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Während sie uns Kaffee einschenkte, der in einer großen Kanne schon bereitstand, beobachtete ich sie. Gertrud war ansonsten eine attraktive, sehr gepflegte Erscheinung. Nicht nur wegen ihrer zierlichen Gestalt – sie war etwa 1 Meter 65 groß – schätzte man sie auf höchstens Anfang 50, sondern auch wegen ihrer blonden, kurz geschnittenen Haare, denen zumindest ich nicht ansehen konnte, ob sie in einer natürlichen Farbe getönt oder einfach noch nicht ergraut waren. Aber heute sah man ihr ihre 58 Lebensjahre an.
Sie hatte die Kaffeekanne abgesetzt und offerierte mit einer einladenden Geste Milch und Zucker.
„Wo kann sie nur sein, Darius? Du kennst Renate doch auch. Das ist einfach nicht ihre Art!” Gertrud sah dabei aber nicht mich an, sondern Heribert, wobei ihre Mimik vom Zweifel zur Verwunderung wechselte. „Sagen Sie, sind Sie etwa der Heribert Koman, bei dem meine Tochter ihr Polizeipraktikum absolviert hat? Na, sie müssen es sein. Es wird ja kaum mehrere Hauptkommissare in Alzey mit demselben Namen geben.”
„Das stimmt, Frau Faber”, er neigte sich ihr leicht zu, „Ihre Tochter Renate war vor sechs Jahren auf meiner Dienststelle. Ich erinnere mich sehr gut an sie.”
Ich traute meinen Ohren nicht. „Weshalb hast du mir denn davon gestern nichts gesagt.”
„Ganz einfach”, grinste er schief. „Hattest du mich über meine Telefondurchwahl erreicht? – Nein, denn dein Anruf wurde auf die Zentrale umgeleitet, weil ich gerade in einer Vernehmung war. Und erinnerst du dich, was der diensthabende Kollege dich fragte?”
„Mhm, er wollte wissen, ob es dringend sei. Und ich sagte, dass es unaufschiebbar sei und ich dich nur ganz kurz etwas fragen müsse.”
„Also hat er dich mit mir verbunden. Du hast gesagt, worum es geht, und ich habe versprochen, heute vorbeizukommen, aber in dieser Situation hatte ich nicht noch Zeit, dir zu erklären, dassRenate mehrere Monate bei mir in der praktischen Ausbildung war.”
„Ein kleiner Hinweis nur …”, nörgelte ich.
„Darius, du solltest wirklich ab und zu meinen Job machen. Willst du gestört werden, wenn du ein Mandantengespräch hast?”
„Rhetorische Frage”, wehrte ich ab.
„Na also.” Er besann sich wieder auf das Wesentliche unseres Besuches. „Entschuldigung, Frau Faber, Herr Schäfer ist manchmal so nervtötend detailversessen. Kann es einfach nicht ertragen, wenn er nicht alles weiß.”
„Ist schon in Ordnung”, Gertrud lächelte zum ersten Mal, „Ich kenne Darius schon länger. Sie dürfen es ihm aber nicht übel nehmen. Das liegt an unserem Beruf.”
Heribert blickte nachdenklich erst sie, dann mich an. „Mhm, vermutlich haben Sie Recht; damit redet er sich auch immer raus. Aber kommen wir zu dem Grund unseres Besuches.”
„Sie haben Recht. Also, das letzte Lebenszeichen meiner Tochter war dieser Anruf bei mir am 29. März. Da sagte sie, sie benötige ein paar Tage, um Abstand zu gewinnen, und sie würde sich bald wieder melden. Außerdem bat sie inständig darum, dass wir ihren Entschluss respektieren und nicht nach ihr suchen sollten. Sie käme schon alleine zurecht.”
„Wen meinen Sie mit ‚wir‘?”
„Mich, ihren Mann und dessen Familie. Sie wohnt ja in Bernheim auf dem Weingut.”
„Und wie steht ihr Mann zu der Sache?”
„Er meint, wir sollen abwarten. Renate würde sich bestimmt bald wieder ‚einkriegen‘. Außerdem will man nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt.”
„Man?” fragte ich.
„Ich denke, mit man ist hauptsächlich Johann Preuß gemeint.” Heribert fragte nach den Familienbeziehungen
„Da ist Benjamin, Renates Mann, der Sohn von Günther und Gerlinde Dohne. Gerlinde ist die Tochter von Johann und TheaPreuß. Thea ist vor 28 Jahren mit meinem Mann bei einem Betriebsunfall auf dem Gut umgekommen.” Sie seufzte kurz. „Ist lange her, aber ich vermisse ihn immer noch. Gerade jetzt, in dieser Situation.”
„Johann Preuß”, erklärte ich Heribert, „ist der Patriarch. Er hat das Weingut aufgebaut. Aber viel mehr weiß selbst ich als Dorfbewohner nicht. Die Preußens leben sehr zurückgezogen.”
„Die gesamte Familie Dohne verhält sich so”, seufzte Gertrud erneut. „Oder hat Renate dich auch nur ein einziges Mal in deiner Kanzlei besucht, obwohl sie über zwei Jahre bei dir gearbeitet hat?”
„Nicht, dass ich wüsste.”
„Wer wohnt noch auf dem Weingut?”, fragte Heribert.
Gertrud überlegte kurz und zählte dann auf: „Da ist noch Benjamins älterer Bruder Andreas, verheiratet mit Marlies, einer geborenen Strack. Sie entstammt einer Weinbaufamilie in Eckelsheim. Und dann natürlich Johann Preuß. Obwohl er nach seinem Unfall vor 20 Jahren seiner Tochter Gerlinde den Betrieb übertragen hat, bestimmt er weiterhin das Geschehen auf dem Weingut. Der Mann ist noch topfit und regiert mit seinen 87 Jahren aus dem Rollstuhl heraus die gesamte Familie. Und die reagiert brav und unkritisch, wie auf Knopfdruck.”
„Klingt so, als ob du mit der Wahl deiner Tochter nicht so ganz einverstanden bist.”
„Ach weißt du, Darius, wenn man ein Mandat seit so vielen Jahren betreut, offenbart sich einem einiges. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.”
Heribert hatte sich Notizen gemacht und stellte noch eine Lücke fest.
„Was ist denn mit der zweiten Tochter, dieser Marga, bei der Renate übernachtet hat?”
„Die hat ein eigenes Haus in Bernheim. Mit ihrer Familie hat sie kaum mehr Kontakt. Eigentlich überhaupt nicht.”
„Weshalb nicht?”
„Keine Ahnung, Herr Koman. Dieses Thema ist ebenso tabu, wie die Ursache für Johanns Behinderung. Es wird gemunkelt, dass Marga als Teenager schwanger war und damit nach Ansicht ihres Vaters Schande über die Familie gebracht hat.”
„Leben wir noch im Mittelalter? Ist die Erde etwa doch eine
Scheibe?” Heribert schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Er ist halt ein typischer Patriarch, im 1. Weltkrieg geboren und auf dem Dorf aufgewachsen. Was will man da anderes erwarten? Und alles, was sich ungünstig auf den Namen Preuß und inzwischen auch Dohne auswirken könnte, darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen – nur kein Aufsehen.”
„Das wird dann auch wohl der Grund dafür sein, dass keine Vermisstenanzeige bei uns eingegangen ist”, stellte Heribert fest.
„Johann Preuß hat Dr. Roland Katzenborn konsultiert, den Familienanwalt in Bad Kreuznach. Der bestätigte ihm, was er wohl wissen wollte: Aufgrund der bekannten und belegbaren Tatsachen läge ein freiwilliger und selbstbestimmter Entschluss, kein Verbrechen und offenbar auch keine Gefahr für Renate vor. Außerdem sei sie volljährig. Also müsse man die Polizei nicht informieren und könne nach eigenem Gutdünken verfahren. Er empfahl, eine Detektei einzuschalten, mit der er bereits gute Erfahrungen gemacht hätte. Wie sehen Sie das, Herr Koman?”
„Zu allererst bin ich absolut skeptisch bei Vorschlägen, die von einem Herrn Dr. Roland Katzenborn kommen. Gegen ihn liefen bereits mehrere Ermittlungsverfahren.”
„Was hat der denn gedreht? Ich kenne ihn nämlich auch. Nicht direkt, einige meiner Mandanten beauftragen ihn gelegentlich”, fragte ich dazwischen.
„Darüber darf ich dir keine Auskunft geben.”
„Aber dass gegen ihn Ermittlungsverfahren liefen, darfst du erzählen?”
„Herrje, Darius!” Heribert verdrehte entnervt die Augen, „jedenfalls sind alle Verfahren im Sande verlaufen. Er scheint einflussreiche Freunde zu haben.”
Er wandte sich wieder Gertrud zu: „Ich erkläre Ihnen zuerst die Rechtslage, dann unterhalten wir uns darüber, was wir trotzdem unternehmen können.”
Gertrud nickte und ich war gespannt, mit welcher Überraschung unser deutsches Recht in diesem Fall, den ich natürlich nicht objektiv betrachten konnte, aufzuwarten hatte.
„Eine der Polizeidienstvorschriften, die wir zu beachten haben, es ist die 389, regelt unseren Einsatz bei Vermissten, unbekannten Toten und unbekannten hilflosen Personen. Als vermisst gelten danach Personen, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und – das ist entscheidend – wenn eine Gefahr für Leben und Gesundheit angenommen werden kann. Bei Kindern und Jugendlichen wird grundsätzlich von dieser Gefahr ausgegangen. Deshalb nehmen wir bei einem vermissten Kind oder Jugendlichen auch gleich die Ermittlungen auf.
Bei vermissten Personen, die über 18 Jahre alt sind, beginnen wir nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen mit den Ermittlungen. Dazu müssen nämlich konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Zum Beispiel Hinweise darauf, dass ein Unglück oder eine Straftat vorliegen könnte. Stellen Sie sich vor, Frau Faber, Renate hätte eine Bergtour gemacht und würde nach Ende des Urlaubs nicht nach Hause kommen. Wenn sie dann von ihrem Mann oder von Ihnen als vermisst gemeldet würde, würden wir sofort die Ermittlungen aufnehmen. Das Gleiche gilt, wenn jemand verschwindet, der geistig verwirrt oder suizidgefährdet ist.”
„Und wenn wir einfach eine Gefahr unterstellen, etwas konstruieren?”, dachte ich laut nach.
„Vergiss es! Wenn wir Renate tatsächlich auffinden würden und es sich weiterhin herausstellte, dass sie ganz bewusst von zuhause weggegangen ist, dann dürften wir den Angehörigen nur dann ihren Aufenthaltsort preisgeben, wenn sie damit einverstanden wäre.”
„Aber was tun wir nun? Darius? Herr Koman? Ich mache mir halt Sorgen.”
„Frau Faber hat Recht. Dieses Verhalten ist nicht typisch für Renate”, stimmte ich ihr zu.
„Natürlich könnte ihr etwas zugestoßen sein. Aber sie ist ein freier Mensch. Wissen Sie, Frau Faber, jährlich werden etwa 100 000 Menschen in der Bundesrepublik als vermisst Gemeldete registriert, etwa 45 000 Kinder und Jugendliche und 55 000 Erwachsene. Die meisten sind kurze Zeit später wieder zuhause.”
„Und innerhalb wie kurzer Zeit?”, fragte Gertrud unsicher.
„90 Prozent dieser Fälle regeln sich innerhalb eines Monats.”
„Und was ist mit den restlichen zehn Prozent?”
„Solange noch Hoffnung besteht, werden auch die nicht so einfach zu den Akten gelegt. Ein Kollege aus Wien erzählte mir, dass seit 1998 ganz oben auf seinem Schreibtisch der Ermittlungsvorgang eines entführten Mädchens liegt, den er immer wieder aufnimmt. Der Fall dieser Natascha Kampusch, so heißt sie, glaube ich, geistert daher auch immer wieder durch die österreichische Presse. Er wird erst dann abgeschlossen sein, wenn Gewissheit über ihr Schicksal besteht.”
„Also, was schlägst du nun vor?” Ich fand, dass Heribert unsere Geduld etwas zu sehr strapzierte.
„Die Idee mit dem Privatdetektiv ist in diesem Fall grundsätzlich nicht unbedingt schlecht.”
„Aber?”
„Ich betrachte die Erfolgsaussichten ohne weitere Anhaltspunkte als äußerst gering. Wir sind nicht in den USA. Bei polizeilichen Maßnahmen haben wir Möglichkeiten, die einer Privatdetektei nicht zur Verfügung stehen. Wir können eine normale Fahndung anlaufen lassen, das ganze Programm, je nach Sachlage.”
„Und was wäre das? Vielleicht kann ich ja etwas aus diesem Programm, wie du es nennst, übernehmen.”
Heribert runzelte die Stirn. „Das ist eine ganze Palette. Da ist zuerst einmal die Durchsuchung aller Wohnungen, in denen Renate gelebt hat, und die Befragung der Personen im sozialen Umfeld, die Auswertung von Tagebüchern, Adressbüchern, Briefen, Computerdaten. Dann der Abgleich mit Daten, also zum Beispiel Passagierlisten, Kreditkartenumsätze, Telefonverbindungen, Krankenhäuser, unbekannte Tote und eventuell die Register der Botschaften. Genügt das?” Er hielt inne.
„Weiter”, forderte ich
„Na gut. Ortungen, Absuchen bestimmter Gebäude und Landstriche, Öffentlichkeitsfahndung mit Kfz-Kennzeichen, Aushang ihres Fotos bei den Polizeistationen, Handzettel, Steckbriefe in öffentlichen Gebäuden, Funkrundsprüche, Aufrufe im Internet und im Rundfunk, Aktenzeichen XY und so weiter. Such dir etwas aus!”
Ich horchte auf. „Ortungen? Sagtest du Ortungen? Ihr Handy …” Die zaghafte Hoffnung wurde durch Heriberts Kopfschütteln schneller erstickt als sie aufgeglommen war. Ich schaute Gertrud an, aber sie schien Heriberts Aufzählung überhaupt nicht registriert zu haben.
Unvermittelt fragte sie: „Und wenn sie sich überhaupt nicht mehr meldet?” Lange genug hatte sie Haltung bewahrt, aber nun war die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören.
„Damit müssen Sie rechnen, Frau Faber. Auch das kommt immer wieder vor. Manche Menschen sehen in ihrer Verzweiflung nur die Flucht aus ihrem sozialen Umfeld als einzige Chance zum Neubeginn.”
„Ist das nicht feige? Das ist doch nicht meine mutige Renate?”, murmelte Gertrud fast unhörbar.
Heribert schüttelte energisch den Kopf. „Im Gegenteil. Es gehört Mut dazu, sein gewohntes Umfeld zu verlassen. Feige ist es, wenn jemand einer Katastrophe entkommt und diese Situation zum Verschwinden nutzt. So, wie es wohl Hunderte bei dem Tsunami vor einem viertel Jahr gemacht haben dürften. Renate ist eine selbstbewusste und erfahrene Frau. Sie bestimmt ihr Leben nach ihren eigenen Regeln und Vorstellungen. Wir müssen das respektieren.”
„Aber sie ist doch mein Kind. Wir hatten doch immer eine enge, vertrauensvolle und innige Beziehung! Seit dem Tod ihres Vaters,sie war damals fünf Jahre alt, gab es nur noch uns. Schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren hat sie in ihrer Freizeit in der Kanzlei mitgearbeitet. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, bis …”. Sie griff zu einem Papiertuch und wischte sich über die Augen.
Heribert hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und fragte mit rauer Stimme: „Bis …? Gibt es ein Schlüsselerlebnis, ein Ereignis, einen Zeitpunkt, an dem Sie eine Veränderung in ihrem Verhalten festmachen können?”
„Jetzt, wo Sie so direkt fragen, fällt mir etwas ein. Schon im letzten Sommer hatte ich den Eindruck, dass sie etwas bedrückt. Auf meine Nachfragen hat sie aber nur ausweichend geantwortet. Sie sagte etwas von der Arbeitsbelastung auf dem Weingut, langwierige Diskussionen mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter wegen Nichtigkeiten. Es wären halt die typischen Konflikte, wenn man Familie und Beruf verquicken würde, nichts Dramatisches, das würde sich schon wieder legen, sagte sie.”
„Sonst noch etwas, Gertrud?”
„Ja, da war noch etwas.” Sie überlegte kurz. „Seitdem wurde sie noch einsilbiger. Renate hat ja auch immer noch ihr Zimmer hier im Haus. Mit Kindheitserinnerungen und all ihren Unterlagen aus der Ausbildung bei dir, Darius, und von der Polizeischule. Auch von später noch, als sie schon in Mainz diese Sonderkommission übernommen hatte, hat sie noch Papiere in ihrem Schreibtisch. Kurz vor Weihnachten letztes Jahr war sie hier, weil sie etwas nachsehen wollte. Es hätte etwas mit ihrem früheren Chef zu tun.”
„Hat sie einen Namen genannt?” Heribert blickte sie angespannt an.
„Darauf besinne ich mich nicht mehr. Aber er war wohl einige Tage zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.”
„Etwa Korfmann, Ulf Korfmann?”
„Ja, genau, das war sein Name. Hat das etwas zu bedeuten?” Heribert zuckte mit den Schultern, wirkte aber plötzlich merkwürdig erleichtert. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Der Kollege Korfmann hatte nach dem Ausscheiden ihrer Tochter als Leiter desKommissariats vorübergehend auch die Leitung der SoKo übernommen. Würden Sie mir denn die Unterlagen überlassen? Vielleicht finde ich doch etwas, was uns weiterbringt.”
„Ich weiß nicht. Wenn Renate …”, Gertrud blickte mich fragend an.
Ich nickte aufmunternd und sie forderte Heribert auf, mit ihr in Renates Zimmer zu gehen, da er sich mit den Dokumenten bestimmt besser auskennen würde als sie.
Ich erhob mich von der weichen Couch, um mir ein wenig Bewegung zu verschaffen und trat an das große Blumenfenster. Es nahm fast die gesamte Länge des Wohnzimmers ein und gab über eine Terrasse den Blick in einen gepflegten Garten frei, in dem sich endlich der Frühling breitmachen durfte. Gertrud beschäftigte einen Gärtner, der sporadisch kam und den Garten in Schuss hielt.
Ich dachte über ihre Situation nach. Wir trafen uns mehrmals im Jahr in einem Netzwerk mit anderen gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt zum Erfahrungsaustausch. Da war sie stets der fröhliche und schlagfertige Mittelpunkt. Aber ich glaubte, diese Treffen gehörten zu den seltenen Momenten in ihrem Leben, in denen sie ihren persönlichen Ballast für kurze Zeit abwerfen konnte. Seit dem Tod ihres um fast zwanzig Jahre älteren Mannes hatte sie nur noch für Renate und ihre Kanzlei gelebt. Sie hatte ihre Tochter zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht. Ohne diese fehlte ihr ein Teil ihres Selbst.
Gertrud und Heribert kamen wieder zurück, als ich mir gerade eine weitere Tasse Kaffee einschenkte. Heribert legte einen cirka 20 Zentimeter hohen Packen, bestehend aus mehreren, unterschiedlich gefüllten Hängeheftern auf dem Couchtisch ab.
„Offensichtlich Kopien von Ermittlungsakten der SoKo Rheinhessennetz”, sagte er mit bedenklicher Miene. „Das ist mir völlig unverständlich. Renate weiß, dass so etwas nicht gestattet ist. Ich werde die Unterlagen behalten müssen, Frau Faber.”
Gertrud deutete bedrückt auf Heriberts Ausbeute. „Da hätte ich Ihnen das wohl besser nicht erzählt?”
„Ich schaue mir zuerst einmal an, worum genau es sich handelt. Wenn Renate wieder da ist, werde ich sie dazu befragen, bevor ich weitere Maßnahmen einleite. Ohne Renate läuft da nichts. Das nehme ich vorläufig auf meine Kappe. Das bin ich ihr einfach schuldig … als ihr Pate in der Inspektion.”
„Sie mögen sie”, stellte Gertrud fest.
„Ja, ich mag sie. Sehr sogar.” Heribert senkte seinen Blick. „Sie ist ein ganz besonderer Mensch, eine ganz besondere … Kollegin”, bestätigte er zögerlich, fast andächtig.
Ich wunderte mich ein wenig über seine Anwandlung, schob aber jeden weiteren Gedanken beiseite und schloss mich seiner Würdigung vorbehaltlos an. Schließlich hatte auch ich mir über zwei Jahre lang ein Urteil über sie bilden können.
Am Sprachgebrauch von Gertrud und Heribert war mir etwas aufgefallen. „Ich betrachte es übrigens als gutes Zeichen, dass ihr beide in der Gegenwartsform von Renate sprecht. Also, Heribert, was meinst du, was kann man nun tun? Die Fakten sind: Renate ist verschwunden, die Polizei darf nicht ermitteln, Frau Faber möchte etwas unternehmen. Das verstehen wir doch beide – oder?”
„Natürlich verstehe ich das, aber …” In Heribert fochten Kopf und Bauchgefühl einen heftigen Kampf aus.
„Können Sie nicht … inoffiziell sozusagen … oder Urlaub nehmen … ich würde natürlich auch für alle Kosten aufkommen.” Gertrud musste sich ganz offensichtlich überwinden, Heribert diese Bitte zu unterbreiten, von der sie genau wusste, dass sie eigentlich unzumutbar war.
„Frau Faber, ich unterliege dem Beamtengesetz. Das macht nicht halt vor Privataktionen, die ursächlich mit meinen hoheitlichen Aufgaben zu tun haben.”
„Und wenn ich …?”
„Was willst du denn tun, Darius? Mit einem Bild von Renate durch die Fußgängerzonen laufen und die Passanten befragen? Wenn wir wenigstens den geringsten Anhaltspunkt über ihren Aufenthaltsort hätten. Aber so?!”
„Gibt es einen Ort, den sie mag, wo sie sich auskennt, oder hat sie Freunde, bei denen sie für einige Zeit unterkommen könnte?”, fiel mir ein.
Gertrud schüttelte den Kopf. „Wenn ich darauf eine Antwort wüsste, hätte ich schon von mir aus etwas unternommen. Seit sie verheiratet ist, weiß ich auch in dieser Beziehung rein gar nichts mehr von ihr.”
„Und wenn sie in ein Hotel geht oder Geld abhebt oder einkauft, dann müsste man doch feststellen können, wo sie mit ihrer Kredit- oder mit ihrer Scheckkarte bezahlt hat. Sie hat ein eigenes, gut gefülltes, Konto bei der Kreissparkasse in Wöllstein. Das weiß ich, da ich ihre Steuererklärung in meiner Kanzlei mache.”
„Gertrud, du weißt es doch am besten, dass auch die sich hinter ihren Gesetzen verschanzen. Höchstens Heribert könnte das.”
„No way! Oder denkst du, nur aufgrund meines Dienstausweises öffnen die mir ihre Konten? Da benötige ich selbst bei einer offiziellen Ermittlung Unterstützung vom Staatsanwalt.”
Ich gab nicht auf. „Könnte man eventuell aufgrund der Kleidung die sie mitgenommen hat, auf eine Spur schließen?”
„Woher soll ich denn wissen, was sie mitgenommen hat. Vielleicht weiß Benjamin etwas darüber oder Marga. Soll ich ihn anrufen?” Gertrud war schon aufgestanden, als Heribert sie zurückhielt.
„Einen Moment noch.” Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach, bevor er aufstand und vor dem Tisch auf und ab ging.
„Die Idee, ihre Banktransaktionen zu verfolgen, finde ich eigentlich ganz gut. Frau Faber, Sie sollten vielleicht doch versuchen über den Kontoführer bei der Kreissparkasse einen Auszug zu bekommen. Sagen Sie einfach, Sie benötigen ihn für eine steuerliche Angelegenheit. Und wenn das nichts hilft, dann könnten Sie auf, ich sage einmal, zwischenmenschlicher Basis, mit dem Filialleiter ein Arrangement treffen. Innerhalb von zehn Tagen müsste Renate ja irgendwo Geld abgehoben oder mit einer Karte bezahlt haben. Und selbst wenn sie den Ort wechselt, ließe sich daraus eine Art Spur mit einem Muster ableiten”
Gertrud ging sofort auf den Vorschlag ein. Sie wollte sich gleich nach unserem Gespräch darum kümmern.
„Und du, Darius, sprichst mit Marga Preuß und Benjamin Dohne.”
Ich nickte. „Gertrud, avisierst du mich bitte für heute Abend, so ab neunzehn Uhr?”
„Natürlich. Falls es bei einem nicht passen sollte, rufe ich dich an.”
„Und ich”, Heribert hatte seinen Spaziergang eingestellt und stand nun ruhig vor uns, „ich werde nach Durchsicht von Renates Kopien ein paar unverfängliche Gespräche mit einigen Kollegen in Mainz führen. Die SoKo Rheinhessennetz wurde kurz nach Korfmanns Tod aufgelöst, da es zu keinen greifbaren Ergebnissen gekommen war. Das liegt nun schon einige Monate zurück, und da ist man dann schon eher einmal dazu bereit, einem Kollegen von einer anderen Inspektion etwas aus der Gerüchteküche kosten zu lassen.”
Als Gertrud uns vor die Haustür brachte, blieb sie zwischen uns stehen, legte ihre Arme um unsere Schultern, drückte uns leicht und sagte leise. „Danke, vielen Dank.” Dann drehte sie sich ohne weiteren Abschiedsgruß um und schloss die Tür hinter sich.
Ich wollte gerade in mein Auto steigen, als Heribert hinter mir herrief: „Einen Moment noch.” Er kam zu mir. „Bitte kein Wort darüber zu Dagmar.” Ich sah ihn irritiert an. „Ich will sie da nicht mit hineinziehen. Sie fühlt sich wohl bei uns in der Inspektion und hat eine Aufgabe, die sie erfüllt. Das möchte ich nicht gefährden, falls in dieser Sache doch noch eine Bombe hochgehen sollte.”
„An was denkst du? Etwas Konkretes?”
„Weiß ich nicht. Nur so ein Gefühl. Das ist wie bei einer Melodie. Du meinst, dass du sie schon einmal gehört hast und dass sie dich an einen Ort, an eine Begebenheit erinnern müsste, aber es fällt dir partout nicht ein, wo und was. Na ja, lass mal. Mach‘s gut.”
„Ich rufe dich spätestens übermorgen an und informiere dich, was ich von Marga Preuß und Benjamin Dohne erfahren habe.”
„Aber morgen bitte nicht vor elf. Ich habe eine Vernehmung und davor ist die wöchentliche Frühbesprechung, du verstehst.”
Das hohe, zweiflüglige Holztor in der Langgasse, die den östlichen Ortsrand begrenzte, war geschlossen. Die holzgeschnitzte Hausnummer 12, die auf dem rechten Flügel angebracht war, konnte man nicht übersehen. Aber erst nach intensiver Suche entdeckte ich das kleine Namensschild mit der Inschrift Marga Preuß und den kleinen Klingelknopf darunter an der Hausmauer, die in der Verlängerung des Tores das Grundstück zur Langgasse begrenzte.
Ich hatte den Eindruck, dass sie schon hinter dem Tor auf mich gewartet hatte, so schnell wurde es geöffnet und hinter mir wieder geschlossen. In dem etwa einhundert Quadratmeter großen, mit altem Kopfsteinpflaster befestigten Innenhof begrüßte mich eine grauhaarige, schlanke Frau. Sie war einen guten Kopf kleiner als ich und beobachtete mich, trotz der stahlblauen Augen, mit fast ängstlicher Zurückhaltung. Die Inkarnation der verblühten Schönheit, dachte ich, als ich in ihr Gesicht blickte. Nicht ihr Alter, denn sie war erst Anfang 40, sondern das, was sie erlebt haben musste, hatte seine Spuren hinterlassen. Trotz ihres dunklen Teints, der ihr ein gesundes Aussehen verlieh, hätte ich sie auf über fünfzig geschätzt, wenn Gertrud mir nicht ihr Alter verraten hätte. Sie war mit einer grünen Latzhose und einem kurzärmligen, braunen T-Shirt bekleidet. Ihre Füße steckten in weißen Clogs, wie man sie oft bei Ärzten sah.