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Aber natürlich nicht bei einer Frau, wie Dagmar Keller. In ihrer undiplomatischen Offenheit glich sie meiner Sonja, als hätte man sie geklont. Sie sagte nämlich … überhaupt nichts. Aber wie sie nichts sagte, indem sie mich schweigend und anscheinend hochkonzentriert bei meiner selbstquälerischen Mitteilung betrachtete, ja geradezu mit den Augen sezierte, war eines seitenstarken Romans von Dostojewski würdig. Ich sah förmlich den Titel auf meine Stirn geschrieben: Der Idiot. In solchen Situationen fragte ich mich immer wieder, was mich eigentlich an solch selbstbewussten und schlagfertigen Frauen so sehr faszinierte.
„Bevor du nun weiter blödelst …”, Heribert unterbrach sich kurz und bedeutete mir mit einer einladenden Geste, auf dem noch freien der beiden Besucherstühle Platz zu nehmen. Auf den anderen war inzwischen Frau Keller geglitten.
Heribert lehnte sich zurück, faltete die Hände im Nacken zusammen und reckte sich kurz, bevor er seinen unterbrochenen Satz wieder aufnahm. „Also, um die Sache abzukürzen, Dagmar Keller ist eine langjährige Kollegin. Früher war sie ebenfalls bei der Kripo, hat sich aber vor …”
„Vor drei Jahren”, half sie Heribert aus.
„Genau – vor drei Jahren hat sie sich in den Verwaltungsbereich versetzen lassen und arbeitet jetzt im Personalreferat in Mainz. Es geht um unser Leistungsbeurteilungssystem. Sie soll Kriterien zur Überarbeitung der Beurteilungsmerkmale zusammenstellen. Dazu recherchiert sie zurzeit bei uns.”
„Genügt denn für eine Beurteilung nicht die Aufklärungsquote und die Schnelligkeit, mit der ihr eure Fälle löst?”
„Damit ich dann arbeitslos werde?”, schaltete sich Dagmar Keller ein, lachte aber dabei.
„Sehen Sie, Herr Schäfer, es geht doch nicht nur um die Kollegen von der Schutz- oder der Kriminalpolizei. Es gibt so viele Innendienststellen, die ebenfalls in dieses Beurteilungssystem eingebunden sind. Und wir versuchen, ein einheitliches System zu gewährleisten, um keine Ungerechtigkeiten aufkommen zu lassen.”
„Darius”, seufzte Heribert, „sei doch nicht so blauäugig. Du erzählst mir doch auch immer, was sich bei euch so abspielt. Gestern schon wissen müssen, was morgen bereits ungültig sein wird, um heute die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Ich dachte auch immer, es geht darum, dass ich schnell und zuverlässig Aufklärung betreibe. Aber nicht nur in der großen Politik, auch bei uns wird dauernd eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Dabei haben wir in der Kriminalitätsbekämpfung einen Höchststand bei der Aufklärungsquote – fast 60 Prozent. Und das bei inzwischen jährlich rund 300 000 Straftaten.”
Heribert war nun in seinem Element. Obwohl dieses Thema wohl kaum etwas damit zu tun haben konnte, weshalb ich nach Alzey gefahren war, ließ ich ihn ausreden. Auch Dagmar Keller hielt sich erstaunlich bedeckt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrem tiefsten Inneren mit Heribert solidarisch fühlte.
Er war inzwischen aufgestanden und an eines der Fenster hinter seinem Schreibtisch getreten, die auf den benachbarten Schulhof hinausgingen. Er drehte uns den Rücken zu und schwieg für einen Moment. Während ich ihn dabei beobachtete, schweifte ich kurz mit den Gedanken ab.
Was hatten wir in der kurzen Zeit unserer Freundschaft schon alles erlebt und dabei bewiesen, dass wir uns in jeder Beziehung blind aufeinander verlassen konnten. Vielleicht verbanden uns ja die vielen Gemeinsamkeiten, die wir hatten. Beide waren wir nach langjährigen Ehen geschieden, weil wir unsere Frauen hinter den Beruf gestellt hatten. Wir hatten ähnlich gelagerte Interessen und Wertvorstellungen, die manche boshaft als „antiquiert” bezeichneten. Wir mochten und verabscheuten die gleichen Dinge und liebten provokative, jedoch nicht verletzende Streitgespräche. Hin und wieder gönnten wir es uns auch, entgegen unserer beruflich gebotenen und altersgemäßen Seriosität, während der unmöglichsten Situationen herumzualbern wie kleine Jungs. Dennoch wirkten wir dabei, glaube ich, durchaus nicht wie die Komikerpärchen Pat und Patachon oder Dick und Doof. Zumindest nicht, was unsere äußere Erscheinung betraf. Die ehemals volle, inzwischen ergraute, Haarpracht, die wir beide als Jugendliche zur „Elvisfrisur” gestylt hatten (wie alte Fotos unwiderlegbar bewiesen), lichtete sich zusehends.
Heribert war mit seiner Länge von 1,95 Meter nur knapp fünf Zentimeter größer als ich und etwas schlanker, obwohl er in der letzten Zeit etwas zugelegt hatte. Das lag nach seinem Bekunden an den Kochkünsten von Monika Ballmann, seiner neuen Liebe, wie er sagte. Seit ein paar Monaten schwebte er auf „Wolke Sieben”. Er hatte sie im Urlaub kennen gelernt und sie hatte die Chance genutzt, als ihr zufällig innerhalb der Hotelkette, in der sie beschäftigt war, angeboten wurde, sich von Düsseldorf nach Frankfurt versetzen zu lassen. Und nun sahen und bekochten sich die beiden jede freie Minute.
Vielleicht gründete unsere Freundschaft aber auch auf der Tatsache, dass wir beide es als Glückstreffer betrachteten, in unserem Alter – er Anfang und ich Mitte 50 – noch einmal die Chance bekommen zu haben, eine derart kameradschaftliche Beziehung aufzubauen.
„Da”, sagte Heribert und riss mich aus meiner Betrachtung. Auch Dagmar Keller zuckte zusammen. Sie war offenbar ebenfalls mit ihren eigenen Gedanken spazieren gegangen. „Schaut euch die Kids dort an. Um die geht es! Da steckt unsere Zukunft und da liegt die Entscheidung zwischen sozialem Frieden oder Krieg.”
Er deutete nach unten, auf den Schulhof und drehte sich dann wieder zu uns um. „Da lernen oder verweigern sich junge Menschen. Sie tragen auf jede nur erdenkliche Art ihre Konflikte mit sich und mit anderen aus. Sie versuchen sich zu orientieren, finden ihren Weg oder werden verführt und enttäuscht. Da müssen wir Prophylaxe betreiben! Dort müssen wir präsent sein, dann klappt es. Hier …”, er nahm das Dokument vom Tisch, in das er und seine Kollegin so versunken gewesen waren, als ich das Büro betreten hatte. Wie ein Werbefähnchen von McDonalds schwenkte er es durch die Luft. „Da kannst du es schwarz auf weiß lesen. Unsere Kriminalstatistik beweist eindeutig, dass sich die Art der Straftaten beängstigend verschoben hat. Waren- und Warenkreditbetrug, Fälschungsdelikte, Kinderpornografie im Internet, Wohnungseinbrüche haben zugenommen. Das Aggressionspotenzial ist gewachsen. Gewaltdelikte, also gefährliche und schwere Körperverletzung, sind auf circa 10 000 Fälle angestiegen.”
Er ereiferte sich, als ob es darum ginge, uns für eineDemonstrationsveranstaltung zu gewinnen. „Und nicht zu vergessen: Rauschgiftdelikte. Die sind um ca. 2 000 auf rund 17 500 Fälle angestiegen. Und …”
Ich unterbrach ihn. „Heribert, hast du mich deshalb nach Alzey kommen lassen? Das hättest du mir auch per Fax schicken können.”
Er war so in Fahrt, dass ich ihn mit meiner Bemerkung nur kurz abbremsen konnte. Dagmar Keller legte ihre Hand auf meinen Arm, als wollte sie sagen: Lassen Sie ihn, er braucht das. Er muss ein wenig Dampf ablassen, um den Kopf frei zu bekommen.
„Natürlich ist das nicht der Grund. Aber auch das beschäftigt mich. Überleg doch mal, Darius, wir hätten es in der Hand, etwas zu ändern. Wenn nur unsere Steuergelder mehr in Ausbildung, in Jugendarbeit, in Streetworker und in polizeiliche Vorbeugungsmaßnahmen investiert werden würden!”
„Hör mal, ich bin Steuerberater und nicht Steuerverteiler”, versuchte ich noch einmal, ihn zu bremsen. Sinnlos. Sag dem Sturm, er soll nicht toben.
„Es gibt ja bereits greifbare Ergebnisse. Die Polizeipräsidien haben mehr als 30 operative Einheiten an Brennpunkten der Straßenkriminalität eingesetzt. Und was glaubst du wohl war das Ergebnis?” Wollte er wirklich eine Antwort von mir?
Nein, die wollte er selbst geben, doch Dagmar Keller kam ihm zuvor: „Dort wo Zivilfahnder und die Kollegen vom Streifendienst präsent sind, funktioniert die Brandverhütung hervorragend.”
„Die Straßenkriminalität”, nahm Heribert wieder den Faden auf, „ist um mehr als 2 500 Straftaten zurückgegangen. Alleine die Sachbeschädigungen sind um mehr als 1 600 Delikte rückläufig, Kapitaldelikte, also Mord, Raub,Vergewaltigungen – rückläufig, sexuelle Nötigungen, Bedrohung mit und Einsatz von Schusswaffen – rückläufig. Aber das sind doch nur ein paar Tropfen auf immer mehr werdende heiße Steine.”
Endlich schien seine Tirade beendet. Heribert setzte sich wieder, schloss die Augen und verharrte für einen Moment, wie ein Schauspieler, der auf seinen wohlverdienten Applaus wartet.
„Heribert, bitte, du sagtest, du benötigst meine Hilfe wegen eines Kollegen auf La Palma. Ich weiß bis jetzt noch nicht, um was es geht. Aber …” und jetzt klopfte ich mit der flachen Hand mehrmals auf seinen Schreibtisch, um den nächsten Satz zu unterstreichen, „ich habe auch etwas für dich. Vor vier Tagen erhielt ich einen merkwürdigen Anruf. So, wie es scheint, von einem Berufskollegen von den Kanaren.”
Ich dachte, dass Heribert nun endlich zur Sache kommen würde, jedoch schien er es irgendwie darauf angelegt zu haben, mich zur Verzweiflung zu bringen. Offensichtlich hatte er mir überhaupt nicht zugehört und setzte nach der kurzen Verschnaufpause zu einem neuen Wortschwall an.
„Wie schon gesagt, wir hätten es in der Hand. Aber was machen wir? Wir vergeuden die für unsere Zukunft notwendige Zeit in Rückwärtsbetrachtungen. Nach dem Motto: ‚Wer kriecht seinem Chef am weitesten in den Allerwertesten‘. Da, lies!”
Mit einem schiefen Seitenblick auf seine Kollegin reichte er mir ein Papierknäuel, das er zuvor aus seinem Papierkorb gefischt hatte, entzog es mir aber sofort wieder mit der Bemerkung: „Gib her, ich lese es dir vor, damit du siehst, womit Dagmar und ich, wie auch all die anderen Kolleginnen und Kollegen, uns tatsächlich auseinandersetzen müssen, weil unser aller Wohl davon abzuhängen scheint.”
Er glättete das Dokument und las mit aufgesetzter Feierlichkeit. „Grundsätze der Beurteilung – das war die Überschrift. – Bedienstete sind unabhängig von Beurteilungen auf Leistungs- und Verhaltensmängel aufmerksam zu machen. Ihnen ist rechtzeitig Gelegenheit zur Beseitigung dieser Mängel zu geben. Die Art und Weise, in der sich der Beurteilungsprozess vollzieht, ist von wesentlicher Bedeutung für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und für die Transparenz des Beurteilungsverfahrens. Sie eröffnet zugleich die Möglichkeit der Standortbestimmung der Beurteilten und der Rückkopplung für die Vorgesetzten. Deshalb haben vor allem die vorbereitenden, begleitenden und abschließenden Gespräche besonderes Gewicht. Das Beurteilungsverfahren soll, um eine geschlechtsbezogene Benachteiligung auszuschließen, diskriminierungsfrei und geschlechtsneutral sein und …”
An dieser Stelle unterbrach er sich plötzlich und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als würde er mich erst in diesem Moment wahrnehmen.
„Was hast du da gesagt? Du hast vor vier Tagen, am …” Er warf einen Seitenblick in seinem Tischkalender. Dann nahm er einen E-Mail-Ausdruck zur Hand, den er ebenfalls kurz überflog und sah mich nachdenklich an. Blitzschnell hatte er auf die sachliche Ebene umgeschaltet und war endlich wieder der „Alte.”
Ich sollte es bald bereuen.
„Dagmar, lässt du uns jetzt bitte alleine?”
Sie beteuerte, dass sie das auch gerade hatte vorschlagen wollen, nickte mir freundlich zu und verschwand durch die Tür. Heribert wartete bis sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, bevor er fortfuhr.
„Ja, dann muss es tatsächlich am Freitag dem 19. gewesen sein. Du sagst also, dass du einen Anruf bekommen hast? Um was ging es dabei?”
„Ich kann mir keinen Reim darauf machen”, begann ich zögernd. „Ein Mann, er muss schon älter gewesen sein, er flüsterte ängstlich meinen Namen.”
„Kam dir die Stimme bekannt vor?”
„Nein. Der sprach auch so leise. Ich fragte dann, um was es denn geht. Und er sagte, auch …, warte, jetzt entsinne ich mich wieder: Er sagte auch, dass ich ihn nicht kenne, aber wir wären Berufskollegen und er müsse mich dringend sprechen und es wäre wichtig. Na ja, er war überaus aufgeregt. Oder sagte er sehr wichtig?”
Ich blickte Heribert fragend an, als ob er mir die Antwort darauf geben könne. Er hatte während meiner Schilderung mehrmals auf seine Uhr gesehen und kurze Notizen auf einem Stück Papier gemacht. Trotzdem schien er mir zugehört zu haben. Auf meine eigentlich sinnlose Frage reagierte er jedenfalls mit Schulternzucken. Dann bedeutete er mir mit einer Handbewegung fortzufahren, schloss dann aber doch erst einmal einen Fragekatalog an.
„Woher kannte er dich eigentlich? Was wollte er? Weshalb rief er gerade dich an? Hat er seinen Namen genannt?”
„Es war wirklich merkwürdig. Er sagte, er sei durch einen Artikel im deutschsprachigen Wochenspiegel auf mich gestoßen. Später erst ist mir eingefallen, dass es sich dabei um das wöchentlich erscheinende Journal handeln könnte, das auf den Kanaren vertrieben wird, auch auf La Palma.”
„Und seinen Namen?”, hakte Heribert nach, „hat er den denn nicht genannt?”
„Nein, dazu kam er nicht. Ich entsinne mich zwar, dass er dazu ansetzte. Dann stammelte er aber etwas wie: Wassoll denn das .., das ist doch idiotisch …, lass das …, wir können doch darüber reden …, meine Tochter … So, als ob er verwirrt war. Und dann war die Verbindung auf einmal unterbrochen. Es knackte nur noch in der Leitung. Da habe ich aufgelegt.”
Wieder sah Heribert auf seine Uhr. „Um welche Zeit war das?”
„Das muss so gegen 22 Uhr 30 gewesen sein. Ich weiß das daher so genau, weil Sonja kurz danach von der Chorprobe ihrer Gesangsgruppe in Siefersheim bei mir vorbeikam.”
Heribert schüttelte den Kopf und blickte noch einmal auf den E-Mail-Ausdruck. Dann stellte er lakonisch fest,
„Das kann nicht sein.”
„Natürlich kann das sein, weil nämlich …”
Ohne zu realisieren, dass ich zu einer Erklärung angesetzt hatte, unterbrach mich Heribert, um seinen Gedankengang fortzusetzen.
„Es sei denn, du hast mit einem Geist telefoniert. Da war der nämlich schon eine Stunde tot. Vorausgesetzt, die Angaben von Inspector Muñoz von der …” wieder sah er auf den Ausdruck und las zögernd „Politsia Juditsial de Santa Crutz de La Palma, sind korrekt. – Das ist die Kripo dort.”
Trotzdem ich mir sicher war, dass mein Freund sich verrannte, mich andererseits die Angelegenheit aber auch verwirrte und meine Neugierde weckte, dominierte mich meine berufstypische Korinthenkackerei. Ich konnte nicht anders, als zuerst eine Korrektur anzubringen. „Die Übersetzung stimmt, aber an deiner Aussprache musst du noch feilen. Ein Spanier würde dich nur mit allergrößter Mühe verstehen, obwohl du buchstabengetreu abgelesen hast. Ein c vor den Selbstlauten i und e und wenn es der letzteBuchstabe in einem Wort ist, wird in der Regel mit der Zungenspitze zwischen den Schneidezähnen gesprochen. So, wie du es vom englischen th kennst. Also, Poli-th-ia Judit-th-ial de Santa Cru-th de La Palma.”
Heribert seufzte. „Und das ist alles, was dich nun interessiert? Dann kann ich ja kurz deine Aussage zu Protokoll nehmen und an den Kollegen nach Spanien schicken.”
„Wie kommen die überhaupt auf mich und worum geht es?”, überging ich seinen verständlichen Zynismus.
„Vor drei Jahren habe ich bei einem internationalen Polizeiseminar in Hamburg einen spanischen Kollegen kennen gelernt und mich ein wenig mit ihm angefreundet. Wir haben die Adressen ausgetauscht und zu den Feier- und Geburtstagen schicken wir uns seitdem ein Kärtchen. Er heißt Muñoz mit Nachnamen und mit Vornamen, du wirst es nicht glauben, Heribert.”
„Ich wusste gar nicht, dass dein Vorname aus dem Spanischen kommt? Eribert klingt ja auch irgendwie melodischer und weniger profan. Dabei dachte ich immer Heribert kommt aus dem Althochdeutschen, hat was mit Heer und Krieger zu tun. Aber jetzt verstehe ich, weshalb mir bei dir ab und zu etwas spanisch vork…”
„Umgekehrt wird ein Schuh draus”, unterbrach er mich heftig. „Die Erklärung ist ganz simpel. Seine Mutter ist Deutsche und sein Vater Palmero. Er hat mir erzählt, dass sie sich Anfang der Siebziger bei einem Aufenthalt auf La Palma in seinen Vater und die Insel verliebte. Sie blieb dort und ein Jahr später kam er zur Welt. Sein Taufpate, der Bruder seiner Mutter, heißt Heribert. Daher der für einen Palmero ungewöhnliche Vorname. Mit dem zweiten Vornamen heißt er übrigens José, den benutzt er aber nicht. Er ist zweisprachig aufgewachsen und spricht daher fließend deutsch, sogar mit rheinischem Akzent.”
„Und was hat das nun mit mir zu tun?”
„Er hat sich gestern Morgen telefonisch direkt mit mir in Verbindung gesetzt und im Laufe des Tages auch über seine vorgesetzte Behörde. Er benötigt meine Hilfe, schnell und daher unbürokratisch.”
„Aber, ich verstehe immer noch nicht.”
„Ich gehe am besten mal der Reihe nach vor. So, wie inzwischen mein Informationsstand durch Heribert und meine eigene Recherchen beim Einwohnermeldeamt und der Steuerberaterkammer ist. Ich habe es bereits chronologisch sortiert.” Heribert nahm seinen kleinen zerfledderten DIN-A 5-Notizblock, mit Ringheftung, der mich immer wieder an Colombo erinnerte. Er blätterte ihn nervös durch und suchte offenkundig den Anfang seiner Aufzeichnungen.
„Da ist es. Am Abend des 19. Septembers 2003 – also, Freitag letzter Woche – wurde die Feuerwehr von Breña Baja abends wegen eines Brandes im Wohnhaus einer Finca oberhalb der Wohnsiedlungen zugewanderter Residente alarmiert. Kennst du die Gegend?”
„Aber ja. Das ist eine kleine Ortschaft, cirka fünf Kilometer südlich der Inselhauptstadt Santa Cruz, nicht weit weg vom Flughafen. Dadurch, dass Breña Baja etwa 300 Meter hoch liegt, hat man von den meisten Grundstücken aus einen herrlichen Blick auf den Atlantik. Bei gutem Wetter kannst du von dort aus sogar den Teide auf Teneriffa erkennen. Dort haben viele Deutsche ihren Dauerwohnsitz, ohne eingebürgert zu sein. Die so genannten Residente, wie du ja schon gesagt hast.”
Heribert machte sich eine kurze Notiz.
„Und? Was war da nun?”, wollte ich weiter wissen.
„Der Brand verursachte nur einen geringen Schaden. Die Feuerwehr ist nicht weit entfernt und wurde offenbarauch unmittelbar nach dem Ausbruch des Feuers alarmiert. So konnte sie zwar die Flammen innerhalb kurzer Zeit unter Kontrolle bringen, aber den Hausbesitzer, einen 69-jährigen Deutschen, namens Conrad Hauprich, fand man tot in seinem Wohnzimmer. Dort wird nach dem ersten Stand der Ermittlungen auch der Brandherd vermutet. Die Leiche befand sich trotzdem noch in einem so guten Zustand, dass bereits der Notarzt, den man aus dem in der Nähe gelegenen Krankenhaus herbeigerufen hatte, erkennen konnte, dass der Tod nicht durch die Verbrennungen oder den Rauch, sondern wahrscheinlich durch mehrere Stichwunden verursacht worden war. Das wurde auch kurz danach von dem Polizeiarzt, der mit der Kripo eingetroffen war, bestätigt.
Heribert Muñoz und der Fiscal …, das scheint wohl der Staatsanwalt zu sein?” Heribert sah mich fragend an.
„Kann sein. So gut sind meine Spanischkenntnisse nun auch wieder nicht”, antwortetet ich gereizt. Ich wusste immer noch nicht, worauf das hinauslaufen sollte.
„Na gut”, fuhr Heribert mit einer beschwichtigenden Handbewegung fort. „Er heißt Feliciano Garcia und leitet jedenfalls die Untersuchung. Man hatte zuerst wegen des Verdachts auf Brandstiftung ermittelt, dann aber die Untersuchung auf ein Tötungsdelikt ausgeweitet.
Der Todeszeitpunkt war übrigens wegen des schnellen Einsatzes ziemlich genau zu ermitteln, plus/minus zehn Minuten.”
Langsam dämmerte es mir, dass vielleicht der Tote der unbekannte Anrufer gewesen war. Aber weshalb sollte er telefonisch Kontakt mit mir aufgenommen haben? Was hatte ich mit ihm zu tun? Und, was mich noch weitaus mehr interessierte, wie hätten Heribert Muñoz oder Heribert Koman das wissen können?
„Jetzt erklär mir doch endlich einmal, was in Dreiteufelsnamen dich dazu bewogen hat, mich zu dieser Sache zu befragen?”
„Gleich weißt du es. Unweit des Hauses, auf dem Tisch einer Sitzgruppe im Garten, lag der aufgeschlagene Kalender von Hauprich. Laut einem Eintrag in seiner Handschrift hat er an diesem Abend einen Besucher erwartet. Die Eintragung war in Deutsch und lautete: 20.30 Uhr, letzter Mandant, E.-B., 250 000. Und jetzt kommst du ins Spiel.”
Den nächsten Satz leitete er mit bedeutsamem Nicken ein. „Neben dem Kalender lag die Inselzeitung von Mitte August. Sie war umgefaltet bei einem Artikel über Hera Simonis. Darin ist unter anderem ein Darius Schäfer, Steuerberater in Bernheim bei Alzey erwähnt. Und dieser Name war dick unterstrichen. Am Rand ist eine Nummer gekritzelt – 0049. Das ist die Vorwahl von Deutschland. Und dann ….”
Er hielt mir seine Notizen hin und deutete auf die Ziffernfolge, die mit einem Bindestrich von der Landesvorwahl getrennt war. „Lies selbst!” Seine Aufforderung klang fast beschwörend.
„Mein Telefonanschluss! Das gibt‘s doch nicht!”
„Doch, siehst du ja. Und jetzt, Darius, bist du dran!” Heribert legte sein Notizbuch zur Seite und lehnte sich zurück.
„Ich bin erst einmal sprachlos”, entgegnete ich und atmete tief durch.
„Das war es wert”, grinste Heribert zufrieden, erkannte jedoch sofort die Unangemessenheit seiner Bemerkung und schwächte sie mit einem entschuldigenden „Sorry, war nicht so gemeint, dafür ist die Angelegenheit zu ernst” ab.
Ich dachte einige Sekunden nach. Hera Simonis! Sie war die Ehefrau des von seinen Mitarbeitern ermordeten Kollegen aus Alzey. Wir hatten im Umfeld der Aufklärung des Mordes mehrere Male miteinander zu tun gehabt. Ihre Ehe hatte an dem Tag aufgehört glücklich zu sein, als ihre kleine Tochter Corinna spurlos aus dem Garten der Großeltern verschwand. Jede Suche nach dem Kind blieb erfolglos. Es hatte auch nie Lösegeldforderung gegeben, so dass eine Entführung schließlich ausgeschlossen wurde. Während ihr Mann über die Jahre hinweg immer mehr verbitterte, wurde Hera Simonis krank.
Man hätte erwartet, dass der grausame Tod von Peter Simonis zu ihrem endgültigen Zusammenbruch führen müsste, aber das Gegenteil war der Fall. In dieser traumatischen Situation war sie über sich hinaus gewachsen und hatte schließlich die Ermittlungsarbeit durch ihre Mithilfe wesentlich beschleunigt.
Beatrice, meine geschiedene Frau, hatte die langjährige Leidensgeschichte der Witwe und ihren Weg in eine lebenswerte Zukunft zum Anlass für eine inzwischen erfolgreiche Sendereihe mit dem Titel „Wer nicht am Abgrund steht, dem wachsen keine Flügel” gemacht. Das hatte ein derartiges Aufsehen erregt, dass man Hera Simonis daraufhin geradezu vermarktet hatte. In Zeitungsartikeln und Talkshows hatte man sie zur Vorbildfigur für Menschen stilisiert, die sich nicht mehr mut- und kampflos ihrem Schicksal ergeben wollten.
„Artikel!”, fuhr es mir durch den Kopf. „Heribert, was ist das für ein Artikel mit Hera Simonis und mir? Wir sollten sie umgehend anrufen oder aufsuchen und nachforschen, ob sie dazu etwas sagen kann.”
„Das ist bereits geschehen. Ich habe heute Morgen mit ihr telefoniert und mit der Redaktion des Wochenspiegel inGran Canaria. Die haben tatsächlich in einer der letzten Ausgaben aller kanarischen Inseln über die Artikelserie von Beatrice berichtet. Dazu wurde im Nachdruck der etwas reißerisch aufgemachte Artikel, den ein Redakteur der Regenbogenpresse über Hera Simonis geschrieben hatte, verwendet. Da wird ihr ganzes Leben breitgetreten. Und zwar ziemlich voyeuristisch, wenn du mich fragst. Frau Simonis hat, wie sie mir gesagt hat, über Ihren Rechtsanwalt juristische Schritte gegen die Zeitschrift eingeleitet. Außer einer formelhaften Erklärung zum Pressegesetz und dem üblichen Blabla der Regenbogenpresse ist nichts dabei herausgekommen. Sie wusste nichts von dem Artikel im Wochenspiegel. Davon hat sie erst durch mich erfahren. Offenbar geht der noch mehr ins Detail als seinerzeit dieses Boulevardblatt. Und im Wochenspiegel ist auch die Rolle beschrieben, die du bei der Aufklärung des Mordes gespielt hast, mit Nennung von Ross und Reiter.”
„Ja, jetzt ist mir die Sache vom Ablauf her schon etwas klarer, aber mir fehlt der Hintergrund. Was, bitte schön, habe oder hatte ich mit Herrn Haurich zu tun?”