegen und Freund im Ägyptischen Museum, Mr Al-Budai, den ich sehr schätze, hat Sie bei mir schon angekündigt und mir empfohlen, mich um Sie zu kümmern, was ich umso lieber tue, nachdem ich Sie kennengelernt habe.«
Es entspann sich eine rege Unterhaltung, die natürlich, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, zunächst auf die Ermittlung beiderseitiger Bekanntschaften, Erlebnisse und Interessen einging, um später zur Diskussion der bisherigen Reiseeindrücke und Erfahrungen überzugehen. Und in dem Zusammenhang kam Ernest Graham darauf zu sprechen, was ihm sein Kollege Al-Budai über Blackie berichtet hatte.
»Wo ist denn Ihr Hund zurzeit?«
»Er liegt vor der Tür. Er würde uns nie beim Dinner stören, wie wir ihm nicht zusehen, wenn er seine Mahlzeit bekommt.«
»Esfra machte ein paar Andeutungen, dass Sie ihm ein paar Wunderdinge über den Hund erzählt haben. Ich kenne diese Rasse, die man Anubis-Hunde nennt, und die in Ägypten, vor allem hier im oberen Ägypten, Verehrung genießt, ganz gut und weiß von der Intelligenz der Tiere.«
Das war Wasser auf die Mühlen von Amy. Während Oberst Burgess meistens schmunzelte und nur manchmal ein paar Worte zur Bestätigung dessen, was Amy erzählte, einwarf, berichtete die von ein paar der wichtigsten Großtaten von Blackie.
»Wirklich erstaunlich«, meinten Ernest und Lucy Graham übereinstimmend.
»Na, wir werden Ihren Blackie ja wohl noch kennenlernen. Hoffentlich bringen Sie ihn mit zu unseren Besichtigungen in den nächsten Tagen. Wenn ich dabei bin, gibt es damit kein Problem, insbesondere da Ihr Hund, wie Sie sagen, sehr diszipliniert ist.«
Und damit war Professor Graham bei seinen Vorschlägen für die Gestaltung des Besichtigungsprogramms für die nächsten beiden Tage. Am kommenden Tag wolle er ihnen Karnak, den Tempelbezirk im Norden von Luxor, zeigen, und nachmittags die Gräberstadt auf der anderen Seite des Nils, mit einem anschließenden Besuch des Tempels der Hatschepsut. Abends würden er und seine Frau die Burgess’ gern bei sich zu Hause sehen. Am zweiten Tag möchte er mit ihnen das Tal der Könige besuchen, die berühmte Nekropole für Pharaonen und ihre Familien und Begleiter vornehmlich aus den Dynastien des frühen Neuen Reichs, also aus dem Mittelalter der ägyptischen Geschichte, der Zeit um 1500 vor unserer Zeitrechnung. Alle Welt kapriziere sich übrigens darauf, das Grab des Tutanchamun zu besichtigen, das bekanntlich erst 1922 völlig unbeschädigt gefunden und erforscht worden sei und heute tatsächlich die am besten erhaltene Grabstätte im ganzen Tal sei. Da dort der Andrang üblicherweise besonders groß werde, schlage er vor, dass man es vor der normalen Öffnung des Tals für andere Besucher besichtige. Das mache notwendig, dass er die Burgess‘ schon gegen 7 Uhr 30 morgens abhole.
»Wäre Ihnen das möglich und akzeptabel?«
»Das ist eine für uns normale Zeit. Meistens sind wir sogar früher auf.«
»So haben wir das Tal noch länger für uns, wenn ich bereits um 7 Uhr komme! Und auch mit dem Hund gibt es dann keine Probleme.«
Genau wie besprochen lief das Programm ab. Als Graham die Burgess‘ morgens mit seinen Landrover abholte, bewunderte er zunächst Blackie.
»Ohne Zweifel ein reinrassiger Anubis-Hund. Sie werden sein Konterfei oft auf unseren Rundgängen als Hieroglyphe, Relief oder als Abbild in den Grabkammern wiedersehen.«
Die Tempelanlage von Karnak für den Gott Amun und die Pharaonen Ramesses III. und Thutmosis III. mit ihren riesigen Säulen, dem großen Gräberfeld, dem Heiligen See begeisterte Vater und Tochter Burgess, wie alle Besucher, die in der Neuzeit vor ihnen dieses Weltwunder zu sehen bekommen hatten. Nur die vom späteren Vormittag an zunehmende Hitze machte den Rundgang ein bisschen beschwerlich.
Blackie benahm sich mustergültig. Als sie durch den Wald der großen Säulen gingen, zeigte er in seiner Haltung, dass er wusste, wo er war; aber er gab keinen Laut von sich. Erst in den Gräberfeldern setzte er sich ein paarmal hin und stimmte eine seiner kurzen Klagen an. Was ihn jeweils dazu bewegte, blieb wie zuvor rätselhaft. Gleiches geschah, als sie auf der Westseite des Nils die Tempel und Gräberfelder in Theben-West und insbesondere die große Tempelanlage der Hatschepsut besuchten. Er gab nur an den eigentlichen Gräberfeldern und an einigen der Mastabas seinen Klagelaut von sich.
»Wie üblich sind es offenbar nicht die Tempel, sondern die belegten Gräber, die ihn zu seiner Trauer anregen«, sagte Amy zu Professor Graham, was diesen erneut verwunderte. Und nicht nur den Burgess’, sondern in erster Linie ihrem Führer fiel auf, dass der Hund vor allem bei den Arbeitern und sonstigen Helfern mit Scheu beobachtet wurde, und das besonders, wenn er einen seiner kurzen Klagegesänge anstimmte.
»Fraglos, ein ganz ungewöhnliches Verhalten. Ich habe das bisher von keinem anderen der Anubis-Hunde gehört.«
Beim Dinner, abends bei den Grahams, wurde über die Erlebnisse des Tages gesprochen. Ernest Graham erzählte den Burgess unter anderem etwas über die große Pharaonin Hatschepsut, die ›Mutter Ägyptens‹, die für über zwanzig Jahre für ihren Mann und Bruder Thutmosis II. und nach dessen Tod für seinen Nachfolger Thutmosis III. das enorme Reich regierte, wie wohl keine andere Frau der Alten Welt. Er redete sich richtig in Begeisterung über diese außergewöhnliche Sonderstellung in der patriarchalischen Welt und meinte schließlich schmunzelnd, dass nicht einmal Margaret Thatcher dieser Frau hinsichtlich politischer Klugheit, Energie und Durchsetzungsfähigkeit das Wasser hätte reichen können. Anschließend gab er den Burgess eine Vorschau auf den bevorstehenden Besuch des Tals der Könige und anhand einer Skizze eine Übersicht über die wichtigsten Gräber. Am Ende seines kurzen Exkurses beantwortete er Amys Frage, ob man eigentlich im Tal der Könige oder dem der Königinnen alle Grabstellen gefunden habe mit: »Ich weiß es nicht« und zuckte die Achseln.
»Manchmal denke ich, dass es hier wie dort keinen Winkel gibt, in dem nicht gesucht wurde. Nicht nur von uns, den Erforschern der ägyptischen Vergangenheit, sondern vor allem auch von denen, die sich seit der Antike illegal an den verborgenen Schätzen bereichern wollten. Andererseits fehlen uns doch noch die Grabstellen für etliche Pharaonen und der ihnen nahestehenden Personen aus dieser Epoche der ägyptischen Geschichte, der der 17. bis 20. Dynastie. Irgendwo begraben müssen sie sein. Mich sollte es nicht wundern, wenn irgendwann einmal wieder ein aufsehenerregender Fund gemacht wird.«
Blackie lag derweil vor der Schwelle des Esszimmers und schien dem Gespräch zuzuhören. Er gab keinen Laut von sich.
Am nächsten Morgen stand Graham mit seinem Landrover pünktlich am Liegeplatz der Alexandria und nahm die beiden Burgess und den Hund auf, die Sonne stand bereits am Himmel, es war frisch.
»Die beste Zeit für diese Besichtigung. Ich mache meine Besuche drüben meistens um diese Zeit.«
Die Fahrt ging flott über die große Luxor-Brücke hinüber auf die Westseite und dann nach Norden. Geredet wurde nicht viel. Zwanzig Minuten später waren sie vor dem Eingang zum Tal der Könige. Die Wärter schlossen das Tor auf und Graham stellte seinen Wagen vor dem Verwaltungsgebäude ab. Der Fußmarsch begann über die sauber geharkten, von aus Beton gegossenen Begrenzungssteinen eingefassten Wege. Nur wenige Menschen – Wach- und Reinigungspersonal – waren zu sehen.
Vor ihnen lag der Eingang zum Tal, das an beiden Seiten durch verkarstete Berge begrenzt wurde, deren oben glatten Hügel in der Morgensonne fast hellrot glänzten, mit braunen bis lila Schatten in den Schründen an einigen Bergflanken und an den der Sonne abgewandten Stellen. Während manche der Hügel fast wie riesige Dünen wirkten, war doch sichtbar, dass es sich um ein uraltes Gebirge handelte. Überall gab es stark verwitterte steile Abstürze und Eingänge zu Seitentälern, als wenn es sich um ein vor Tausenden von Jahren ausgetrocknetes Flussbett mit Seitenarmen handele. Kein Busch oder Baum war zu sehen. Die morgendliche Stille wurde nur durch das entfernte Pochen eines Dieselmotors unterbrochen.
»Eigentlich sieht es hier aus, wie ich mir eine Mondlandschaft vorstelle, Papa«, meinte Amy.
»So ganz unrecht hast du da wohl nicht, Amy. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass man sich in einer ganz besonderen Umgebung befindet. Besonders, wenn man sich die Leichenbegängnisse vorstellt, die diesen Weg entlanggezogen sind!«
Sie kamen an den ersten Abzweigungen von ihrem eingefassten Fußweg vorbei. Diese Abzweigungen führten auf längeren oder kürzeren Wegen zu den einzelnen Grabstätten, in den Berg links oder rechts getriebenen Stollen mit einfachen oder mit einem besonderen steinernen Rahmen eingefassten Zugängen.
Professor Graham begann mit seinen Erläuterungen. Er redete ein bisschen über die Geschichte der Entdeckung dieser Nekropole, sagte, dass alle Gräber in einem KV-Verzeichnis nummeriert seien, wobei die Abkürzung KV für ›Kings’ Valley‹ – Tal der Könige – stehe. Diese Öffnung an der linken Seite zum Beispiel sei die Grabstätte KV5, das ehemalige Grab von Söhnen des Pharao Ramesses II. aus der 20. Dynastie, mit um die 120 Kammern eine der größten Grabanlagen des Tals überhaupt. Etwas weiter, KV6 sei das Grab Ramesses II., oder Ramses II, wie er früher genannt wurde, einer der größten Pharaonen, selbst. Wie die meisten der Gräber seien sie bei ihrer Entdeckung bereits von Grabräubern geplündert gewesen und das meistens nicht neuerdings, sondern bereits zu Zeiten des alten Ägyptens, wie man aus Papyri wisse. Man habe aus den verbliebenen Inschriften jedoch die Namen der Begrabenen identifizieren können.
Sie kamen in einen Abschnitt, wo sich das Tal weitete.
»Hier und in unmittelbarer Nähe sind besonders viele Gräber, unter anderem das von Tutanchamun, das den Grabräubern entging und, wie schon gesagt, erst 1922 von Carter entdeckt wurde. Es erhielt die trockene Bezeichnung KV62 und war eine Sensation. Die Schätze, die in dem Grab gefunden wurden, einer Anlage, die über eine steile Treppe in eine verwinkelte Anlage mehrerer Kammern führte, waren spektakulär. Es dauerte Jahre, sie zu bergen und zu katalogisieren. Sie kennen sicher Bilder, zum Beispiel von der goldenen Totenmaske, dem berühmten Alabastergefäß, dem Totemwagen und andere. Zu ihnen gehörte übrigens auch eine große Statue des Anubis in der Gestalt eines Hundes. Sie werden sehen. Allerdings sind die originalen Fundstücke in keinem der Gräber mehr verblieben. Nur noch einige Nachbildungen.«
Sie waren inzwischen vor dem Eingang zur Grabkammer KV62 angekommen. Der Mitarbeiter, der sie begleitete, schloss die Außentür auf, schaltete die Beleuchtung ein und sie begannen ihren Abstieg. Blackie war ohne Aufforderung vor dem Eingang liegen geblieben.
»Wir können sicher sein, dass uns niemand, jedenfalls kein hiesiger Ägypter, stören wird, solange der Hund in der Pose vor dem Eingang liegt«, hatte Ernest Graham gemeint.
Nachdem sie die erste Türöffnung hinter sich gelassen hatten, ging es einen Gang schräg abwärts zur nächsten Türöffnung, zur sogenannten Vorkammer, in der es bei der Öffnung des Grabes angeblich ein Durcheinander von Dingen gab, die bei den Grablegungen gebraucht worden waren.
Die Räume der Grabanlage waren gut ausgeleuchtet. Es herrschte die sprichwörtliche Grabesstille, sodass jeder seinen eigenen Atem, das Herzklopfen, die Schritte und das Rascheln der Kleidung zu hören meinte. Im Vorraum begann Graham wieder mit seinen Erläuterungen. Unwillkürlich dämpfte er seine Stimme und auch die Burgess wagten kein lautes Wort, wenn sie Fragen hatten. Die Wände waren mit Ausnahme einiger Schriftzeichen undekoriert, nur ein paar Kultgefäße standen davor. Durch eine weitere Türöffnung, die, wie Graham betonte, ursprünglich geschlossen und vom Entdecker Carter trotz der berühmten Verfluchung aller Eindringlinge gewaltsam geöffnet worden war, kam man dann in die eigentliche Grabkammer, in der ursprünglich die Mumie des Pharaos bestattet gewesen war.
»Hier stand sozusagen sein Totenhaus. Sie kennen ja die prominente goldene, zum Teil blau emaillierte Totenmaske des Tutanchamun, die den Kopf der Mumie bedeckte. Die Mumie war eingeschlossen von mehreren bemalten Särgen, die ihrerseits in den granitenen Sarkophag eingeschlossen waren. Und der wiederum war seinerseits von vier immer größeren hölzernen und bemalten Truhen umschlossen. Der ganze Raum war damit ausgefüllt. Erst jetzt, da sich dies alles, einschließlich der Mumie selbst, im Ägyptischen Museum in Kairo befindet, kann man die Ausmalung der Grabkammer richtig erkennen und würdigen.«
Die Farben leuchteten im Licht der gut platzierten Lampen. Besonders eindrucksvoll war die Gruppe an der Nordwand, die darstellt, wie der Pharao, gefolgt von seinem Ka, dem ihm identischen Abbild seiner Seele, vom Gott der Unterwelt Osiris empfangen wird.
»Warum ist Osiris denn ganz in Weiß mit grüner Gesichtsfarbe dargestellt?«, wollte Amy wissen.
»Weiß war für die alten Ägypter die Farbe der Unterwelt und die grüne Gesichtsfarbe deutete an, dass Osiris nach ihrer Vorstellung immer wiedergeboren wurde.«
Graham las ihnen einige Grabinschriften vor und übersetzte sie, dann wies er auf die Südwand, wo die Bemalung Reste weiterer Götter darstellten, die Tutanchamun begleiteten, unter anderem auch der Gott Anubis, von dem allerdings nur noch Teile zu sehen waren.
Er zeigte ihnen einen kleinen Annexraum, in dem ursprünglich Grabbeigaben aller Art gestapelt waren und schließlich den sogenannten ungeschmückten Tresorraum, der durch eine Wandöffnung betreten werden konnte. In ihm stand eine Abbildung des Anubis als liegender Hund, eine Nachbildung des Originals im Ägyptischen Museum.
»Hier ist Ihr Blackie, Miss Burgess. Vielleicht etwas schlanker dargestellt, als Ihr Hund es ist. Aber er ist es, typisch. Im Übrigen enthielt dieser Raum bei seiner Öffnung durch Carter Hunderte von Objekten aller Art, einige von unschätzbarem Wert, andere typische Gerätschaften, die der junge König geliebt hatte, mehrere Wagen zum Beispiel, mit denen er zur Jagd fuhr.«
Sie verbrachten fast eine ganze Stunde in dem berühmtesten aller Pharaonengräber. Dann stiegen sie wieder an die Oberwelt, wanderten ihren Weg hinauf ins Tal und besichtigten eine weitere ausgedehnte Grabstelle, KV11, das Grab vom Pharao Ramesses III., mit wunderschönen Ausmalungen. Danach kamen sie an das Ende eines der Seitentäler des weitverzweigten Tals der Könige. Die letzte, etwas abgelegene Grabstelle KV15 dort, die des Pharao Sethos II. aus der 19. Dynastie, brachte, wie es bei längeren Museumsbesuchen zumeist vorkommt, nichts aufregend Neues. Die ersten Zeichen der Ermüdung machten sich bemerkbar, insbesondere bei Amy, die mit ihrem Handstock bisher brav mitgehalten hatte.
»Ich glaube, wir sollten uns auf den Rückweg machen, Mr Graham. Sie haben uns einen außerordentlichen Morgen beschert, der uns sicherlich lange beschäftigen wird«, sagte der Oberst.
»Es war mir ein besonderes Vergnügen. Vielleicht können wir heute Nachmittag einen kurzen Abstecher ins Tal der Königinnen machen, wo ich Ihnen ein paar interessante Einzelheiten zeigen kann.«
Amy hatte sich nach Blackie umgedreht, der ihr plötzlich nicht mehr bei Fuß folgte.
Blackie war vom Wege ab etwa dreißig Meter weit bergan gestiegen und stand wie erstarrt zwischen zwei Felsblöcken, die offenbar von den dahinter aufsteigenden Klippen heruntergestürzt waren. Er scharrte erst mit der rechten Pfote im Geröll, hob seinen Fang, als wenn er den Wind in verschiedenen Richtungen prüfen wolle und setzte sich dann auf seine Keulen und ließ zweimal kurz nacheinander seinen Klagegesang hören. Dann sah er zu Amy hin. Auf ihre Aufforderung, zu kommen, reagierte er nicht, sondern heulte noch einmal kurz auf.
Nun waren auch die Männer aufmerksam geworden.
»Ich kann mir nicht helfen, Mr Graham. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Blackie meint, genau an der Stelle eine Grabstelle mit Toten gefunden zu haben«, erklärte Amy.
Graham sah sie überrascht und ratlos an.
»Also, liebe Miss Burgess, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir die ganze Gegend hier nach weiteren Grabstellen fast umgepflügt haben. Und wir haben inzwischen ziemlich neuartiges Gerät für diese Untersuchungen.«


