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• die Veränderung der Umwelt, um diese den eigenen Bedürfnissen und Wünschen anzupassen (Assimilation). Ein Beispiel ist die Nachahmung der Eltern durch das Kind.
• die Veränderung des eigenen Verhaltens, um sich selbst den Umweltbedingungen anzupassen (Akkommodation). Ein Beispiel ist die Anpassung im symbolischen Kinderspiel: «Ich wäre jetzt die Mutter, und du wärst jetzt das Baby …»
Während der Assimilation benutzt das Kind seine gegenwärtigen Schemata, um die äußere Welt zu interpretieren. Bei der Akkommodation schafft das Kind neue Schemata oder passt alte an, wenn es bemerkt, dass die gegenwärtigen Denkweisen nicht vollständig der Umwelt angepasst sind. Gemäß Piaget variiert das Gleichgewicht (Äquilibration) zwischen Assimilation und Akkommodation über die Zeit hinweg. Befinden sich Kinder in einer «stabilen Phase», so assimilieren sie mehr, als sie akkommodieren. Verändern sie sich in kognitiver Hinsicht jedoch rasch, dann befinden sie sich in einem Desäquilibrationsprozess, in welchem sie merken, dass neue Informationen nicht in ihr gegenwärtiges Schema passen. Deshalb müssen sie sich von der Assimilation hin zur Akkommodation bewegen.
Zur Kritik an Piagets Theorie
Insgesamt hatte Piagets Theorie eine bahnbrechende Breitenwirkung. Dies gilt auch heute noch. Fast alle neueren Theorien zur kognitiven Entwicklung fußen mehr oder weniger auf seinen Grundlagen. Sie untermauern das Bild des Kindes als aktiven Lerners und emsigen Entdeckers, der sein eigenes Wissen durch die Interaktion mit der Umwelt konstruiert und sich dieses nicht durch die Übernahme passiven Wissens aneignet. Trotzdem wird heute zunehmend Kritik laut, dass Piaget verschiedene Aspekte stiefmütterlich behandelt oder unterschätzt habe. Dazu gehören
• seine Vorstellungen zu den Lernpotenzialen junger Kinder: Vor allem Kinder mit akkumuliertem substanziellem Wissen in spezifischen Bereichen erbringen |41◄ ►42| auf einem höheren Niveau Leistungen, als dass dies aufgrund ihres Alters und Entwicklungstands erwartet werden könnte. Die Entwicklung schreitet somit möglicherweise nicht im von Piaget erwarteten Sinn in Phasen fort. Bekannt geworden sind dabei die Dinosaurierstudien. Solche Kinder sind beispielsweise in der Lage, Dinosaurier auf der Basis multipler Kriterien (auf dem Land oder im Wasser lebend; karnivor oder herbivor, etc.) einzuteilen. Damit demonstrieren sie eine Klassifikationsfähigkeit, welche jenseits der Erwartungen liegt (Gobbo & Chi, 1986).
• die Anlagefaktoren: Kritisiert wird beispielsweise, dass Piaget der individualisierenden Wirkung von Anlagefaktoren und der Tatsache, dass jedes Kind ein einmaliges Individuum mit eigenen Begabungen, Talenten und Neigungen ist, zu wenig Rechnung getragen hat.
• die kulturspezifischen Faktoren: Ähnlich kritisiert wird, dass Piaget die differenzierenden Wirkungen des kulturellen Hintergrunds und die sozioökonomischen Bedingungen, in denen ein Kind auf wächst und die seine Entwicklung mit beeinflussen, zu wenig in seine Überlegungen einbezogen hat.
• die fehlende Flexibilität des Stufenmodells: Kritisiert wird, dass sich ein Kind je nach Situation oder Aufgabe einmal auf der einen, ein andermal auf der anderen Stufe befinden kann. Kinder sind somit weniger abhängig von reifebedingten Einschränkungen und können Fähigkeiten gleichmäßiger und allmählicher entwickeln. Auch wird heute verstärkt postuliert, dass Kinder von der unstrukturierten Erkundung ihrer Umwelt stärker profitieren als von strukturierter Übung.
• die Übernahme von Perspektiven anderer: Kinder, so wird verschiedentlich kritisiert, seien schon vor der Schulzeit in der Lage, Perspektiven anderer einzunehmen. Repacholi und Gopnik (1997) haben beispielsweise nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder zwar tatsächlich egozentrisch ist, aber unsere Wahrnehmungen über das, was Kinder wissen, von der Aufgabe abhängen, mit der wir ihr Wissen überprüfen. So verwendeten die Autoren eine neue Aufgabe, um den Egozentrismus zu untersuchen.
In ihrem Experiment hatten 14 und 18 Monate alte Kleinkinder die Gelegenheit, das Essen zu bestimmen, das junge Kinder typischerweise lieben respektive nicht lieben: Kartoffelchips und Brokkoli. Vorauszusehen war, dass die meisten Kinder Kartoffelchips bevorzugten. Im Verlaufe des Experiments beobachtete jedes Kind eine erwachsene Person, welche die beiden Speisen probierte. In der zentralen Phase sah das Kind, wie die Person nach dem Probieren der Kartoffelchips |42◄ ►43| ein deutliches Missbehagen zeigte und eine große Zufriedenheit beim Genuss von Brokkoli. Später saß die gleiche erwachsene Person dem Kind gegenüber und stellte eine Schale mit Kartoffelchips und eine mit Brokkoli auf den Tisch, legte ihre Hände jeweils in äquidistanter Entfernung auf den Tisch neben die beiden Schalen und fragte: «Kannst du mir einige geben?» Wenn das Kind egozentrisch ist, dann ist es nicht in der Lage zu begreifen, dass die Experimentierperson Brokkoli möchte. Deshalb wird es ihr Kartoffelchips geben. Tatsächlich gaben ihr mehr als 90% der Kinder Kartoffelchips, obwohl sie gesehen hatten, dass sie eine Abneigung gegenüber diesen hatte. Die Autoren schlossen daraus, dass diese Kinder nicht in der Lage gewesen waren zu verstehen, dass andere Personen eine unterschiedliche Präferenz haben. 18 Monate alte Kinder verfügten jedoch bereits über dieses Verständnis, denn diese boten zu 70% Brokkoli an.
• die fehlenden pädagogischen Schlussfolgerungen: Kritisiert wird schließlich, dass Piaget kaum pädagogische Konsequenzen gezogen habe, die sich aus seinen Experimenten und Erfahrungen eigentlich aufgedrängt hätten und der pädagogisch-psychologischen Praxis hätten zur Verfügung gestellt werden sollen.
3.1.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie
Die Theorie Piagets findet sich in den Arbeiten Lev Wygotskis wieder (1987), wenn auch mit anderem Fokus. Dieser bezeichnete die kognitive Entwicklung als ein Hineinwachsen in eine bestimmte Kultur. Der Aufwachsprozess von Kindern ist deshalb immer in einen sozialen Kontext eingebunden und beeinflusst die Strukturierung ihrer kognitiven Welt. Wygotski ging davon aus, dass die geistigen Aktivitäten des Kindes (Aufmerksamkeit, geübtes Gedächtnis, Problemlösen etc.) von sozialen Interaktionen abhängig sind. Wenn Kinder mit Erwachsenen interagieren, lernen sie auf eine Art und Weise zu handeln und zu denken, die in ihrer Kultur bedeutsam ist.
Damit hat Wygotski darauf verwiesen, dass es die Erwachsenen sind, welche die Interaktion mit dem Kind derart strukturieren, indem sie es so an die Aufgaben heranführen, dass diese etwas über seinen Kompetenzen liegen. Dabei ist das Maß an direktem Engagement und Führung der Erwachsenen der kritische Punkt. Dazu hat Wygotski den Begriff der Zone der nächsten (oder proximalen) Entwicklung (ZNE) eingeführt. Damit ist «das Gebiet der noch nicht ausgereiften, jedoch reifenden Prozesse» gemeint (Wygotski, 1987, S. 83). Das unterste Niveau der ZNE ist definiert durch die unabhängige Leistung des Kindes und ihr oberes Niveau durch das Mögliche, was das Kind mithilfe eines Erwachsenen tun kann. So lange, wie das Wissen des Kindes dort verbleibt, wo Verbesserungen mit Erwachsenenunterstützung immer noch möglich sind, verbleibt es innerhalb der ZNE. Mit der Hilfe von Erwachsenen kann es |43◄ ►44| sich in Richtung unabhängigen und autonomen Denkens entwickeln. Die zentralen Merkmale der ZNE erfordern somit, dass Kinder in diesem Bereich angesprochen werden, damit sie unter der Führung von fortgeschritteneren Peers oder Erwachsenen lernen können. Diese strukturieren das Lernen so, dass das Kind durch die Aufgaben geführt wird, welche gerade unterhalb ihrer aktuellen Kapazität liegen.
In der Praxis sind solche Strategien allerdings wenig verbreitet. Denn in der Regel beurteilen Erwachsene nur den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes. Sie beobachten, was es alleine kann, welche Kenntnisse und Fähigkeiten es besitzt. Selten fragen sie sich jedoch, welchen Bereich sich das Kind als Nächstes aneignen wird, was also seine ZNE ist. Damit werden Gelegenheiten individueller Förderung ausgeblendet. Werden jedoch junge Kinder in der ZNE gezielt gefördert, schreitet nicht nur ihre kognitive Entwicklung schneller voran, sondern es wird oft auch ersichtlich, dass Kinder viel weiter in ihrer Entwicklung sind als angenommen. Wygotski sagt: «Wenn wir also untersuchen, wozu das Kind selbständig fähig ist, untersuchen wir den gestrigen Tag. Erkunden wir jedoch, was das Kind in Zusammenarbeit zu leisten vermag, dann ermitteln wir damit seine morgige Entwicklung» (ebd., S. 83). Hierfür gilt das sogenannte Scaffolding als wichtige Strategie, welche die erwachsene Person nutzen kann. Unter Scaffolding wird eine Methode zur Unterstützung des Lernprozesses durch (a) die Bereitstellung einer Orientierungsgrundlage in Form von Anleitungen, Denkanstößen und anderen Hilfestellungen verstanden und (b) durch die schrittweise Wiederentfernung dieses Gerüsts, sobald das Kind fähig ist, eine bestimmte Teilaufgabe eigenständig zu bearbeiten (vgl. hierzu auch Kapitel 6). In einer bestimmten Art und Weise ist das Scaffolding auch eine Antwort auf die Feststellung Piagets, das Kind würde sich von einem Stadium ins nächste weiterentwickeln. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass in Wygotskis Theorie die Kompetenzentwicklung nicht so sehr von einem endogenen Entwicklungsprozess, sondern stärker von der Instruktion abhängig ist.
3.1.3 Bedeutsame Weiterentwicklungen
Seit den 1990er-Jahren haben sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die Kognitionsforschung dazu beigetragen, das frühpädagogische Wissen weiter zu differenzieren. Nachfolgend werden einige Bereiche diskutiert, welche für die frühpädagogische Bildungsförderung besonders relevant sind. Es sind dies Diskurse zum kompetenten Säugling, die Unterscheidung privilegierter und nicht privilegierter Wissensdomänen sowie die Theory of Mind.
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Der kompetente Säugling
Im vorhergehenden Kapitel wurde erläutert, dass Piaget die ersten beiden Lebensjahre des Kindes als «sensumotorisch», als nicht symbolisch, sondern vollkommen handlungsgebunden und als lediglich mit Reflexen und sensorischen Fähigkeiten ausgestattet, bezeichnet hat. Diese grundlegende Annahme ist heute überholt. Die Entwicklungspsychologie und die Säuglingsforschung gehen davon aus, dass wesentliche Grundelemente numerischen und psychologischen Wissens bereits in den ersten Lebensmonaten nachweisbar oder vielleicht gar angeboren sind (Pauen, 2006). Wenn dem so ist, dann bestehen die Grundlagen für lebenslanges Lernen schon sehr früh. Demzufolge müsste die Stufentheorie Piagets, nach der sich das logische Denken in Stufen und bereichsübergreifend vollzieht, relativiert werden.
Die moderne Forschung enthüllt damit Erstaunliches und Verblüffendes: Das Bild des unbedarften, teilnahmslosen, vor sich hin dämmernden, gefühlslosen und undifferenzierten Säuglings scheint nicht der Realität zu entsprechen. Auf der Basis von Direkt- und Videobeobachtungen und von faszinierenden Experimenten in der natürlichen Umgebung des Neugeborenen entstand die neue Vorstellung des «kompetenten Säuglings» (Dornes, 2001a; b). Mit kompetent ist gemeint, dass wir uns von Anfang an einem beziehungsfähigen, initiativen, differenzierten jungen Wesen gegenübersehen, das bereits mit verschiedensten Gefühlen ausgestattet ist und seine Entwicklung aktiv wählend mitgestaltet. Kompetent heißt natürlich nicht, dass dieses kleine Wesen nun alles selbst gestaltet und ein gleichberechtigter Partner ist, den man mehr oder weniger sich selbst überlassen kann.
Den Mittelpunkt dieser neuen Erkenntnisse bilden drei Paradigmen: das Präferenzparadigma, das Habituierungsparadigma und das Überraschungsparadigma. Sie stehen stellvertretend für Experimente, mit deren Hilfe man Fragen an die Säuglinge stellen und das beobachtete Verhalten als Antwort auf die gestellte Frage verstehen kann (Stern, E. 2002).
• Das «Präferenzparadigma» stellt die Frage, ob ein Säugling zwei Dinge unterscheiden kann und eines davon vorzieht. Im Experiment zeigt man ihm zwei verschiedene Gesichter nebeneinander und misst die Zeitdauer, während deren er sie fixiert. Blickt er eines länger an als das andere, signalisiert er, dass er unterscheidet und eines bevorzugt. Wenn ihm hintereinander, mit einer Pause dazwischen, zwei Reize gezeigt werden, kann festgestellt werden, dass er auch diese unterschiedlich lange fixiert, d. h. einen vorzieht.
• Das «Habituierungsparadigma» stellt die Frage, ob die Aufmerksamkeit auf einen Reiz nach einer gewissen Zeit erlahmt, respektive ob sich der Säugling
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daran gewöhnt. Im Experiment werden u. a. dazu die Schnuller der Säuglinge mit dem Abspielen eines Films gekoppelt. Dabei zeigt sich, dass nach einer bestimmten Zeit die Saugaktivität abnimmt. Wird hingegen ein neuer Film gezeigt, nimmt die Saugaktivität wieder zu. Wenn also ein neuer Reiz auftaucht, kehrt die Aufmerksamkeit wieder zurück.
• Das «Überraschungsparadigma» stellt die Frage, ob der Säugling Erwartungen hat und Abweichungen bemerkt. Im Experiment wird den Säuglingen hinter einer schalldichten Glasscheibe das Gesicht einer Frau gezeigt, die spricht. Der Ton der Stimme wird so eingespielt, dass er nicht aus dem Mund, sondern von der Seite kommt. Bereits im ersten Monat reagieren die Säuglinge erstaunt, was bedeutet, dass sie eine Erwartung hatten. Das Erstaunen wird am veränderten Gesichtsausdruck, an Unruhe und einer Pulsfrequenzänderung abgelesen. Dies bedeutet außerdem, dass die Wahrnehmung eines Unterschieds psychische Bedeutung haben kann. Sie drückt sich durch erhöhte Erregung aus. Wenn Mütter angewiesen werden, ihr natürliches Interaktionsverhalten zu ändern und ohne Veränderung ihrer Gesichtsmimik auf die Annäherungsgesten ihres Kindes zu reagieren, so stellt man schon bei drei Monate alten Säuglingen darüber Erstaunen fest. Sie bemerken also, dass sich die Mutter nicht benimmt wie gewohnt, und sie unternehmen nachdrückliche, von starken motorischen Äußerungen begleitete Versuche, die Mutter umzustimmen.
Diese Forschungsresultate machen deutlich, wie sehr die neue Säuglingsforschung die alten Vorstellungen über die Neugeborenen- und Säuglingszeit revolutioniert hat. Sie bestätigen aber auch wissenschaftlich, was viele Mütter und andere Betreuungspersonen von Neugeborenen und Kleinstkindern schon immer wussten: Durch die Geburt kommt ein Menschenwesen auf die Erde, das von Beginn an in sehr differenzierter Weise am Leben teilhat. Als beziehungsfähiges und aktives Individuum steht es von Anfang an mit seinen Eltern und seiner Umgebung in Beziehung. Der Austausch und die Beeinflussung erfolgen gegenseitig.
Privilegierte und nicht privilegierte Wissensdomänen
Mit der Beschreibung des «kompetenten Säuglings» hat die Säuglingsforschung dazu beigetragen, das Bild der hilflosen Frühgeburt zu revidieren. Mit diesem Sichtwechsel wurde die erneute intensive Erforschung des Lernens von jungen Kindern möglich. Eine bedeutende Relevanz hat dabei die Unterscheidung privilegierter von nicht privilegierten Wissensdomänen (Stern, 2004). |46◄ ►47|
• Der Erwerb von privilegiertem Wissen geschieht intuitiv, «aus sich heraus», ohne besondere Anstrengung oder Unterweisung. Die Tatsache, dass Menschen – ähnlich wie Tiere – mit Instinkten ausgestattet sind, die ihnen das Lernen erleichtern, ist jedoch lange Zeit vernachlässigt worden. Erst in jüngerer Zeit stellte man fest, dass Kinder von Geburt an eine Lernbereitschaft mitbringen und sie somit in sehr vielen Bereichen gut vorbereitet sind. So braucht das Neugeborene für die komplizierte Motorik des Saugens kein Lernprogramm, sondern nur bestimmte «start up»-Mechanismen. Den aufrechten Gang erwerben junge Kinder ohne Anleitung oder bewusste Strategie. Solche Lernvorgänge sind biologisch programmiert und stehen allen Menschen aller Kulturen von Anfang an zur Verfügung.
• Nicht privilegiertes Wissen ist uns nicht in die Wiege gelegt. Dessen Erwerb erfordert den Einsatz von Lernstrategien, von bewusster Zielsetzung und Anstrengung. Nicht privilegiertes Lernen wird intentional, motiviert und systematisch erworben. Weil es stark von der Qualität der jeweiligen familiären, sozialen, pädagogischen und kulturellen Umgebung und der dort handelnden Personen beeinflusst wird, ist es störanfällig. Der Kontext, in dem wir aufwachsen, kann uns den Zugang zu diesen Wissensdomänen öffnen, aber auch erschweren oder gar blockieren.
Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Wissensdomänen ist von großer Tragweite. Weil sich herausgestellt hat, dass nicht privilegiertes Lernen zeitaufwendig ist und weil solche Wissensdomänen Kompetenzen umfassen, die in unserer Wissensgesellschaft bedeutsam sind – viele Kinder mit Minoritätshintergrund jedoch gerade nicht in genügendem Ausmaß über sie verfügen –, ist frühkindliche Bildungsförderung für sie besonders relevant. Zu den nicht privilegierten Wissensdomänen gehören die Schrift, das Zahlensystem und naturwissenschaftliche Phänomene, aber auch frühe Formen der Metakognition und Selbstregulation. Metakognition meint das eigene Wissen einer Person über die kognitiven Vorgänge und über lernrelevante Eigenschaften. Die Förderung der Entwicklung metakognitiver und affektiver Lerndimensionen kann die Kinder befähigen, schulbereite, lernwillige und fähige Lerner zu werden. Als frühe Form der Selbstregulation gilt die private Sprache (private speech). Beobachtet man junge Kinder bei alltäglichen Verrichtungen, dann entdeckt man, dass sie oft laut mit sich selbst sprechen. Piaget nannte dieses Phänomen egozentrische Sprache. Er begründete sie damit, dass ein junges Kind Schwierigkeiten hat, die Perspektive anderer einzunehmen und die egozentrische Sprache deshalb den Sinn eines Selbstgesprächs bekommt. Die kognitive Reifung und bestimmte Sozialerfahrungen mit Gleichaltrigen – so seine Annahme – würden diese egozentrische Sprache beenden.
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In seiner Publikation «Denken und Sprechen» entwarf Wygotski (1971) eine andere Sichtweise. Er ging davon aus, dass Kinder selbstangeleitet mit sich selbst sprechen und dass die private Sprache die kognitiven Aktivitäten lenkt und aufrechterhält. Deshalb erachtete er sie als Grundlage für alle höheren kognitiven Prozesse und nicht wie Piaget als Mangel an Reife und an Perspektivenübernahme. Fast alle Untersuchungen der letzten Jahre haben Wygotskis Sicht bestätigt. Sie verweisen darauf, dass Kinder diese private Sprache mit zunehmendem Alter dann benutzen, wenn sie schwierige Aufgaben zu lösen haben und nicht genau wissen, wie sie vorgehen sollen.
Theory of Mind
Die sogenannte Theory of Mind meint die Fähigkeit, sich Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzustellen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten. Dieses Konzept der Überzeugung ist ein Grundelement unserer naiven Alltagspsychologie. Kinder entwickeln es relativ spät, erst im Alter von drei bis vier Jahren, dann nämlich, wenn sich das Gedächtnis und Problemlösefähigkeiten weiter entfalten und sie beginnen, über ihr eigenes Denken nachzudenken. Konkret lernt das etwa drei- bis vierjährige Kind, sich zu überlegen, was andere Personen denken. Im Alter von fünf Jahren können Kinder Perspektivenübernahmen durchführen und auf den Wissensstand eines Zuhörers Rücksicht nehmen. Sie können zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden. Zwar sind Dreijährige schon dazu in der Lage. So verstehen sie zum Beispiel, dass man einen realen Hund, nicht aber einen imaginären Hund, streicheln kann. Sie lernen nun, dass man etwas denken kann, ohne dies zu sehen oder zu berühren. Sie denken aber noch, dass sich Menschen immer so verhalten, dass dies mit ihren Wünschen übereinstimmt. Sie sehen noch nicht, dass auch Annahmen ihre Handlungen beeinflussen können. Mit etwa vier Jahren merken sie, dass das Verhalten sowohl von Wünschen als auch von Annahmen bestimmt wird. Die Maxi-Geschichte von Wimmer und Perner (1983) belegt diesen markanten Entwicklungsfortschritt. Sie bildet das Instrument zur Erfassung des Verständnisses eines falschen Glaubens.
«Maxi und seine Mutter kommen vom Einkaufen nach Hause. Maxi hilft seiner Mutter, die Einkäufe auszupacken. Er legt die Schokolade in den grünen Schrank. Maxi merkt sich genau, wo er die Schokolade hingetan hat, damit er sich später welche holen kann. Dann geht er auf den Spielplatz. Während er weg ist, braucht seine Mutter etwas Schokolade zum Kuchenbacken. Sie nimmt die Schokolade aus dem grünen Schrank und tut ein wenig davon in den Kuchen. Dann legt sie sie zurück, aber nicht in den grünen, sondern in den blauen Schrank. Sie geht aus der Küche, um Eier zu holen. Dann kommt Maxi hungrig vom Spielplatz zurück.
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Testfrage: Wo wird Maxi die Schokolade suchen? (Die Geschichte wird mit Puppen und einer Puppenhausküche ausagiert. In der Küche gibt es nur zwei Schränke, einen grünen und einen blauen.)
Ergebnisse: Nahezu alle dreijährigen Kinder antworten auf die Testfrage: ‹Im blauen Schrank› (wo die Schokolade tatsächlich ist), während 40 bis 80% (je nach experimenteller Bedingung) der Vier- bis Fünfjährigen korrekt ‹im grünen Schrank› antworten.»
Kinder lernen somit zwischen drei und fünf Jahren, die Überzeugungen einer Person mit einzubeziehen. Davor verstehen sie nicht, dass subjektive Überzeugungen von der Realität abweichen können. Deshalb berücksichtigen sie diese nicht bei ihrer Handlungsvorhersage.
3.1.4 Hirnforschung und FBBE
Eine Maxime der Hirnforschung lautet: Die intensive Förderung und Anregung bereits ab der frühesten Kindheit schafft ein differenzierteres neuronales Netzwerk. Ein solches Netzwerk ist grundlegend für das soziale, emotionale und kognitive Lernen. Im Mittelpunkt stehen mittlerweile vor allem die Befunde, wonach nicht nur Lernprozesse, sondern auch das Entstehen emotionaler Bindungen mit Hirnfunktionen erklärt und analysiert werden können. Postuliert wird dabei, dass Prägungen der frühen Kindheit – erworben in schmalen Zeitfenstern – später kaum revidierbar seien und so Kompetenzen bereits früh festgelegt würden. Gerade im Zuge der Diskussion um frühkindliche Bildung drängen solche Erkenntnisse in die bildungspolitische Debatte, die noch vor 20 Jahren kaum jemand mit Bildung in den ersten Lebensjahren in Zusammenhang gebracht hätte.
Wie glaubwürdig sind solche Erkenntnisse? Welche konkreten Konsequenzen haben sie für den bisher klassisch pädagogisch geprägten Bildungsbegriff? Muss die Idee der (humanistischen) Erziehung zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden? Oder lassen sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemloser integrieren, als vorschnell angenommen wurde? Nachfolgend werden solche Fragen angeschnitten, indem zur Entwicklung des Gehirns, zu seiner Plastizität grundlegende Informationen zusammengestellt werden und dabei auch die aktuell besonders brisanten Fragen nach den frühen Bindungserfahrungen, der angemessenen Stimulierung und den Zeitfenstern angeschnitten werden.
Gehirnentwicklung: Heute wissen wir, dass das Gehirn enormen Veränderungen ausgesetzt ist und sich dieses im Säuglings- und Kleinkindalter in ganz erstaunlicher Geschwindigkeit, schneller als alle anderen Körperorgane, entwickelt. Haben Nervenzellen|49◄ ►50| erst einmal den für sie vorgesehenen Platz eingenommen, dann bilden sie eine hohe Anzahl an Synapsen oder Verbindungen. Während der Hauptwachstumsperiode in den Hirnregionen sterben viele Nervenzellen ab, um Raum für neue synaptische Verbindungen zu schaffen. Die Stimulierung legt dabei fest, welche Nervenzellen überleben werden und fortfahren, neue Synapsen zu bilden. Mit zwei Jahren hat ein Kleinkind etwa so viele Synapsen wie Erwachsene und mit drei Jahren doppelt so viele. Bis zum Alter von zehn Jahren bleiben sie konstant, dann wird bis zirka 15 Jahre die Hälfte abgebaut. Von da an bleiben sie bei einer Anzahl von etwa 100 Billionen stabil. Die doppelt so hohe Zahl von Synapsen mit drei Jahren erklärt, wieso das Gehirn eines Dreijährigen mehr als doppelt so aktiv ist wie das eines Erwachsenen.
Plastizität: Hinlänglich bekannt ist, dass der zerebrale Kortex (Großhirnrinde) in zwei mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattete Hemisphären unterteilt ist («Lateralisierung»). Jede empfängt sensorische Informationen nur von einer bestimmten Seite des Körpers und steuert auch nur diese. Es ist dies die Seite der gegenüberliegenden Hemisphäre. Überwiegend ist die linke Hemisphäre der Sitz verbaler Aktivitäten und positiver Emotionen, während dies für die räumliche Fähigkeiten und negative Emotionen die rechte ist. Die linke Hemisphäre verarbeitet Informationen besser auf eine analytische und sequenzielle Art, während die rechte Hemisphäre Informationen ganzheitlich verarbeitet. Junge Kinder haben eine sehr große Hirnplastizität. Neville und Bruer (2001) haben herausgefunden, dass frühe Kindheitserfahrungen die Struktur des Gehirns beeinflussen und eine Spezialisierung bestimmter Areale bewirken können. In ihrer Entwicklung weit fortgeschrittene Kinder im Krabbelalter weisen eine stärker spezialisierte linke Hemisphäre auf als gleichaltrige nicht akzelerierte Kinder. Die Autoren schließen daraus, dass Spracherwerb die Lateralisierung fördert. Zur Organisation des Gehirns tragen sowohl Vererbung wie auch frühe Erfahrungen bei.