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Vorige Woche endlich hatte Gero Arnold Carlo um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Auch ich sollte nicht über den Inhalt informiert werden. Gestern hatte er jedoch auf Drängen von Carlo meiner Einschaltung zugestimmt.
„Du sprichst von den anonymen Anzeigen wegen Steuerhinterziehung, Zollvergehen und Schwarzarbeit? Ich dachte, das hättest du geklärt.”
„Nein, die rechtliche Seite ist geklärt. Da war nichts dran. Aber was noch im Raum steht ist, dass hinter den anonymen Beschuldigungen irgendjemand stecken muss. Und diese Person oder Personengruppe wird ja wohl etwas damit bezwecken wollen. Ich vermute Wirtschaftskriminalität oder etwas Ähnliches. Vielleicht aber auch Erpressung.”
„Das heißt, wir haben es mit einem kriminellen Motiv zu tun. Entweder ist die BEWAG GmbH im Fokus oder aber Gero Arnold persönlich. Im Klartext: Da will jemand das Unternehmen in Misskredit bringen. Vielleicht, um es zu ruinieren, damit es dann billig übernommen werden kann?”, spekulierte ich.
„Oder es geht ausschließlich um Gero Arnold? Man will ihn verunsichern, um ihn für irgendetwas weich zu klopfen?”, spielte Carlo den Ball weiter.
„Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Klingt nach einer verzwickten Angelegenheit.”
„Also hatte ich recht: Genau das Richtige für dich. Etwas Abwechslung wird dir gut tun!”
„Hat Arnold denn eine Vermutung geäußert, wen er als diesen dubiosen Jemand vermutet?”
„Mmhm”, Carlo machte es spannend, „du kennst ihn auch.”
„Das Sandmännchen? Peter Pan?” Seine Verzögerung empfand ich als unangemessen. Außerdem sind solche Albernheiten in der Regel mein Part. „Sag schon!”
„Dieter Knober. Sein ärgster Konkurrent.”
„Mit seinem Vater Sigurd hatte Frau Arnold doch über viele Jahre Streit. Weißt du eigentlich, worum es dabei ging? Mir hat sie nie etwas gesagt, obwohl ich sie mehrmals darauf angesprochen habe.”
„Nein. Noch nicht einmal ihr Sohn kennt die Hintergründe. Er vermutet etwas Persönliches. Vielleicht gab es da mal eine unglückliche Beziehung?”
„Vom Alter her durchaus möglich. Wer ist eigentlich Gero Arnolds Vater?”, wollte ich wissen.
„Im Krieg geblieben oder unbekannt. Ich weiß es nicht genau. Sie war auch nie verheiratet. Arnold ist ihr Mädchenname und …”, er stutzte, „du meinst es könnte sein … das hieße ja …”
„Genau, dass Gero Arnold und Dieter Knober Halbbrüder sind”, beendete ich seinen Satz.
„Und keiner weiß etwas vom anderen. Diejenigen, die das Rätsel auflösen könnten, sind tot. Sigurd Knober, seine Frau und auch Gisela Arnold. Falls das stimmen sollte, haben die drei das Geheimnis mit ins Grab genommen.”
„Was hältst du von einem Gentest?”, platzte ich heraus, ohne zu überlegen.
„Du spinnst. Was ist denn das für eine abstruse Idee? Erstens, wie sollten wir das den beiden verkaufen und zweitens glaube ich kaum, dass uns das im vorliegenden Fall weiterhelfen würde.”
„Weiß man`s? Da können doch ganz andere Dinge eine Rolle spielen.”
„An was denkst du?”
„Sigurd Knober war ein unverbesserlicher Alt-Nazi. Und sein Sohn ist der beste Beweis dafür, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.”
„Da weißt du mehr als ich”, wunderte sich Carlo.
„Ich bringe dir nachher ein Buch rüber. Der Autor nennt darin Fakten und Namen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Einige der Hundertprozentigen haben ihre Nachbarn denunziert, jüdische Mitbürger verraten und sich deren Eigentumangeeignet. Nach dem Krieg lebten sie unbescholten und hoch angesehen weiter. In dem Buch sind in diesem Zusammenhang auch Sigurd und Erna Knober genannt. Sie gehörten zu den Nazis der ersten Stunde, das kann man an der niedrigen Nummer ihrer NSDAP-Mitgliedschaft erkennen. Deren Druckerei in Alzey gehörte übrigens bis Anfang 1939 einem Natan Selig. Sigurd Knober war zu dieser Zeit Soldat und konnte sich gar nicht um den übernommenen Betrieb kümmern, das machten französische Kriegsgefangene. Die Aufträge bekamen sie von der Gauleitung Hessen-Nassau.”
„Weshalb hast du dich so intensiv mit Knober befasst, dass du seine braune Vergangenheit aus dem Ärmel schüttelst?”
„Anfang 1990, kurz nachdem ich die Kanzlei hier nach Bernheim umgezogen hatte, wollte eben dieser Sigurd Knober seinen Berater wechseln. Er wollte mir das Mandat übertragen. Aber er war mir irgendwie suspekt. Er machte ein paar fremdenfeindliche Bemerkungen, die mit meinem Weltbild kollidierten. Und du weißt, dass ich erst an zweiter Stelle an das Honorar denke. Die Chemie muss von Anfang an stimmen. Damit bin ich bisher gut gefahren. Außerdem hatte ich kurz zuvor das Mandat von Gisela Arnold übernommen. Ich wollte während der vertrauensbildenden Phase keine unnötige Störung riskieren. Aber das ist noch nicht alles.”
„Das wird ja eine abendfüllende Story”, spottete Carlo.
„Sagt dir der Name Peter Simonis noch etwas?”
„Klar doch, ich hatte ja damals als Betriebsprüfer oft genug mit diesem schwarzen Schaf aus unserer Zunft zu tun. Gott habe ihn selig, obwohl er ein Ganove war!”
(Simonis war 2003 unter paradoxen Umständen tot aufgefunden worden. Es war mein zweiter Fall, den ich als Hobbyermittler lösen konnte.)
„Siehst du. Simonis war Knobers Berater und ich wollte keinen Mandanten übernehmen, der mit einem solchen Berater garantiert einige Leichen im Keller verbuddelt hat.”
„Jetzt verstehe ich. Als du dann das Buch gelesen hast, ist dir natürlich der Name Sigurd Knober aufgefallen. Und Dieter Knober?”
„Ja, der steht ziemlich weit oben auf der Landesliste der NPD. Er sponsert unter anderem Plakate. Hast du noch nie die NPD-Plakate mit seinem Konterfei gesehen?”
„Ach, das ist er?”
Ich nickte bestätigend und Carlo atmete tief durch.
„Das ist ja …”, statt sein Einschätzung abzuschließen, schob er mir das Schriftstück, das er vorher seiner Mappe entnommen hatte, über den Tisch.
„Arnold und ich haben hier stichwortartig protokolliert, was während der letzten Jahre vorgefallen ist. Über Details unterhältst du dich am besten mit ihm selbst. Er ist übrigens sehr froh darüber, dass du die Angelegenheit in die Hand nimmst.”
„Wie, das hast du schon mit ihm vereinbart? Ohne vorherige Absprache mit mir?”
„Wie du siehst”, grinste er. „Betrachte es als Notwehr. Oder auch als therapeutische Maßnahme.” Er sah mich mit schief gehaltenem Kopf an. Dann verzog sich sein anfängliches Grinsen und ging in schallendes Gelächter über. Dabei zog sich seine Glatze in ein Faltengebirge. Es verlieh ihm die frappierende Ähnlichkeit mit einem Shar-Pei, diesem chinesischen Knautschhund. „Therapiemaßnahme finde ich gut”, freute er sich über sein Bonmot, blickte mich aber dann sofort wieder ernst an. „Du offenbar nicht?”
„Na ja, ich habe schon bessere komödiantische Ergüsse erlebt. Aber nicht von dir. Ziemlich laienhaft, aber dafür war es schon ganz gut. Einfach üben.”
Ich nahm das Protokoll vom Tisch, erhob mich und ging zur Tür. Dort drehte ich mich noch einmal um und wedelte mit dem Papier.
„Damit das von vornherein klar ist: Ich entscheide, wie ich vorgehe! Die Kompetenzen liegen bei mir”, bestimmte ich.
„Genauso, wie du die Verantwortung trägst. Bis hin zu etwaigen haftungsrechtlichen Konsequenzen. Du bist schließlich weiterhin Berufsständler und weißt, in welchem gesetzlichen Rahmen du dich zu bewegen hast.”
„Soweit es meine Verschwiegenheitsverpflichtung betrifft”, schränkte ich ein.
„Klar doch. Bei allem anderen bist du ja sowieso nicht zu bremsen. Ich sage nur Hausfriedensbruch, Fälschung von Dokumenten, Zurückhaltung von Informationen bei der Staatsanwaltschaft und so weiter.”
„Wenn du auf die Mittel anspielst, derer ich mich ab und zu bei der Aufklärung bedienen musste, dann solltest du dabei aber nicht vergessen, wie erfolgreich diese den Zweck heiligten. Immerhin habe ich in den letzten sieben Jahren mehrere unnatürliche Todesfälle und eine Entführung aufgeklärt, Familien zusammengeführt und nicht zu vergessen … ach, was rede ich denn. Ich muss mich doch vor dir nicht rechtfertigen.”
„Deine Erfolge ändern nichts daran, dass du dich abseits der Legalität zu bewegen pflegst. Und ich habe den Eindruck, dass dir das sogar Spaß macht.”
„Alles Definitionssache”, frotzelte ich.
„Wie belieben?”
„Nimm nur mal das, was du in deinem konservativen Sprachgebrauch als Hausfriedenbruch bezeichnest. Was für ein böses Wort! Für mich handelt es sich dabei nur um eine banale Besitzstörung. Und das, was du Dokumentenfälschung nennst, ist in Wirklichkeit eine legale Eigeninterpretation.”
„Ach ja. Und Informationszurückhaltung nennst du dann wohl selektive Kommunikation.”
„Siehst du, du hast es kapiert. Das klingt nicht nur schöner, sondern es handelt sich auch nicht um strafbare Tatbestände.”
„Nach deiner Auslegung, Darius. Wenn es nicht deinen Freund Heribert Koman, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey gäbe, hätte man dich schon zig Mal am Kanthaken gekriegt.”
Carlos abwertende Handbewegung brachte mich wieder in die Realität zurück und ich verließ ohne weitere und zwecklose Erwiderung sein Büro.
Im ehemaligen Prüferzimmer war eine Art Notarbeitsplatz für mich eingerichtet. Ein Schreibtisch voller Prospekte und Fachzeitschriften, dahinter ein Sessel für mich und davor einen für eventuelle Besucher, eine Schreibtischlampe, ein Bildschirm, den ich an meinen Laptop anschließen kann, ein alter Drucker, ein antiquiertes Regal mit ebensolchen Fachbüchern und anderen Druckwerken. Dieses Ensemble kennzeichnete auf eindrückliche Art meine berufliche Endstation. Ich ließ mich in den Sessel fallen. Das Schriftstück mit der Problem-Chronologie der BEWAG GmbH ließ ich auf die Tischplatte flattern. An der Wand gegenüber hing, kostbar eingerahmt, meine Bestallungsurkunde.
„1976, mein Gott”, murmelte ich. „Seit 33 Jahren bin ich jetzt Steuerberater.”
Was hatte sich alles seitdem geändert. Nicht nur im Beruf, nein auch privat hatte ich dramatische Umwälzungen zu verkraften gehabt. Die Kanzlei, damals noch in Wiesbaden, hatte ich von meinem Vater übernehmen müssen. Quasi in Erbfolge. Widerspruch war zwecklos gewesen! Schließlich hatte er mir das Studium bezahlt. Wie nicht anders zu erwarten, hatte es ab dem ersten Tag Meinungsverschiedenheiten über die Kanzleiführung gegeben. Damals war ich schon drei Jahre mit Beatrice verheiratet gewesen und Mark, unser erster Sohn, war gerade zur Welt gekommen. Drei Jahre später war Marius dazugekommen. Kurz danach war mein Vater gestorben und meiner Mutter nachgefolgt. Ich hätte nie gedacht, dass er mir einmal so fehlen würde. Ich hatte mich in die Arbeit gestürzt, die Kanzlei war rasant gewachsen und die 80-Stunden-Wochen hatte Einzug gehalten. Mit ihnen waren die ersten Konflikte mit Beatrice gekommen, die sich rasch verschärft hatten. Genauso oft wie ich Besserung und Reduzierung meiner Arbeitszeit gelobt hatte, hatte ich meine Versprechen gebrochen. Acht Jahre lang hatten wir versucht, unsere Ehe zu retten – dazu waren wir umgezogen nach Bernheim, Beatrice Heimat. Ich hatte die Kanzlei verkleinert. Wir hatten unser kleines Weingut gekauft, da man dann etwas anderes zu tun hat, als nur im Büro zu sitzen.Die Arbeit war jedoch an Beatrice hängen geblieben. Wir hatten uns zwei Hunde angeschafft, da man dann gezwungen ist, mit ihnen an der frischen Luft spazieren zu gehen. Aber lediglich Beatrice und die Jungs hatten sich um sie gekümmert. 1997 war es zur Scheidung gekommen. Gedankenlos hatte ich meinen Anspruch an berufliche Verfügbarkeit übertrieben und dafür mein weiteres Zusammenleben mit Beatrice und meinen Söhne geopfert.
Die drastische Änderung meiner Lebenseinstellung, ausgelöst durch die aufrüttelnden Erlebnisse bei der Aufklärung des Mordes an Horst, meinem besten Freund, sie kam zu spät. Der Verkauf der Kanzlei an Carlo war nur noch eine logische Konsequenz gewesen. Ein Notverkauf. Nicht in finanzieller Hinsicht, sondern als lebenserhaltende Maßnahme.
Carlo, ich musste schmunzeln. Hier in diesem Zimmer hatte er früher gesessen. Beauftragt mit Betriebsprüfungen. Ein wenig übergewichtig war er damals gewesen. 85 Kilo bei einer Körpergröße von 1,72 Metern. Seine einleuchtende Erklärung dafür: „Ich bin net zu schwer, Herr Schäfer, ich bin zu klaa für mei Gewicht.” Idiomatisch Geübte konnten die sprachliche Vermengung heute noch heraushören: Ein Hesse in Rheinland-Pfalz. Carlo war zudem ein lebendes Chronometer. Mit absoluter Zuverlässigkeit konnte man die Uhr nach ihm stellen. Auch sein Tagesablauf war systematisch geregelt. Von acht bis zwölf Uhr und von ein bis sechs Uhr. Montags bis freitags. Abweichungen davon würde ihm Irene, seine Frau, auch verübeln. Und ich wusste, wie sie sein konnte. Ich hatte ihre diesbezüglichen Dispositionen lange genug genießen dürfen, als sie noch Dengler hieß und meine Sekretärin war. Integer, zuverlässig, schlagfertig, kompetent. Aber auch launenhaft. Nun war sie Carlos Sekretärin und Ehefrau in Personalunion.
Dennoch ließ sie es sich heute nicht nehmen, mich aus alter Gewohnheit mit ihrem einmaligen Cappuccino zu verwöhnen. Sanft stellte sie die Tasse auf dem Schreibtisch ab. Zuvor hatte sie noch störenden Papierkram (ihre Bezeichnung) zur Seite geschoben. Statt anschließend wie üblich wieder an ihren Arbeitsplatz zugehen, bleib sie dieses Mal stehen.
„Danke für den Cappuccino.” Beinahe hätte ich gedankenversunken vergessen, mich zu bedanken. Doch das schien es nicht gewesen zu sein, sie schien etwas loswerden zu wollen. „Ist noch etwas?”
Sie setzte sich und strich sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht.
„Es geht um Arnold. Ich möchte dir nur einen Tipp geben. Mit Carlo konnte ich darüber nicht sprechen. Er wollte nichts davon hören. Er meinte, wir sollten uns nicht am Dorfklatsch der Siefersheimer beteiligen.”
Ich sah Irene aufmunternd an. „Ich höre?”
„Da ist seit einiger Zeit eine Kampagne gegen Gero Arnold im Gange. Das ging kurz nach dem Tod seiner Mutter los.”
„Kampagne? Was meinst du damit?”
„Anfangs und alleine für sich gesehen, waren es scheinbar nur Belanglosigkeiten. Oder besser: Dinge, die halt im Geschäftsleben vorkommen. Aber im zeitlichen Verlauf und unter Beachtung der Häufigkeiten ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es wird schlecht über ihn geredet. Er sei unzuverlässig. Kunden springen ab und auch bei den Mitarbeitern gibt es eine hohe Fluktuation. Seit er alleine lebt, soll er angefangen haben zu trinken. Er ließe sich häufig nachts Frauen von zweifelhaftem Ruf – du weißt schon – ins Haus kommen.”
„Und, ist da etwas dran?”
„Das ist es ja. Ich glaube das stimmt hinten und vorne nicht. Er ist einfach nicht der Typ dazu. Ich kenne ihn recht gut durch unsere Theatergruppe. Er ist für die Kulissen, die Plakate und unser Programmheft zuständig. Ich habe ihn jedenfalls noch nie alkoholisiert gesehen. Und uns Frauen und den Mädchen gegenüber verhält er sich zwar kameradschaftlich, aber stets korrekt. Da versucht jemand, ihn gezielt mit Gerüchten zu diskreditieren.”
„Hast du eine Idee, wer das sein könnte und weshalb?”
Sie schüttelte zögernd den Kopf und erhob sich.
„Ich habe eine Vermutung. Ich habe das Gefühl, da steckt noch mehr dahinter. Eine Riesenschweinerei. Aber ich will nicht, dass du eventuell in eine falsche Richtung recherchierst. Falls du eine Spur hast, kannst du gerne mit mir darüber sprechen. Vielleicht kommst du auf dasselbe Ergebnis wie ich.”
Nachdem Irene die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich dem Protokoll zu. Es war ordentlich strukturiert und dank Carlos gestochener Handschrift sehr gut lesbar. Neben seinem penibel geordneten Schreibtisch ein weiteres Indiz für seine fast schon pathologische Ordnungsliebe, für die ich ihn jedoch insgeheim bewunderte. Meine Hieroglyphen konnte ich nämlich manchmal selbst nicht mehr entziffern. Gedankenverloren rührte ich in meinem Cappuccino, während ich mich mit dem Inhalt des Protokolls befasste. Ich versuchte es in Einklang zu bringen mit dem, was sich aus dem Gespräch mit Carlo und aus Irenes Hinweisen ergeben hatte.
Zahlen:



Ereignisse:










Vermutung:



Donnerstag, 14. Juli 2011, Siefersheim
Gero Arnold war sofort bereit, sich mit mir zu treffen. „Sie glauben gar nicht, wie viel mir das bedeutet und wie sehr mich das erleichtert! Ich setze voll auf Sie und Ihr kriminalistisches Gespür. Sie haben es ja schon mehrmals erfolgreich unter Beweis gestellt. Herr Schäfer, Sie sind meine letzte Rettung!”, hatte er unsere telefonische Terminabsprache beendet.
Erst wollte ich ihn in seiner pathetisch gefärbten Erwartungshaltung bremsen. Schließlich hatten wir auch schon seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass ihn seine Euphorie öffnen würde. Ich brauchte alles an ungefilterten Informationen, was nur irgendwie mit seinen Problemen zu tun hatte. Er sollte nicht lange überlegen, sondern alles heraussprudeln, was ihm so einfiel. Das Filtern durfte er getrost mir überlassen.
Von Bernheim bis Siefersheim hatte ich mit dem Pkw etwa fünf Kilometer zurückzulegen. Die idyllische Weinbaugemeinde gehört mit ihren knapp 1.300 Einwohnern zur Verbandsgemeinde Wöllstein. Der Ortsname leitete sich aus der fränkischen Zeit, Mitte des 5. Jahrhunderts, ab. Die Franken bevorzugten, im Gegensatz zu den abgezogenen Römern, ländliche Siedlungen. Sie gründeten und besiedelten jene Dörfer, deren Ortsnamen auf „-heim” enden. Die Baustruktur der bäuerlichen Anwesen ließ im Ursprung die fränkischen Hofanlagen heute noch deutlich erkennen. Hofreiten, Bruchsteingebäude aus regionalen Sandstein-Steinbrüchen, Kuhtempel und Gewölbekeller charakterisierten die archaische Architektur. Und nicht nur die bestimmten den Charme von Siefersheim. Hof- und Dorffeste, kulturelle Veranstaltungen, thematisch besetzte Weinbergwanderungen, Bauernmärkte, aber auch attraktive Angebote zur sportlichen Betätigung waren das bestätigende Pendant zur aufgeschlossenen Lebensart des Rheinhessen – falls es ihn überhaupt in Reinform gab.
Bekannt ist Siefersheim jedoch weit über seine Grenzen hinaus durch die hervorragenden Weine, die von annähernd zehn Weingütern angebaut und produziert werden.
Ich erreichte den Betrieb der BEWAG GmbH pünktlich um 18 Uhr, wie wir es vereinbart hatten. Gero Arnold wartete bereits auf der breiten Treppe, die zu der zweiflügeligen Eingangstüre aus Glas führte. Ich war schockiert, als ich ihn sah. Was war aus dem stets adretten Mann geworden, dessen positiver Ausstrahlung man sich nicht entziehen konnte? Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er bereits auf Feierabend eingestellt: Er trug eine ausgebeulte Cordhose in einem undefinierbaren bräunlichen Ton, dazu ein Holzfällerhemd und darüber eine abgewetzte Wollweste. Dieses Ensemble hatte auch schon bessere Tage gesehen. Unfraglich waren Kleidung und sein allgemeines Aussehen absolut authentisch. Der 64-Jährige ewige Junggeselle sah in seiner gebeugten Haltung und mit der fahlen, fast gelblichen Haut gut und gerne zehn Jahre älter aus. Da half es auch nicht, dass er sein noch volles Haar rabenschwarz färbte.
Das Wohnhaus lag oberhalb der beiden Betriebsgebäude, getrennt durch die Firmenparkplätze und einen etwa 20 Meter breiten, ungepflegten Rasenstreifen. Er wurde aufgelockert durch ein paar vor sich hin kümmernde Rosenstöcke.
Dem Zeitstil der frühen 60er Jahre entsprechend war das Haus als Bungalow konzipiert worden. Alleine schon die geschwungenen, schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern, die blauen, glänzend gebrannten Hohlpfannendachziegel und die edlen Außenleuchten offenbarten, dass Gisela Arnold damals bei der Ausstattung nicht gespart hatte. Ein Renovierungsstau war allerdings auch nicht zu übersehen. Die kupfernen Dachrinnen und Fallrohre wiesen undichte Stellen auf und schrien geradezu nach Reparatur und teilweise auch Erneuerung. Ebenso die Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte und bereits verrottete Stellen sichtbarwaren. Auch an der breiten Marmortreppe hätte es an einigen Stellen einer Restaurierung bedurft.
Gero Arnold forderte mich mit einer einladenden Geste dazu auf, ihm zu folgen. Durch die überdimensionierte Eingangshalle führte er mich ein riesiges, langgezogenes Wohnzimmer. Eine schwere, lederne Sitzgarnitur bestehend aus Couch, drei Sesseln und dazwischen einem niedrigen Tisch verlor sich trotz ihrer Masse im Raum. Über die eine Wand erstreckte sich ein überdimensionales Bücherregal, das wie der Couchtisch aus Eiche rustikal P43 gefertigt war. Ein futuristisch anmutender LED-Fernseher zog meinen Blick auf sich. Darunter entdeckte ich den gleichen Satellitenempfänger mit integrierter Festplatte als Speichermedium, wie ich ihn auch hatte.