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2.1.3 Schulvorbereitendes versus sozialorientiertes Paradigma
Die in Tabelle 2.2 dargestellten Merkmale der einzelnen Länder stehen auch für unterschiedliche Paradigmen. Das eine Paradigma fokussiert auf schulvorbereitende Wissens- und Kompetenzbereiche wie Sprachförderung (literacy) und Zahlenverständnis (numeracy). Diesem Paradigma liegt ein Verständnis von Bildung als Ressource für die Erzeugung von Humankapital, zur Aufrechterhaltung von Wettbewerbsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit zugrunde. Das andere Paradigma betont die Entwicklung des Kindes als ein in verschiedenen Domänen lernendes Individuum. Es warnt ausdrücklich vor einer zu frühen Konfrontation mit akademischen Lehrinhalten und betont den Wert des Spiels und sämtlicher vom Kind selbst ausgehenden kulturell geprägten Aktivitäten. Während das erste Paradigma auf einem instrumentellen Bildungsverständnis beruht, das Bildung auf Wissen und Schulvorbereitung fokussiert und beispielsweise in Frankreich, Großbritannien oder etwa in der französischsprachigen Schweiz zur Anwendung gelangt, basiert das zweite Paradigma auf einem subjektiv-konstruktivistischen Persönlichkeitsverständnis, das in der Tradition der fröbelschen Bildungsidee respektive der Reggio-Pädagogik liegt und die Sozialisation, Selbstbildung sowie Autonomie des Individuums und damit die Abgrenzung von der Schule betont. Dieses Paradigma ist in der deutschsprachigen Schweiz, in Österreich, Deutschland, Italien, Schweden oder Dänemark grundlegend.
Obwohl sich die Schwerpunkte der Vorschulprogrammatik und das Verständnis von Bildungs- und Betreuungsprozessen in den einzelnen Ländern dem vorherrschenden Paradigma entsprechend unterscheiden, lassen sich zwei allgemeine Tendenzen festhalten: Erstens ergeben sich sozusagen in allen Ländern Probleme im Übergangsbereich Vorschule – Primarschule, denen man auf unterschiedliche Art und Weise entgegenzutreten versucht. So ist in Irland bereits im 19. Jahrhundert die Integration der Vorschule in den Primarbereich erfolgt, in den Niederlanden ist dies seit 1985 der Fall. Verschiedene Länder haben in den letzten Jahren auch Bildungspläne für die frühe Kindheit entwickelt, so Neuseeland 1996, Schweden 1998 und England 2000 sowie in jüngster Zeit auch Deutschland. Zweitens wird in vielen Ländern versucht, die Sozialisations- und Bildungsfunktion zu kombinieren. Diejenigen Länder, die traditionell eher auf kognitive Bildung ausgerichtet sind, bemühen sich verstärkt um eine Annäherung an soziale Bildungsziele, während Länder wie die Schweiz oder Deutschland die soziale Funktion besonders betonen, sich jedoch mit neuen Schuleingangsmodellen vermehrt um die Förderung der intellektuellen Entwicklung bemühen (OECD, 2006, S. 33) und sich dabei an einem dynamischen Lern- und Leistungsbegriff orientieren.
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2.2 FBBE-Forschung
2.2.1 Historischer Rückblick
Die FBBE-Praxis hat eine lange Tradition. In den USA umfasst sie seit der Einführung der infant schools, der nursery schools oder der day care centers mehr als 150 Jahre. Ähnliches gilt für den deutschsprachigen Raum: Der erste Kindergarten ist von Fröbel im Jahr 1840 eingeführt worden, die erste Kinderkrippe bereits 1802 von Fürstin Pauline von Lippe. Die FBBE-Forschung jedoch hat eine deutlich kürzere Geschichte. Sie lässt sich in vier Wellen einteilen.
• Bis in die 1960er-Jahre fokussierte die einzige, meist angloamerikanische Forschung zu jungen Kindern ausschließlich auf die Entwicklungspsychologie. Vor allem die Reifungstheorie von Arnold Gesell blieb die akzeptierte entwicklungspsychologische Theorie. Sie postulierte, dass die meisten menschlichen Eigenschaften vorwiegend genetisch determiniert seien und deshalb bereits bei der Geburt festgesetzt seien. Deshalb würde feststehen, dass eine durch Reifungsmechanismen bestimmte Entwicklung in ihrer reinen Form unabhängig von Förderung und Unterricht verlaufe und die Intelligenz eines Menschen nicht verbessert oder modifiziert werden könne. Dementsprechend galt der Kindergarten als Ort, an dem die Kinder betreut werden sollten, damit sie ihre Sozialkompetenz entwickeln konnten. Die Bildung jedoch blieb der Grundschule vorbehalten.
• Grundsätzliche Veränderungen brachten die 1960er-Jahre, in Europa die 1970er-Jahre. Nachdem die Raumfahrtanstrengungen der Sowjetunion die internationale Wettbewerbsfähigkeit der USA auf eine harte Probe gestellt hatten, wurde im Zuge dieses «Sputnikschocks» Bildung und damit die Frage, wie die frühe intellektuelle Entwicklung der Kinder optimal unterstützt werden könnte, zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb des Westens gegen den Osten. In der Folge wurden in den USA und später auch in Europa viele Vorschulinitiativen ergriffen. In den USA hießen sie Head-Start und kompensatorische Erziehung, im deutschsprachigen Raum waren es Programme zur kognitiven Frühförderung, zur Intelligenzentwicklung und zum Frühlesen (Lückert, 1969). Erstmals wurden solche Programme auch wissenschaftlich begleitet.
• Dieser Trend der wissenschaftlichen Fundierung setzte sich mit den Fortschritten in der Entwicklungspsychologie fort, insbesondere in der kognitiven Entwicklungspsychologie Piagets. Allerdings fokussierte diese fast ausschließlich auf kognitive Funktionen, weshalb der umfassende Bildungsgedanke verloren
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ging. Dazu trugen auch die neuen Ansätze von Hunt (Bedeutung der Umweltstimulierung), Bloom (Analysen zur Intelligenzentwicklung), Roth (dynamischer Begabungsbegriff), Bronfenbrenner (Ökologie der menschlichen Entwicklung als Wechselwirkungen) oder Bruner (entdeckendes Lernen durch Umweltstimulierung) bei (vgl. zur Geschichte der Entwicklungspsychologie Montada, 1987, S. 11 ff.).
• In den 1970er- und 1980er-Jahren kehrte die Situation mit dem sogenannten Situationsansatz fast ins Gegenteil. Er gilt bis heute gewissermaßen als «pädagogische Theorie» des Kindergartens. In seinem Mittelpunkt steht das soziale Lernen, dem andere Kompetenzen – wie beispielsweise sprachliche oder mathematische Vorläuferfähigkeiten – lediglich zugeordnet werden. Allerdings wurden viele Modelle entwickelt, sodass man nicht von dem Situationsansatz sprechen kann. Zwischenzeitlich wurde der Situationsansatz mit viel Kritik belegt. Bemängelt wurden vor allem seine Offenheit, die immensen Anforderungen an das Personal, die Missverständlichkeit der Konzepte, welche leicht zu einem Laisser-faire-Stil respektive zu einer Benachteiligung bestimmter Kindergruppen führen könnten, und dass er die Bildungsförderung der Kinder insgesamt vernachlässige (vgl. dazu auch Fried, 2003). Ein im Hinblick auf die FBBE-Thematik besonders gewichtiger Vorwurf ist der, dass der Situationsansatz vom starken, vom von sich aus aktiv mit der Umwelt sich auseinandersetzenden Kind ausgehe und den Gedanken ausblende, dass es Kinder gebe, welche auf Unterstützung und Hilfe angewiesen seien.
• Seit den 1990er-Jahren, vor allem jedoch seit der Jahrhundertwende, konzentriert sich nun auch die deutschsprachige Forschung, vor allem auch im Zuge der Entwicklung der Neurowissenschaften sowie der Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, zunehmend auf die frühe Kindheit und den damit verbundenen Bildungsgedanken. So sind verschiedene Forschungsinitiativen lanciert worden, welche auf die Mulitdimensionalität der frühen Kindheit verweisen. Dazu gehören beispielsweise die im Jahr 2005 begonnene BiKS-3 – 8-Studie («Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschulalter») an der Universität Bamberg oder die FRANZ-Studie («Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft ?»), die im Februar 2010 an der Universität Fribourg (Schweiz) gestartet ist.
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2.2.2 Schwerpunkte der aktuellen Forschung
Welche Bildungs- und Betreuungsangebote junge Kinder brauchen und welche Konzepte vorschulische Institutionen ihnen vorlegen sollten – diese Frage ist auch heute nicht gelöst. Trotzdem besteht mehrheitlich Konsens, dass aufgrund unserer diversifizierten Gesellschaft Förderangebote flexibel auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes und auf ihre Kontexte ausgerichtet werden müssen. Die nachfolgend dargestellten Schwerpunkte der aktuellen Forschung zur Pädagogik der frühen Kindheit spiegeln diesen Konsens. Sie fokussieren auf die kulturelle Diversität und ihre Folgen, auf Eltern- und Familienbildungsarbeit und damit verbundene Betreuungsfragen sowie auf die frühere Förderung junger Kinder.
1. Sensitivität gegenüber kulturellen Differenzen und Hinwendung zu Risikogruppen: Das Bewusstsein, allen Kindern einen chancengleichen Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Vorschuleinrichtung zu ermöglichen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Als Erstes hat es sich in der Sprachforschung niedergeschlagen. Grundlegend war dabei die in den Sozialwissenschaften verbreitete Annahme, dass Kinder, die nicht so sprechen, handeln und denken, wie dies die Gesellschaft von ihnen erwartet, in der Schule benachteiligt werden. Solche Annahmen haben sich in zahlreichen empirischen Studien bestätigt. Nachdem lange Jahre diese Defizithypothese Bestand hatte, ist in den letzten Jahren ein Wandel zu pluralistischeren Entwicklungsmodellen in Gang gekommen. Daraus haben sich neue Perspektiven ergeben, welche zwischen Kompetenz und Entwicklung unterscheiden und auf unterschiedliche Lebenserfahrungen in den Vorschuljahren hinweisen. In diesem Zusammenhang hat sich auch die empirisch breit abgestützte Erkenntnis etabliert, dass vorschulische Interventionen zur Ausbalancierung von sozialen Benachteiligungen beitragen oder sie gar verhindern können. Erste Interventionsprogramme richten sich auf Kinder mit Sprachproblemen und/oder solche aus benachteiligten familiären Milieus. Ein Teil der Angebote arbeitet ausschließlich mit Kindern, während andere größere Bedeutung auf die Unterstützung der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungskompetenz der Familie legen. «Mit ausreichenden Deutschkenntnissen in den Kindergarten» ist beispielsweise ein Schweizer Projekt, das im Kanton Basel-Stadt lanciert worden ist. Es zielt darauf ab, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. die aus sozial benachteiligten oder bildungsfernen Familien stammen, vorschulische Förderung erhalten, damit sie bei Eintritt in den Kindergarten und anschließend in die Schule die gleichen Startchancen haben wie nicht benachteiligte Kinder.
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2. Eltern- und Familienbildungsarbeit und die Frage der Betreuung: Dass das Elternhaus die kindliche Entwicklung maßgebend beeinflusst und alle schulischen und extrafamiliären Interventionen seine Qualität nicht ersetzen können, war zwar bereits eine wesentliche Erkenntnis des Coleman- und des Plowden-Reports (Coleman et al., 1966; Plowden, 1967) und wurde nachfolgend in vielen Untersuchungen bestätigt (Holodynski & Oerter, 2002), doch verstärkte sich das Interesse an Eltern- und Familienbildung erst in den letzten Jahren. Elternbildung gilt heute als eine Form der Familienbildung, die auf die Stärkung der Familie als Erziehungsinstanz ausgerichtet ist und die Eltern darin anleitet, wie sie ein entwicklungsförderndes Sozialisationsumfeld schaffen können. Die Effekte vieler Elternbildungsprogramme sind jedoch recht bescheiden. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass elterliche Erziehungspraktiken schwierig zu verändern sind. Weil Familienwerte in sozioökonomische Kontexte eingebaut sind, verändern sie sich nur, wenn auch bedeutsame Veränderungen in anderen Dimensionen des täglichen Lebens stattfinden. Dazu gehören Veränderungen in Einkommen und Haushalt sowie in der sozialen Referenz auf Gruppenwerte und Verhaltensweisen.
3. Familienergänzende Betreuung: Inwiefern familienergänzende Betreuung dem Kind schadet oder seiner Entwicklung förderlich ist, wird auf der Basis widersprüchlichster Positionen debattiert. Gegner der familienergänzenden Betreuung argumentieren mit Entwicklungsrisiken, Befürworter mit Entwicklungsvorteilen für die Kinder. Von beiden Seiten kaum zur Kenntnis genommen werden jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach das junge Kind in seinen ersten drei Lebensjahren wegen seiner körperlichen und seelischen Verletzlichkeit ganz besonders auf eine schützende und stabile Umgebung angewiesen ist. An die ihm am verlässlichsten zur Verfügung stehenden Personen bindet es sich. Die Stabilität seiner Beziehungen fördert die soziale und kognitive Entwicklung. Verschiedentlich problematisiert die Forschung deshalb hohe zeitliche Anteile von Krippenbetreuung im ersten Lebensjahr.
4. Frühere Förderung: Die aktuelle Forschung erhält weiteren Auftrieb durch bildungspolitische Pläne, das Schuleintrittsalter vorzuverlegen (in der Schweiz), die Schuleingangsphase neu zu gestalten (in der Schweiz und in Deutschland) und die kognitive Bildungsfunktion vorschulischer Einrichtungen generell zu verstärken (Roßbach, 2005). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb der diskursive Spannungsbogen so groß ist und von Befürchtungen reicht, die frühe Kindheit würde verschult und familienexterne Betreuung führte zu Verhaltensproblemen, bis zu euphorischen Hoffnungen, FBBE könne per se
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sowohl die Sicherung einer langfristigen kognitiven Neugier als auch einer besseren Sozialkompetenz aller Kinder garantieren und darüber hinaus auch einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung von Startchancengleichheit für benachteiligte Kinder bei Schuleintritt leisten.
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3 Kognitive, soziale und emotionale Entwicklung
Die Entwicklungspsychologie ist von verschiedenen Philosophen wie Descartes, Locke, Kant oder Marx geprägt. Descartes (1596 – 1650) beispielsweise ging vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen aus, das von Gott eine Art «Grundausstattung» von angeborenen Ideen mitbekommt. Dazu gehören etwa die Gesetze der Logik und der Mathematik. Descartes erachtete Erkenntnis als Wiedererkennen von bereits in der Seele schlummernden Vorstellungen. Locke (1632 – 1704) wiederum ging davon aus, dass der Mensch als tabula rasa, als leeres Blatt, das Licht der Welt erblickt und erst durch die Erfahrungen des Lebens geformt wird. Rousseau (1712 – 1778) war überzeugt, dass jeder Mensch Stufen der Entwicklung vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen universell durchläuft, weil sie von der Natur weitgehend vorgegeben sind. Deshalb ging er davon aus, dass Versuche pädagogischer Einflussnahme eher schaden als nützen, weil die Entfaltung der förderlichen Anlagen des Menschen damit behindert werde.
Im vorhergehenden Kapitel ist dargestellt worden, dass die Pädagogik der frühen Kindheit seit vielen Jahren dazu tendiert, für eine bestimmte Zeit auf eine oder zwei große Theorien zu fokussieren, um dann zu einer anderen zu schwenken. So wurde aufgezeigt, dass in den 1960er-Jahren behavioristische Perspektiven und positive Verstärkung federführend waren, während es heute vor allem kognitionspsychologische und sozialanthropologische, mit den Erkenntnissen der Hirnforschung verknüpfte theoretische Ansätze sind. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb es keine lineare Verbindung zwischen einer einzelnen Entwicklungstheorie und einem einzelnen pädagogischen Zugang gibt. Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren deshalb auf allgemeine, teils traditionelle, teils neue, Erkenntnisse zur kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung sowie auf Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken.
3.1 Kognitive Entwicklung
Vor fast 40 Jahren waren es Kohlberg und Mayer (1972), die in den USA die hauptsächlichen theoretischen Positionen der frühkindlichen Bildung mit Begriffen wie Romantizismus, kulturelle Transmission und Progressivismus herausarbeiteten. Unter Romantizismus verstanden sie eine innengerichtete Reifungsperspektive und unter kultureller Transmission eine außengesteuerte behavioristische Perspektive. Der Progressivismus wiederum war eine Kennzeichnung der selbst konstruierten, phasenbestimmten Position.
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Im Verlaufe der 1970er-Jahre wurde Piagets Phasentheorie in den USA bekannt. Sie setzte beim Progressivismus an und bildete einen Meilenstein in der Entwicklungspsychologie. Etwa gleichzeitig erlangte Wygotskis soziokulturelle Theorie (1971) eine gewisse Beachtung, doch blieb sie lange hinter dem Primat Piagets zurück. Heute sind beide Ansätze etwas in den Hintergrund getreten. FBBE-Konzepte werden weit stärker mit der Hirnforschung als mit den Erkenntnissen Piagets oder Wygotskis legitimiert. In der Tat ist die Hirnforschung ein faszinierendes neues Wissenschaftsfeld. Drei ihrer vielen Botschaften sind sicher sehr bedeutsam für die frühkindliche Bildung:
• dass wir die geistige Leistungsfähigkeit unserer jungen Kinder bislang stark unterschätzt haben,
• dass die Sinnesorgane – gesunde Augen und Ohren – besonders wichtig sind für eine gute Entwicklung,
• dass die Lernumwelt anregend und anspruchsvoll sein soll.
Selbstverständlich ist auch das vielfach formulierte Argument gewichtig, dass sich in den ersten Lebensjahren die Verbindung der Nervenzellen im Gehirn in weit höherem Maße verdichten als in späteren Jahren und dass die Lernkapazität in dieser Zeit deshalb besonders groß ist. Aber dieses Argument verdeckt die Tatsache, dass es auch ein stark reifungsabhängiges Lernen gibt, so wie dies Piaget immer wieder betont hat. Ein Sauberkeitstraining beispielsweise ist erst möglich, nachdem sich bestimmte Nervenverbindungen herausgebildet haben. Im Ergebnis müssen viele Erkenntnisse der Hirnforschung als noch ungesichert bezeichnet werden, sodass eine angemessene Zurückhaltung ihrer Postulate am dienlichsten erscheint.
3.1.1 Piagets kognitive Entwicklungstheorie
In Kapitel 1.1 ist dargelegt worden, dass die kognitive Entwicklung bereits bei Fröbel und Montessori eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Fröbels Bildungsanspruch (1839/1982) manifestiert sich in seiner Pädagogik dort, wo er von Bewusstseinssteigerung oder von kategorialer Bildung spricht und dabei betont, dass der Schule eine frühere geistige Bildung vorauszugehen habe, ohne dass sie die Kinder früher erfassen solle. Bei Montessori zeigt sich der kognitive Fördergedanke dort, wo sie ihr Verständnis des inneren Bauplans um eine Theorie der selektiven Wahrnehmung ergänzt, d. h. um die Vorstellung, dass sich das System der Intelligenzleistung durch die selektive Wahrnehmung und Verarbeitung selbst aufbaut und strukturiert.
Den signifikantesten Einfluss auf die entwicklungspsychologische Forschung hatte jedoch das Werk von Piaget (1981). Mit seinem Denkmodell schuf er eine der |38◄ ►39| bis heute einflussreichsten Theorien des menschlichen Denkens und Schlussfolgerns. Piaget erachtete die kognitive Entwicklung als selbstkonstruktiven Prozess. Dieser entwickelt und vollzieht sich immer durch Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt. Gemäß Piaget entwickelt sich das Denken jedoch nicht kontinuierlich, sondern in Stufen bzw. in Stadien oder Phasen. Jede Phase entspricht einem langen Plateau, während kognitive Veränderungen selten oder moderat sind und von großen, manifesten Veränderungen im Denken abgelöst werden, zugleich aber die nächste Phase andeuten. Piaget unterscheidet die folgenden vier Stufen, wobei für die frühkindliche und vorschulische Entwicklung die ersten beiden Stadien von Bedeutung sind:
• das sensumotorische Stadium (erstes und zweites Lebensjahr),
• das voroperationale Stadium (zweites bis siebtes Lebensjahr),
• das konkret-operationale Stadium (siebtes bis elftes Lebensjahr),
• das formal-operationale Stadium (ab dem elften/zwölften Lebensjahr).
Das erste Hauptstadium ist das sensumotorische, das sich über die beiden ersten Lebensjahre erstreckt. Wie der Name dieses Stadiums verdeutlicht, ging Piaget von der Vorstellung aus, dass Kinder mit allen ihren Sinnen – fühlend, sehend, riechend, tastend – denken. Deshalb sah er in dieser Phase eine Vorstufe zum Denken und bezeichnete diese ersten Vorläufer kognitiver Strukturen als sensumotorische Schemata. Kinder leben in dieser Phase sehr stark im Moment und haben nur ein rudimentäres Verstehen von Raum, Zeit und Kausalität. Am Ende dieser Phase können sie praktische und alltägliche Probleme lösen und ihre Erfahrungen mittels Sprache, Spiel und Gestik darstellen. Unter Schemata verstand Piaget abstrahierte Formen menschlicher Handlungen und Denkprozesse, die sich in ihrer Grundstruktur gleichen und die eine organisierte, sinnstiftende Verarbeitung von Erfahrungen erfordern. Ab dem zweiten Lebensjahr werden auch kognitive Schemata entwickelt, z.B. die Fähigkeit, Dinge aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Farbe oder Größe in «Klassen» zu ordnen.
In der zweiten Stufe, der präoperationalen Stufe, die eine Zeitspanne zwischen dem dritten Lebensjahr und dem Schuleintritt umfasst, müssen Handlungen nicht mehr zwingend physisch vollzogen werden. Sie erfolgen mehr und mehr geistig, was zur Entwicklung des Sprach- und Symbolverständnisses führt. Voraussetzung dafür ist die kindliche Fähigkeit, ein Objekt oder Phänomen durch ein Symbol zu ersetzen. Nach und nach werden die Symbole komplexer und durch abstrakte Zeichen ersetzt. Das können Wörter sein oder Zahlen. Kinder sind auch in der Lage, mentale Symbole zu nutzen. Beispielsweise können sie sich vorstellen, dass im Spiel ein Objekt etwas anderes ist als in der Wirklichkeit. Dennoch ist ihre Fähigkeit, die Symbole in |39◄ ►40| einer organischen Art und Weise zu nutzen, nicht vollständig. Eine Beschränkung besteht beispielsweise in der Tendenz, auf einen Aspekt in einer komplexen Situation zu fokussieren. Wenn wir einem fünfjährigen Kind identische Gläser mit der gleichen Menge Wasser zeigen, dann sagt es, dass diese Mengen die gleichen seien. Wenn jedoch das Kind sieht, dass wir die Inhalte von einem Glas in ein höheres, schmaleres Glas umgießen, dann sagt es, dass im engen Glas nun mehr Wasser sei als im anderen. Das Kind macht diesen Fehler, weil es auf die Höhe des Wassers fokussiert und dabei das andere wichtige Merkmal, die Breite ignoriert. Kinder im präoperationalen Stadium haben auch Schwierigkeiten zu verstehen, dass andere die Welt nicht so wie sie sehen. Dies ist ein Phänomen, das Piaget «Egozentrismus» nannte. Gemeint ist damit eine Haltung junger Kinder, die Welt nur aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen. Dies gilt sowohl für physikalische als auch für soziale und emotionale Phänomene.
Auf der Stufe der konkreten Operationen (sieben/acht bis elf/zwölf Jahre) erwirbt das Kind die Konzepte der Invarianz – eine Voraussetzung des Zahlbegriffs – und der Seriation, d. h., es kann Reihen bilden, erweitern oder unterscheiden. Zudem ist es gemäß Piaget in diesem Entwicklungsstadium in der Lage, logisch über konkrete Dinge nachzudenken. Es weiß nun, dass Wasser, das in verschiedene Gefäße geschüttet wird, in der gleichen Menge vorhanden sein muss, jedoch unterschiedlich aussehen kann. Allerdings haben Kinder in diesem Alter immer noch Schwierigkeiten, über stark abstrakte Simulationen nachzudenken. So haben sie Mühe, differente Konzeptionen der Gerechtigkeit anzusehen oder unterschiedliche Welten zu verwenden, wie sie etwa in den science fictions vorkommen.
Das letzte Stadium der Entwicklung ist das der formalen Operationen, welches mit zwölf Jahren beginnt und bis zum Erwerbsalter dauert. Piaget glaubte, dass Kinder in dieser Phase über pure Abstraktionen nachdenken und ausgeklügelte Denkstrategien anwenden können. Er ging beispielsweise davon aus, dass Kinder in diesem Alter über Moral abstrakt denken und die damit verbundenen Implikationen aus einer unterschiedlichen Sicht von Moralität betrachten können. Ebenso überzeugt war er, dass sie systematisch über komplexe Situationen nachdenken können. Als grundlegend für alle vier Phasen erachtete Piaget folgende Merkmale:
• Jede Entwicklungsstufe bildet ein für sich abgeschlossenes Ganzes. Sie ist die Grundlage für die nächste Stufe, auf der die Elemente der vorangehenden Stufe zu einem neuen Ganzen verwoben werden.
• Die Stufen werden immer in der gleichen Reihenfolge durchlaufen. Sie sind universell, d. h. in allen Kulturen gleich.
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• Das Überspringen einer Stufe ist nicht möglich. Doch können sie in unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen werden.
Laut Piaget ist die kognitive Entwicklung durch eine allgemeine Äquilibrationstendenz gekennzeichnet. Gemeint ist damit der Wunsch, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Jeder Mensch möchte in Einklang mit sich und seiner Umgebung leben: Was er nicht versteht, ruft eine gewisse Spannung hervor, die er durch Lernen überwinden will. Dies geschieht mittels der Adaption. Sie besteht aus zwei komplementären funktionalen Prozessen: