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„Hauprich, Darius, mit p, Conrad Hauprich”, stellte Heribert richtig. „Was ich auf die Schnelle bisher herausbekommen konnte, ist Folgendes: Er führte als Steuerbevollmächtigter eine mittelgroße Kanzlei in Bingen-Büdesheim, die er vor etwa 25 Jahren verkaufte. Sagt er dir als Kollege etwas? Kann es sein, dass ihr euch schon einmal begegnet seid? Auf einer Fortbildungsveranstaltung, bei einem Vortrag oder einer Versammlung vielleicht?”
„Nicht dass ich mich erinnern könnte. Ich bin ja auch erst seit 14 Jahren mit der Kanzlei in Bernheim.”
„Hätte ja sein können.”
Heribert sah wieder in seine Aufzeichnungen. „Anscheinend hatte er alle Zelte abgebrochen, denn seine Spur verlor sich in Deutschland ab dem Verkauf der Kanzlei. Aber genau zu diesem Zeitpunkt tauchte er mit seiner Familie auf La Palma auf. Dort besaßen sie schon zu einer Zeit, als es noch nicht in war, eine alte Finca, die sie danach im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Anwesen umgebaut haben. Mit Blick auf das Meer, Swimmingpool und allem drum und dran. Muss eine tolle Lage sein – laut meinem Namensvetter und wie du ja auch schon beschrieben hast.”
„Da hat er seine Kanzlei ja gut verkauft, wenn er seit 25 Jahren das geruhsame Leben eines Rentners genießen kann”, stellte ich mit etwas Sehnsucht fest.
„Nur kein Neid, Darius. Im Gegensatz zu ihm kannst du das Leben noch genießen. Er hat nichts mehr davon. Außerdem hat er wohl auch auf La Palma gearbeitet und gut verdient. Heribert recherchiert noch. Hauprichs Frau, Ilona, ist vor vier Jahren gestorben und es existiert noch eine Tochter”, er sah wieder in seine Notizen, „Isabelle. Aber da gibt es offenbar einige Merkwürdigkeiten, zu denen mir Heribert auch noch nichts sagen konnte.”
„Wenn du den Namen Heribert aussprichst, dann habe ich den Eindruck, als ob du von dir in der dritten Person sprichst. Sag einfach Eribert. Im Spanischen wird das H nämlich nicht gesprochen.”
„Danke für die weitere Lektion Spanisch sprechen in fünf Minuten”, nickte Heribert mit gespieltem Ernst, klappte die umgeblätterten Seiten seines Notizblockes wieder zu und sah mich erwartungsvoll an.
„Was willst du nun von mir wissen?”, beendete ich das sekundenlange Schweigen.
„Ob du mir die Wahrheit gesagt, dich nur geirrt odermich angelogen hast!” Sein Tonfall verriet, dass er sich inzwischen immer weniger wohl fühlte in seiner Haut.
„Wie meinst du das?”
„Darius, wir sind befreundet. Das kann ich nicht einfach negieren. Die Kollegen in Spanien haben uns um Amtshilfe ersucht, zugegeben noch inoffiziell. Aber du weißt ja, dass das im Rahmen der EU-Harmonisierung inzwischen nur noch reiner Formalismus ist.”
Ich setzte zu einer Frage an, was Heribert jedoch mit einer energischen Handbewegung abwehrte.
„Die derzeit einzige Spur auf der Suche nach dem Täter führt nach Deutschland, hierher, zu dir. Und es ist meine Aufgabe, der Sache auf den Grund zu gehen. Egal, was dabei herauskommt. Je mehr ich die inzwischen bekannten Tatbestände miteinander verbinde und die potenziellen Möglichkeiten dazu addiere …”, er schüttelte den Kopf. „An der Geschichte stimmt etwas nicht!”
„Wovon sprichst du? Welche Tatbestände? Was soll nicht stimmen?”
„Darius, ich bin ja überzeugt davon, dass sich alles aufklären wird. Bevor sich ein anderer einschaltet, zum Beispiel, weil mir wegen unserer Freundschaft Befangenheit unterstellt wird, lass uns in Ruhe alles auf die Reihe bringen. Wir müssen alles dokumentieren, was auch nur irgendwie auf eine Verbindung zwischen dir und dem Mordopfer hinweisen könnte.”
„Dann fang an.” Ich nickte und war gespannt, wie sich die Sache entwickeln würde.
„Erstens: Conrad Hauprich kommt ursprünglich hier aus der Gegend. Zweitens …”, er zählte mit den Fingern mit, „Bingen liegt etwa 30 Kilometer von deinem Wohnort entfernt. Drittens: Ihr seid Berufskollegen und zudem im gleichen Kammerbezirk. Zu der Zeit, als Hauprich noch inBingen seine Kanzlei führte, warst auch du schon Steuerberater. Viertens: Dein Name ist im Wochenspiegel unterstrichen – dick unterstrichen. Fünftens: Deine Telefonnummer ist neben deinem Namen aufgeschrieben. Sechstens und am wichtigsten: Ihr habt tatsächlich miteinander telefoniert, das ist bereits bewiesen. Deshalb hat mich der Kollege Muñoz auf dich angesetzt. Ob als möglicher Tatzeuge oder als Verdächtiger, das ist zuerst einmal nebensächlich.”
„Was soll denn da noch bewiesen werden, wenn ich es dir doch bereits gesagt habe. Ich habe dir ja aus freien Stücken von dem Anruf am Freitag erzählt. Das müsste doch genügen, mehr weiß ich nicht.”
„Die Sache ist nur die: Conrad Hauprich besaß einen ISDN-Telefonanschluss und der bewusste Anruf ist mit deiner Nummer, dem Datum, der Uhrzeit und sogar der Dauer gespeichert.”
„Ja also, dann ist doch alles paletti.”
Ungerührt fuhr Heribert fort. „Um wie viel Uhr sagtest du war das Telefonat?”
„So gegen 22 Uhr 30.”
„Siehst du, da beißt sich die Katze in den Schwanz. Zu diesem Zeitpunkt war Conrad Hauprich nämlich bereits eine Stunde lang tot. Der Todeszeitpunkt, ich sagte es bereits, konnte recht exakt bestimmt werden, und zwar auf 21 Uhr 30. Und der Anruf mit dir war, laut Telefonspeicher, genau um 21 Uhr 27 und 16 Sekunden. Außerdem dauerte das Gespräch bedeutend länger, als es aufgrund deiner Schilderung hätte dauern dürfen.”
„Würdest du mir das bitte etwas ausführlicher erklären?” Langsam kam mir jetzt doch die Galle hoch.
„Herr Schäfer …” zitierte Heribert das Telefonat aus dem Gedächtnis, „was kann ich für Sie tun? … Sie kennenmich nicht … ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen … es ist wichtig … wir sind Kollegen … Ihren Namen habe ich aus einem Artikel im Wochenspiegel … ich bin … lass das … was soll denn das … lass uns doch darüber reden … das ist doch verrückt … meine Tochter. Das dauerte”, er sah auf die Notiz, die er sich bei meiner Schilderung gemacht hatte, „… maximal 25 Sekunden. Ich habe auf die Uhr gesehen. Das Telefonat mit dir dauerte aber, laut der gespeicherten Zeit, tatsächlich vier Minuten und 33 Sekunden.”
Er hatte sich zu mir gebeugt und sah mir direkt in die Augen. „Denk genau nach: Wann hast du den Anruf bekommen? Vielleicht verwechselst du etwas.”
Ich schüttelte halsstarrig den Kopf.
„Bist du vielleicht zwei Mal angerufen worden?”
„Daran könnte ich mich erinnern.”
„Vielleicht ist Sonja beim ersten Mal drangegangen”, schlug Heribert vor.
„Quatsch, das habe ich doch schon gesagt, dass Sonja bei der Chorprobe war. Deshalb kann ich mich ja auch so genau an die Uhrzeit erinnern”, erklärte ich genervt.
Heribert seufzte resigniert: „Wir brauchen eine schlüssige Antwort, oder aber …!”
Ich überlegte kurz, tippte mir mit dem Zeigefinger an die Stirn, als ich den logischen Fehler erkannt hatte, und lachte dann zu Heriberts sichtlichem Erstaunen lauthals auf. Bevor er sich von seinem Staunen wieder erholte, wurde ich schlagartig ernst.
„Zu welchen Schlussfolgerungen aus all dem, was nun schwarz auf weiß bekannt ist, könnte denn einer deiner Kollegen kommen? Einer, dem ich so unsympathisch bin, dass er seine Animosität bewusst zügeln muss, und der zudem von seiner Kombinationsgabe überzeugt ist.”
„Du meinst so einen übereifrigen, karrieregeilen Typen mit überbordender Fantasie? So einer, wie er als Realität getarnte Persiflage in schlechten Fernsehkrimis vorkommt?”
„Jetzt sag bloß, in deinen Reihen gibt es nur unfehlbare Computer, statt Menschen, normale Menschen, mit normalen Schwächen, die sie zu ihrer eigenen Karikatur machen können.”
„Das mag ich jetzt nicht diskutieren”, wehrte Heribert ab. „Aber auch ohne die Kombinationsgabe eines Sherlock Holms liegen mögliche Schlussfolgerungen offen auf der Hand: Ganz einfach – du lügst!”
„Und warum, bitte sehr, sollte ich lügen?” forderte ich Heribert heraus, dem der logische Fehler immer noch nicht aufgefallen war.
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht um jemanden zu decken. Jemanden der um halb zehn noch kein Alibi hat, wohl aber um halb elf, wenn ihn ein Duzend Zeugen in einer Taverne bei einem guten Wein gesehen haben. Oder aber du hast gar nicht mit Hauprich gesprochen, sondern mit dem Täter, der dich um Hilfe bittet oder – schlimmer noch – der dir mitteilt, dass der Auftrag erledigt ist.”
„Und das Motiv?” bohrte ich nach.
Heribert blies die Backen auf.
„Siehst du, das Schweigen im Walde, du hast nichts, was beweisbar wäre”, trumpfte ich auf. „Das Ganze steht und fällt doch damit, dass es als Tatsache gilt, dass nicht Conrad Hauprich mit mir telefoniert hat, sondern eine unbekannte Person. Und zwar von Hauprichs Anschluss aus”, resümierte ich.
„Ja, und zwar, da du ja auf Beweiskraft pochst, nachweislich 4 Minuten 33 Sekunden lang.”
Ich sah Heribert durchdringend an, bevor ich ihn mit der Feststellung „du warst doch erst dieses Jahr in deinem Urlaub auf den Kanaren”, sichtlich überraschte.
„Ja, auf Fuerteventura, das weißt du doch. Was hat das mit dieser Sache zu tun?”
„Sehr viel. Kurz vor der Landung in Puerto del Rosario, was hat der Flugkapitän da über die Ortszeit und das Stellen der Uhren gesagt?”
Heribert runzelte die Stirn, blickte irritiert erst auf seine Uhr und dann wieder auf mich, bevor er mit der flachen Hand laut klatschend gegen seine Stirn schlug.
„Wie kann mir so etwas nur passieren?!”, Heribert schüttelte ärgerlich der Kopf. „Seit wann war dir klar, dass es nach der kanarischen Ortzeit eine Stunde früher als bei uns ist?”
„Seit dem Moment, als du so händeringend eine schlüssige Antwort gesucht hast. Da wollte ich den Gedankenfehler noch aufklären, aber du warst so im Rausch deiner potenziellen Beweisführung, dass ich dir deinen Spaß gönnen wollte.”
„Das ist kein Spaß, Darius!” Heriberts Stimme klang fast verzweifelt. „Mir geht es vor allem auch darum, dass du nicht in irgendeine Schweinerei hineingezogen wirst und ich nichts mehr daran ändern kann, wenn du von anderen Kollegen in die Mangel genommen wirst. Was meinst du, wie unsere Freundschaft und deine Aktivitäten bei der Aufklärung der Mordfälle deines Freundes Horst Scheurer und deines Kollegen Peter Simonis im Kollegenkreis kolportiert werden. Da ist Neid im Spiel, der mit dem Mäntelchen der massiven Verstöße gegen unsere internen Regeln zugedeckt wird. Was meinst du, was ich mir deswegen schon alles habe anhören müssen. Und dir ans Zeug zu flicken wäre für einige ein wahres Festival.”
Ich sah ihn ungläubig an. Fast beschwörend redete er daher auf mich ein. „Vermutlich ist es ja wirklich einer dieser verhängnisvollen Zufälle, aber als Kriminalist muss ich in verschiedene Richtungen denken. Vielleicht”, mutmaßte er, „bist du jemanden auf die Füße getreten und diese Person, oder auch ein Personenkreis, will dich diskreditieren. Man will dich persönlich und beruflich fertig machen!”
Ich sah ihn fragend an. „Auch wenn es der größte Schwachsinn ist? Kein Mensch bringt am anderen Ende der Welt einen Menschen um, nur um einem dritten an diesem Ende der Welt ans Zeug zu flicken!”
„Und wenn einer nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will?”, hielt Heribert dagegen.
„Aber dann würde das Ganze doch nur Sinn machen, wenn es eine Verbindung zwischen Hauprich und mir gäbe. Aber ich kenne den Mann gar nicht! Bin ihm nie begegnet, ich weiß nicht einmal, ob ich einen Mandanten habe oder hatte, der vor Urzeiten zu seinem Mandantenstamm gehörte.”
„Das könntest du aber herausfinden.”
„Das kann ich versuchen. Trotzdem, deine Schlussfolgerungen, lieber Heribert, kommen mir nun wirklich etwas paranoid vor. Verzeih bitte diesen Ausdruck, aber mir fällt momentan nichts Besseres ein.”
„Was du als Verfolgungswahn abtust, nenne ich Wachsamkeit, meinetwegen auch Argwohn.”
Ich merkte, dass Heribert von meiner Reaktion über seine Sorge um mich gekränkt war, und nahm daher ihm zuliebe den Gedanken an eine Rache gegen mich auf.
„Da fällt mir spontan nur eine Person ein, der ich einerseits die nötige kriminelle Energie, die Skrupellosigkeit und andererseits den Verstand zutraue, etwas derartigesauszuhecken und auch durchzuführen. Ein Mensch, der mich tatsächlich abgrundtief hassen muss …”
„Sabine Ulmer!”, sagten wir gleichzeitig.
„Die kann es aber nicht sein. Sie ist weiterhin hier in Alzey in der Landesnervenklinik. In der Forensischen Psychiatrie sind die Sicherungsmaßnahmen so streng, dass sie keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Höchstens ihre Mutter kann sie kurz besuchen, sonst niemand. Ärzte, Pflegepersonal, ihr Anwalt, wir und ihre Mutter, das sind die einzigen Personen, mit denen sie Kontakt hat”, erklärte Heribert.
„Und woher sollte sie Hauprich kennen? Die Ulmer hatte ja noch nicht mal Abitur, als der nach La Palma ging!”
„Tja …”, sagte Heribert ratlos und verfiel ins Nachdenken.
„Hast du sie denn noch einmal vernommen?”, unterbrach ich seine Grübeleien.
„Nein, das macht jetzt Bert Heusinger, der zuständige Staatsanwalt. Letzte Woche haben wir kurz miteinander gesprochen. Da ging es auch um Sabine Ulmer. Er schilderte mir, dass sie sehr kooperativ ist und offensichtlich langsam erkennt, dass ihre vermeintliche Rache bitteres Unrecht war. Es sieht so aus, als würde sie ihre Taten bereuen. Vor allem macht ihr auch der Mord an Tilo Sommer zu schaffen.”
„Kann das nicht auch ihre Verteidigungsstrategie sein?”, fragte ich misstrauisch.
„Das glaube ich nicht. Heusinger ist erfahren genug, um sich von solchen dramaturgischen Tricks nicht hinters Licht führen zu lassen. Man hat ihr eine feste Betreuerin zugeteilt, eine Erika Sembach, die Heusinger in meiner Anwesenheit über Sabine Ulmer befragt hat. Sie ist Psychologin und hat einen sehr souveränen Eindruck auf michgemacht. Sie hat uns bestätigt, dass Sabine Ulmer sich mit Selbstmordgedanken trägt, weil sie an ihrer Schuld zu zerbrechen droht. Aber trotzdem, auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass sie aus der Klinik heraus nichts an derartigen Dingen unternehmen kann, weder über Dritte, geschweige denn selbst, werde ich das noch einmal genau überprüfen lassen. Alleine schon aus Prinzip.”
„Es wäre auch zu schön gewesen, wenn die Ulmer die gesuchte Person gewesen wäre”, klagte ich. „Mir fällt sonst wirklich niemand ein, der mich dermaßen verabscheut. Aber”, kam mir plötzlich eine Idee, „vielleicht liegst du ja völlig falsch und es geht überhaupt nicht um mich. Vielleicht will man ja über eine Kampagne gegen mich den Hauptkommissar Koman fertig machen. Man schlägt den Esel, obwohl der Reiter gemeint ist, weißt du. Hast du denn einen Kollegen, dem du das zutrauen würdest?”
„Einen? Da fallen mir einige ein. Eigentlich jeder, der Probleme mit Gradlinigkeit, Offenheit und meiner oft unkonventionellen Vorgehensweise hat. Allen voran mein früherer Chef, Karsten Wehmut. Du weißt, dass ich im Fall Simonis nicht nur seine Ermittlungsschlamperein, sondern vor allem seine Mauscheleien aufgedeckt habe und er daraufhin in den Verwaltungsbereich versetzt worden ist.”
„Aber andererseits … wie sollte das denn einer machen, auch noch von La Palma aus, was für eine abwegige Idee”, gab ich irritiert zu bedenken.
„Wir sind beide nicht der Typ, der abwartet, bis ihm jemand das Messer in den Rücken stößt, wenn er erkennt, dass dieser jemand ausholt.”
Ich nickte, obwohl mich dieses – aus meiner Sicht überzogene – Beispiel immer noch nicht überzeugte. Andererseits hatte ich während der letzten Monate mehrmals die Erfahrung machen müssen, dass Fiktion und Realität eine geradezu gespenstige Symbiose eingehen können und aus vermeintlich abstrusen Gedankenspielen tödlicher Ernst werden kann.
Auch im Laufe meiner Berufsjahre hatte ich gelernt, dass selbst eine noch so ausschweifende Fantasie nicht dazu ausreicht, menschliche Abgründe auch nur annährend auszuloten. Es gibt, so meine Erfahrung, nichts, was es nicht gibt. Und dennoch – widerwillig schüttelte ich den Kopf.
Heribert entging meine Skepsis nicht und präsentierte mir daher einen Vorschlag zur Güte: „Was hältst du denn davon, wenn wir diese Sache zum Anlass nehmen, das zu tun, was wir ohnehin vorhatten. Du wolltest mir La Palma zeigen, wie es der normale Tourist nicht zu sehen bekommt. Und dabei nutzen wir meine Kontakte zu Inspector Muñoz und versuchen, den Ungereimtheiten vor Ort auf die Spur zu kommen. Außerdem würde ich Heribert gerne einmal wiedersehen.”
„Welche Ungereimtheiten?”, fragte ich.
„Vier Minuten und 33 Sekunden gegen 25 Sekunden.”
Ich gab mich geschlagen und überlegte bereits, wie ich Sonja eine halbwegs akzeptable Begründung liefern und mit ihrer zu erwartenden Ironie umgehen könnte.
Heribert unterbrach jedoch meinen Gedankengang. „Es bleiben halt zu viele Fragen offen, an deren Beantwortung dir doch auch gelegen sein muss. Woher sollte dich Conrad Hauprich gekannt haben? Weshalb könnte er dich angerufen haben? War sein Tod geplant oder das Ergebnis einer Eskalation? Tja, und dann die erwähnte Diskrepanz zwischen deinen Angaben über die Dauer des Telefongesprächs und die Aufzeichnungen im Telefonspeicher.”
„Vielleicht lässt sich das technisch manipulieren?” Irgendwie rebellierte ich immer noch.
„Durchaus möglich”, stimmte Heribert zu, „aber das würde doch erst recht auf eine geplante Aktion hindeuten. Und wenn wir dabei Heribert Muñoz noch bei der Suche nach dem Mörder von Conrad Hauprich unterstützen können …?”
„Also, auf nach La Palma”, sagte ich und versuchte meiner Stimme einen beherzten Ausdruck zu verleihen. „Wann kannst du?”
„Jederzeit. Mit Dieter Erb habe ich das schon geklärt. Er ist einverstanden damit, dass ich das erst einmal als Kompensation meiner Überstunden mache, damit der Anstrich des Privatvergnügens gegeben ist, falls es notwendig sein sollte. Du erinnerst dich noch an ihn?”
„Das ist ja wohl mehr eine rhetorische Frage.”
Der inzwischen zum Polizeidirektor avancierte, ehemalige BKA-Beamte war nicht nur der Vorgesetzte von Heribert, sondern auch freundschaftlich mit ihm verbunden. Seinen Dienstsitz hatte er in Worms. Er war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass mein letzter kriminalistischer Ausflug so glimpflich ausgegangen war. Ohne seine Entschlossenheit, sich über bürokratische Formalia hinwegzusetzen, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. „Um die Unterkunft brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, das Haus ist zurzeit frei. Erst ab November hat es meine Agentur in Los Llanos wieder vermietet. Ich werde Paloma anrufen. Sie kümmert sich um die Reinigung und kann die Betten vorbereiten”, plante ich endgültig. „Wir müssen nur die Tickets buchen. Das ist ein bisschen problematisch so auf die Schnelle”, gab ich zu bedenken. „Und bitte nicht von Düsseldorf aus”, bat ich mit gespieltem Ernst.
„Was wäre falsch an Düsseldorf?”
„Du schaust wohl keine Nachrichten. Am Sonntag letzter Woche haben deine Kollegen wegen mehrerer Bombendrohungen Terminal und Zufahrtsstraßen geräumt. Da standen dann Tausende vor den Eingängen des Flughafens. Nichts ging mehr.”
„Gegen solche kranken Hirne sind wir halt nicht gefeit. Spinner gibt es immer und überall. Ich regle das mit den Tickets über Monika. Sie hat durch das Hotel immer Möglichkeiten, selbst in den unmöglichsten Situationen eine Lösung zu finden. Ich rufe dich an, sobald sie etwas erreicht hat, und werde dann auch Eribert informieren.”
Wir verabschiedeten uns, wobei ich ausdrücklich darum bat, Dagmar Keller zu grüßen, und ich machte mich wieder auf den Heimweg nach Bernheim.
Als nächstes musste ich Carlo Bescheid sagen, dass ich für unbestimmte Zeit in der Kanzlei ausfallen würde. Aber an diese Eskapaden waren er und die Mitarbeiter bereits gewöhnt. Unsere Arbeitsabläufe waren inzwischen bewusst darauf abgestimmt, dass ich immer einmal wieder für einige Tage ohne großartige Vorausplanung nicht zur Verfügung stand. Noch vor zwei Jahren wäre das für mich unvorstellbar gewesen. Ich hatte mich als unabkömmlich betrachtet, und diesem – fast schon an Arroganz grenzenden Trugschluss – meine Ehe geopfert. Ich war es ja nie anders gewohnt. Mein Vater, meine Kollegen und sogar meine Mitarbeiter lebten nicht nur in dem für unseren Berufsstand typischen Irrtum, ein Steuerberater müsse jeder Zeit und zu allererst für seine Mandanten da sein. Nein, sie suggerierten mir das auch beständig durch ihr Verhalten. Schließlich würden wir ja von unseren Klienten bezahlt, die dieses Verhalten für sich ungefiltert übernahmen.
Der Witz bei der Sache ist nur, dass man mich ja eigentlich wegen meiner Kenntnisse, meiner Fähigkeiten und meiner Verantwortung für das, was ich tue und sage, bezahlt. Ich werde nicht bezahlt für den – wenn auch unbedachten – hemmungs- und teilweise rücksichtslosen Zugriff auf meine Person. Das käme für mich einer besonderen Form der Prostitution gleich.
Nachdem ich dies einmal erkannt hatte, änderte ich konsequent einige beruflichen Selbstverständnisse. Ich nahm mir wieder den Spielraum an Selbstbestimmung zurück, den ich mir über viele Jahre hinweg Stück für Stück hatte beschneiden lassen. Und mit zunehmendem Interesse stellte ich fest, dass dabei weder die Mandanten noch die Mitarbeiter weniger betreut wurden, geschweige denn zu kurz gekommen wären. Zur Rettung meiner Ehe war es allerdings zu spät. Beatrice hatte sich bereits von mir scheiden lassen. Schon lange vorher hatte sie sich innerlich aus unserer Gemeinschaft verabschiedet. Unsere Beziehung lebte jedoch, verbunden durch unsere Söhne, in einer echten Freundschaft fort, die auch für Sonja kein Problem darstellte.
Sonja!, fiel es mir wieder siedendheiß ein, vor allem sie musste von meinem Ausflug nach La Palma und den Beweggründen dafür wissen. Das heißt, ich musste sie nicht nur beruhigen, ich würde sie auch von der Notwendigkeit überzeugen müssen. Da stand mir also ein gutes Stück Arbeit bevor. Zum Glück blieb mir dazu noch etwas Zeit, bis sie aus der Schule kam. Außerdem würde sie mir nicht Auge in Auge gegenübersitzen, ich konnte das im ersten Anlauf telefonisch regeln. Sie würde die nächsten Tage in ihrer Wohnung verbringen, da sie einige Klausuren zu korrigieren hatte. Bei einer unserer abendfüllenden Diskussionen, die die „Demarkation” beiderseitiger Erwartungshaltungen in unserer Beziehung zum Ziel hatten, vertrat sie einmal die absurde Ansicht, „sie könne nicht ungestört arbeiten”. Weil ich dann „dauernd wie ein liebesbedürftiger Kater um sie herumscharwenzeln” würde, wie sie meine Fürsorge um ihr Wohlergehen niederträchtigerweise missinterpretierte. Sie meinte, das würde sie ablenken und beunruhigen. Meine Reaktion darauf, es sei „für einen Mann beunruhigend, wenn er anfange, auf Frauen beruhigend zu wirken”, bezeichnete sie als zwar schlagfertige, in diesem Zusammenhang aber missglückte, spätpubertäre Fußnote. Dass dieser Ausspruch nicht auf meinem Mist gewachsen war, sondern Jean Gabin zugeschrieben wird, habe ich dann auch tunlichst verschwiegen.
Nachdem ich wieder in Bernheim angekommen war, verbrachte ich den Rest des Tages damit, in meiner Kartei erfolglos nach ehemaligen Hauprich-Mandanten zu fahnden, ein paar aufschiebbare Termine zu verlegen und mit Carlo die dann noch verbleibenden Angelegenheiten vorzubereiten, damit einer plötzlichen Abreise auch ja nichts im Weg stehen würde.
Was würde ich ohne „kleines, dickes Carlo” nur anfangen? Fast zärtlich nannte ich ihn so bei mir, in Erinnerung an den Spitznamen von Gerd Müller, dem er äußerlich ähnelte. Ich war glücklich einen derart loyalen und kompetenten Nachfolger für meine Kanzlei gefunden zu haben. Bereitwillig hatte er sich mit meinen Vorstellungen über meinen Zeiteinsatz im Büro arrangiert. Denn für ihn stellten sie keine unüberwindbaren Probleme dar.
Wie es seine Art war, saß er mir aufrecht und in gespannter Haltung gegenüber und hörte bedächtig zu. Auf Menschen, die nur vordergründig und oberflächlich mit den Ohren hören, statt alle ihre Sinne einzusetzen, mochteer wie ein phlegmatischer Schweiger wirken, nicht so auf mich. Wie oft in „Gesprächen” mit ihm, genügte bereits der Einsatz seiner Körpersprache und seines mimischen Instrumentariums, um unmissverständliche Signale zu senden.
So auch, als ich ihm den Grund meiner geplanten Abwesenheit erklärte. Wie sich die Bilder gleichen, dachte ich, als er mir bedeutete, ich müsse doch langsam einmal respektieren, dass ich nicht mehr der Jüngste sei. Derartige Eskapaden solle ich doch besser denen überlassen, die dafür ausgebildet und bezahlt würden. Doch trotz aller Skepsis wollte er wissen, ob und wie er mir helfen könne.