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Frühe Bindungserfahrungen und angemessene Stimulierung: Frühe Bindungserfahrungen wirken sich auf die kindliche Gehirnentwicklung aus. Damit sich neuronale Netzwerke verdichten und daraus bleibende Strukturveränderungen entstehen, ist eine gleichzeitige Stimulation bestimmter Gehirnareale wichtig. Becker-Stoll (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung feinfühliger Interaktion der Bezugsperson mit dem Kleinkind. Sie beeinflusst die frühkindlichen emotionalen Erfahrungen und diese die funktionelle Gehirnentwicklung, welche zur Entstehung neuer Schaltkreise – wie der sensorischen, motorischen und limbischen (der Verarbeitung von Emotionen dienend) – im Gehirn führen. Unzulängliche Stimulierung von Säuglingen und Kleinkindern – gemeint sind damit die fehlenden und vielfältigen Erfahrungen eines liebevollen Umfelds – führen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen. Daraus lässt sich schließen, dass die Qualität des emotionalen Umfelds und |50◄ ►51| der Grad der frühkindlichen Förderung die späteren sozioemotionalen und intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes beeinflussen. Es sind aber nicht nur Verarmung oder Deprivation, welche sich negativ auf seinen Entwicklungsgang auswirken. Es sind auch die vielen frühen Lernangebote, welche jungen Kindern und ihren Eltern, häufig in fraglicher, d.h. nicht entwicklungsangemessener Art, angeboten werden. Obwohl die meisten dieser Angebote auf eine «optimale frühe Förderung» zielen, damit die «Zeitfenster der Entwicklung» ausgenutzt werden sollten, wirkt sich eine Stimulation, für die das Kind noch nicht bereit ist, eher so aus, dass es sich zurückzieht und auf diese Weise sein Interesse am Lernen verliert.
Zeitfenster der Entwicklung: In Phasen enormer Entwicklung ist die Stimulierung des Gehirns entscheidend. Ein Argument, das vor allem von bildungs- und gesellschaftspolitischer Seite her immer wieder verwendet wird, um für die frühkindliche Bildung zu plädieren, fokussiert auf die kritischen Zeitfenster, in denen das junge Kind maximal beeinflussbar sei. Bleibe zu dieser Zeit die Stimulation aus, so komme es zu nicht optimalen und kaum mehr kompensierbaren Entwicklungsverzögerungen. Zwar gilt es heute als unumstritten, dass bestimmte sensorische Erfahrungen früh in der Entwicklung gemacht werden müssen, damit sich das Gehirn optimal ausbilden kann. Solche Aussagen basieren jedoch nur auf normaler Stimulation. Deshalb lässt sich daraus nicht schließen, es seien besondere Anstrengungen oder Stimulationsprogramme nötig, damit die Gehirnentwicklung unterstützt werden könnte. Verschiedene Studien kommen vielmehr zum Schluss, dass Überstimulation durch besondere Trainingsprogramme beim Kleinkind negative Auswirkungen haben kann und dass die Befunde der Hirnforschung nicht die spezifische Fokussierung der frühkindlichen Bildung im Sinne expliziter Stimulierung legitimieren (Stern, 2008). Als gesichert gilt jedoch die Bedeutung sensibler Perioden für den Spracherwerb.
Fazit
Die Entwicklungspsychologie und die Hirnforschung haben nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als man früher annahm, und dass die Lernfähigkeiten von Säuglingen beeindruckend sind. Daraus folgt, dass die Annahme, Wissen könne erst auf genug weit entwickelten Strukturen aufgebaut werden, relativiert werden muss. Die Befunde liefern darüber hinaus auch Hinweise auf Altersbereiche, in denen Kinder besonders von Lernangeboten profitieren können. Die Bedeutung der Zeitfenster ist jedoch eher auf den Erwerb sensorischer Fähigkeiten und den Spracherwerb eingeschränkt und gilt kaum für kulturell vermittelte Wissensbestände.
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Im Hinblick auf die aufgeworfene Frage, ob der traditionelle Bildungsbegriff zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden müsse oder ob sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemlos integrieren lassen, lässt sich folgende Bilanz ziehen (vgl. dazu auch Viehhauser, 2010): Die Neurowissenschaften zeigen die biologischen Aspekte von Lernprozessen, Gedächtnisfunktionen und dem Verhalten und auch die Verluste und Gewinne auf, wenn Nervenzellen verkümmern und wenn sich Hirnstrukturen durch qualitativ gehaltvolle Anregungen festigen. Was jedoch wünschenswerte Lernprozesse oder die Qualität von Anregungen auszeichnet und wie hochwertige Anregungen zu vermitteln sind, bleibt allein der Pädagogik der frühen Kindheit reserviert. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse können dazu nur sehr wenig direkte Aussagen machen. Ziel von frühpädagogischen Bestrebungen muss die Heranbildung des jungen Kindes zur Person im gesellschaftlichen Kontext bleiben. Es geht demnach weder darum, dass sich die Frühpädagogik zu einer «Pädagogik des Gehirns» entwickelt, noch um eine bloße Zurückweisung biologischer Erkenntnisse. Ziel ist die kritische Übersetzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Pädagogik der frühen Kindheit. Basis bilden die folgenden neurowissenschaftlich fundierten Thesen:
• Das Lernen der Kinder wird unterstützt durch die Förderung von Bewegung, Wahrnehmen, Kommunikation sowie durch Interesse und Rückmeldung anderer.
• Lernen ist für Kinder dann nachhaltig, wenn es für sie bedeutungsvoll und lebensnah, d. h. auf ihre Erfahrungen, Wünsche oder Alltagsprobleme bezogen, ist.
• Kinder lernen unterschiedlich, in unterschiedlichem Tempo, in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (z.B. allein oder in der Gruppe). Sie brauchen die Rücksichtnahme auf ihre Lernstile und Lerntypen.
3.2 Soziale und emotionale Entwicklung
Die frühe Kindheit ist nicht nur eine Zeit unerhörten kognitiven, sondern auch sozialen und emotionalen Wachstums. Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (1973) hat die bedeutsamsten Erkenntnisse für die Thematik frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsprozesse geliefert. Dabei hat er wesentliche Teile der psychoanalytischen Theorie Freuds verfeinert, spätere Lebensabschnitte einbezogen und sein Konzept der Entwicklungsaufgaben ausdifferenziert. Eriksons Theorie zufolge findet |52◄ ►53| Entwicklung ein Leben lang statt, von der Geburt bis ins hohe Alter. Den Lebenslauf untergliedert Erikson in acht Stufen. Auf jeder dieser Stufen hat der Mensch spezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Gelingt dies nicht, resultieren daraus möglicherweise bleibende Entwicklungsstörungen. Die für die frühe Kindheit relevanten Stufen sind:
• Vertrauen versus Misstrauen (erstes Lebensjahr),
• Autonomie versus Scham/Zweifel (zweites bis drittes Lebensjahr),
• Initiative versus Schuldgefühl (viertes bis sechstes Lebensjahr).
Im ersten Lebensjahr geht es um den Aufbau des Urvertrauens. Damit der zentrale psychische Konflikt des Urvertrauens versus Urmisstrauens positiv aufgelöst werden kann, ist eine warmherzige und einfühlsame Fürsorge zentral. Im zweiten und dritten Lebensjahr geht es um das Erlernen von Selbstkontrolle. Hier gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem eigenen Willen, der sich als Trotz und Protest manifestieren kann, und der Befolgung der elterlichen Gebote. In der dritten Phase, zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr, steht der Aufbau des Vertrauens in die eigene Initiative und Kreativität im Mittelpunkt. Das Vorschulkind lernt, sich an Vorbildern zu orientieren (Eltern, Erziehenden, Geschwistern, Peers) und sich mit ihnen zu vergleichen. Eine Aufgabe dieser Phase ist es auch, mit Schuldgefühlen und Angst vor Strafe umgehen zu lernen. Eine gesunde Eigeninitiative kann das Kind dann entwickeln, wenn es die Welt durch Spielen explorieren kann und in allgemein gute Beziehungen eingebettet ist.
Zahlreiche neuere und neue Studien bestätigen Eriksons Theorie insofern, als sie empirische Belege dafür liefern, dass mit unzureichendem Vertrauen und mangelnder Autonomie ausgestattete Kinder später erhöhte Anpassungsprobleme haben. Die drei zentralen Größen Freude, Wut und Furcht gehören heute zu den am häufigsten untersuchten Themenbereichen der frühkindlichen Forschung (Berk, 2005). So wissen wir, dass sich im Verlauf des ersten Lebensjahres diese Grundemotionen zu klaren, gut organisierten Signalen entwickeln. Das soziale Lächeln erscheint zwischen der sechsten und zehnten Lebenswoche, das Lachen zwischen dem dritten und vierten Lebensmonat. Die Freude unterstützt nicht nur die Bindungsstrukturen zwischen Eltern und Kind, sondern auch die kognitiven und physischen Lernprozesse. Ärger und Furcht – als «Fremden» oder «Fremdenangst» gekennzeichnet – nehmen in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zu. Diese Fremdenangst gilt als Schutz des Kindes vor fremden Personen, welchen es aufgrund der enorm gewachsenen motorischen Fähigkeiten ausgeliefert sein kann.
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Nachfolgend werden die wichtigsten Bausteine der sozial-emotionalen Entwicklung dargestellt. Es sind dies die Temperamentsentwicklung des jungen Kindes, die Bindungsentwicklung, das Selbstkonzept und die Aggressionsentwicklung.
3.2.1 Temperamentsstrukturen und emotionale Entwicklung
Ist von Persönlichkeitsunterschieden zwischen Kindern die Rede, dann sind häufig Merkmale gemeint, die sich mit dem Begriff «Temperament» in Verbindung bringen lassen. Angeborene Temperamentsfaktoren bestimmen in einem gewissen Umfang mit, in welche Richtung sich Kinder in ihren ersten Lebensjahren entwickeln und welche Persönlichkeitseigenschaften sie dabei ausbilden. Heute unterscheidet man vier Dimensionen von Temperament:
• Bereitschaft zur positiven Annäherung: reflexartige Hinwendung zu neuen, nicht vertrauten Reizkonstellationen.
• Bereitschaft, auf negative Affekte und Irritationen zu reagieren: Man unterscheidet Kleinkinder mit langen und solche mit kurzen Habituationszeiten (Gewöhnungszeiten).
• Kontrollbereitschaft: Gemeint ist damit, Erregungsniveaus so zu regulieren, dass sie eine mittlere Bandbreite weder über- noch unterschreiten. Solche Fähigkeiten werden dann allmählich zur Selbstkontrolle ausgebaut.
• Soziale Orientierung: Bereitschaft und spätere Fähigkeit, auf Menschen freundlich und gegebenenfalls mit Hilfe zu reagieren.
Säuglinge unterscheiden sich in ihren Temperamentsstrukturen, insbesondere in der Qualität und Intensität ihrer Emotionen, ihrem Aktivitätsniveau, ihrer Aufmerksamkeit und ihrer emotionalen Selbstregulation. Thomas und Chess (1977) teilten aufgrund ihrer Beobachtungsstudien Kinder im ersten Lebensjahr drei unterschiedlichen Temperamentskategorien zu: das einfache Kind, das schwierige Kind und das gehemmte Kind. 35% der Kinder ließen sich jedoch nicht eindeutig zuordnen. Das einfache, «pflegeleichte» Kind (40%) entwickelt rasch regelmäßige Routinen und ist zumeist fröhlich. Die Anpassung an neue Situationen fällt ihm leicht. Das «schwierige» Kind (10%) lässt Unregelmäßigkeiten in seiner täglichen Routine erkennen, akzeptiert neue Erfahrungen nur langsam und neigt dazu, negativ mit übermäßiger Intensität zu reagieren. Das «gehemmte» Kind, das nur langsam aktiv wird (15%), zeigt wenig Aktivität, lässt undeutliche, wenig intensive Reaktionen auf Umweltstimuli erkennen, seine emotionale Disposition ist eher negativ und die Anpassung an neue Situationen langsam.
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Was jedoch beeinflusst Temperament? Zum einen sind es genetische Einflüsse inklusive ethnischer und geschlechtsbedingter Unterschiede, zum anderen umweltbedingte (Familie, Erziehungsstil, familienexterne Betreuung) sowie kulturbedingte Unterschiede. Temperament und Umweltbedingungen sind immer verschränkt in ihrem Einfluss auf die zukünftige kindliche Entwicklung. Da sich jedoch das Temperament mit zunehmendem Alter verändert, muss angenommen werden, dass Umweltbedingungen nicht per se das schon vorhandene Temperament erhalten oder sogar intensivieren. Das Modell der guten Passung (goodness-of-fit-model) von Thomas und Chess (ebd.) verdeutlicht, wie Temperament und Umwelt in ihrer Interaktion zu günstigen Ergebnissen führen können. Eine gute Passung umfasst eine adäquate sozial-emotionale Umgebung, die sowohl auf das Temperament des Kindes ausgerichtet ist als auch die adaptiven Funktionen betont. Damit ist gemeint, dass ein gutes Passungsmodell sanft und nachdrücklich auf fehlangepasstes Verhalten einwirkt. Schwierige oder schüchterne Kinder, welche zunehmend ein adaptives Funktionsniveau erreichen, haben häufig Eltern, die eine Erziehung praktizieren, welche die optimale Passung in den Mittelpunkt stellt.
Temperament und elterliches Rollenmodell respektive der Erziehungsstil wirken sich auch auf die Fähigkeit des Vorschulkindes aus, mit negativen Emotionen umzugehen. Parallel mit der Entwicklung des Selbstkonzepts beginnt das Kind auch häufiger, selbstbezogene Emotionen wahrzunehmen. Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle, denn die von ihnen ausgehenden Botschaften beeinflussen sowohl die Situationen, in denen Emotionalitäten auftauchen, als auch deren Intensität. Auch Empathie tritt nun vermehrt auf. Das kindliche Temperament und der elterliche Erziehungsstil beeinflussen das Ausmaß, in welchem prosoziales oder altruistisches (selbstloses, aufopferndes) Verhalten gezeigt wird.
3.2.2 Bindungsentwicklung
Um das erste Lebensjahr herum gewinnen Reaktionen auf Trennungen von der Hauptbezugsperson und deren Verarbeitung besondere Bedeutung. Initiiert durch die Arbeiten von John Bowlby (1909 – 1990) und Mary Ainsworth (1913 – 1999), hat dieses Bindungsverhalten in der Forschung große Beachtung gefunden. Es erlaubt die Einteilung in Bindungsklassen und die Beurteilung von Bindungsqualität. Das kindliche Bindungsverhalten ist auch für die außerfamiliäre Betreuung zentral.
Die am meisten akzeptierte Sichtweise der Bindungsentwicklung ist die ethologische Theorie (Bowlby, 1969). Sie basiert auf dem Verständnis, dass Säuglinge biologisch darauf vorbereitet sind, sich aktiv an eine Person zu binden, und dass die kindliche Reaktion bei der Bindungsperson ein Fürsorgeverhalten auslöst. Eine ganze |55◄ ►56| Reihe angeborener Verhaltensweisen macht die Anwesenheit der Bezugsperson in den ersten Monaten nötig. Ein Kind kann, jedoch erst wenn sich eine Personpermanenz entwickelt hat (was nach dem sechsten Lebensmonat der Fall ist), emotional ausdrücken, dass es seine Bezugsperson vermisst. Diese Art und Weise der emotionalen Reaktion liefert zugleich die Grundlagen für späteres Bindungsverhalten.
Dass sich eine sichere Bindung entwickelt hat, zeigt sich beispielsweise an der mit sechs bis acht Monaten auftauchenden Fremdenangst und der Reaktion auf die Bezugsperson. Die Nähe zu ausgewählten Bezugspersonen entspricht dem angeborenen Bedürfnis nach einer sicheren Basis oder – wie Bowlby sagt – einem haven of safety. Der Wunsch nach Nähe zur vertrauten Person ist für das Kleinkind überlebensnotwendig, geht aber einher mit dem entgegengesetzten Bedürfnis nach Autonomie, sich von der Mutter (oder dem Vater) zu entfernen und die Umwelt zu erforschen. Manche Kinder reagieren sehr emotional und heftig, wenn sie von ihrer Mutter oder dem Vater für kurze oder längere Zeit verlassen werden, anderen merkt man kaum etwas an. Bowlby und Ainsworth vertraten die Ansicht, dass die Art und Weise, wie ein Kind auf die Trennung von ihrer Bezugsperson reagiert, Hinweise auf die Bindungsqualität liefert.
Mary Ainsworth entwickelte den klassisch gewordenen Fremde-Situation-Test (Bowlby & Ainsworth, 1985). Dabei handelt es sich um ein entwicklungspsychologisches Experiment, das die Kriterien Bowlbys für eine sichere Bindung zwischen Kind und Mutter nachweisen soll. Dieser Test ermöglicht die Messung der Qualität der Bindungsbeziehung auf der Basis des kindlichen Verhaltens in einer fremden Situation. Der Test – im Idealfall in einem durch Einwegscheiben beobachtbaren Raum durchgeführt – gliedert sich in acht Phasen von jeweils drei Minuten. Zu bemerken ist, dass es sich nicht ausschließlich um die Mutter, sondern um die wichtigste Bindungsperson, handeln muss.
1.Die Mutter setzt ihr Baby beim Spielzeug auf einer Matte am Boden ab.
2.Die Mutter setzt sich auf einen Stuhl und liest eine Zeitschrift. Mutter und Kind sind allein im Raum. Das Kind spielt.
3.Eine fremde Frau tritt ein, setzt sich zur Mutter, unterhält sich mit ihr und befasst sich auch mit dem Kind.
4.Die Mutter verlässt unauffällig den Raum. Die fremde Frau geht auf das Kind ein.
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5.Die Mutter kommt zurück, während die fremde Frau den Raum verlässt. Die Mutter beschäftigt sich mit dem Kind.
6.Die Mutter verlässt den Raum wieder, diesmal verabschiedet sie sich vom Kind. Das Kind bleibt allein zurück.
8.Die fremde Frau tritt wieder ein. Sie versucht, falls nötig, das Kind zu trösten.
9.Die Mutter kommt zurück, die fremde Frau verlässt den Raum.
Je nachdem, wie einfühlsam die Mutter respektive die Bezugsperson handelt und reagiert, entwickelt sich einer der nachfolgend angeführten Bindungstypen. Die Prozentsatzzahlen stammen aus der Untersuchung von Van Ijzendoorn und Bakermans-Kranenburg (1996).
• (A) Sicher: Eltern, die mit ihren Kindern feinfühlig interagieren, erhalten sicher gebundene Kinder. Die gefühlsmäßige Betroffenheit ist zu sehen. Das Kind sucht die Nähe und die Kommunikation zur Person. Das Kind lässt sich rasch trösten, jedoch nicht von der fremden Frau (ca. 55%).
• (B) Vermeidend-unsicher: Reagiert die Bezugsperson auf Trostbedürfnisse oder auf freudige Ereignisse eher reserviert und zurückweisend, erhalten die Eltern verstärkt vermeidend gebundene Kinder. Im Test zeigt das Kind einen eingeschränkten Gefühlsausdruck. Es meidet die Bezugsperson, äußert nur wenig Betroffenheit und setzt sich neugierig mit dem Spielzeug auseinander. Es begrüßt die Mutter bei der Rückkehr eher distanziert (ca. 23%).
• (C) Ambivalent-unsicher: Das Kind äußert eine starke Betroffenheit und sucht die Nähe, gemischt mit Ärger und Kontaktwiderstand. In der fremden Situation zeigt es vor allem Passivität, erkundet das Spielzeug wenig und lässt sich nach der zweiten Trennung von der Bezugsperson nur schwer trösten. Eltern solcher Kinder reagieren teils feinfühlig, gelegentlich zurückweisend (ca. 8%).
• (D) Desorganisiert-desorientiert: Die Kinder von desorganisierten Eltern zeigen deutliches, nicht auf eine Bezugsperson bezogenes und bizarres Verhalten wie Grimassenschneiden, Einfrieren der Mimik oder Erstarren. Das Verhalten ist insofern außergewöhnlich, als Abbruch, Wiederaufnahme und erneuter Abbruch der Kontaktaufnahme beobachtet werden können (ca. 15%).
Diese vier Qualitäten (sicher, vermeidend, ambivalent, desorganisiert) sind in den letzten 20 Jahren vielfach empirisch bestätigt worden. Im internationalen Vergleich zeigt sich dabei immer wieder, dass sich Erziehungs- und Sozialisationspraktiken unterschiedlich auf das Bindungsverhalten auswirken. In den USA und in Europa ist die Bindungsklasse A häufiger als Bindungsklasse B anzutreffen, während in Japan und Israel die Bindungsklasse C häufiger als Bindungsklasse B nachgewiesen werden |57◄ ►58| konnte. In vielen Studien hat sich ferner gezeigt, dass sicher gebundene Kinder aus Mittelschichtfamilien, die unter positiven Lebensumständen auf wuchsen, ihr Bindungsmuster häufiger behielten als unsicher gebundene Kinder. Eine Ausnahme bildeten desorganisiert gebundene Kinder, welche eine ausgesprochen hohe Stabilität zeigten.
Für die Entwicklung von Bindungsqualität zentral ist somit die Möglichkeit des Säuglings, zu einer oder mehreren erwachsenen Personen eine enge Bindung einzugehen. Eine große Rolle spielen jedoch auch die feinfühlige Fürsorge dieser Personen, die Passung des Umgangs mit dem Kind und seinem Temperament sowie die kontextuellen Aufwachsbedingungen. Insgesamt belegen diese empirischen Befunde, dass die Bindungsqualität keine Persönlichkeitseigenschaft des Kindes ist, sondern ein Beziehungsmerkmal, das sich im Laufe der Zeit wandeln kann. Allgemein gilt sie jedoch als stabiles Merkmal, das ein guter Prädiktor für problematisches Verhalten in der Schulzeit darstellt.
Bedeutet dies somit, dass sich eine sichere Bindungsqualität auf die nachfolgende kognitive, soziale und soziale Kompetenzentwicklung auswirkt? Dazu sind die Forschungsergebnisse nicht schlüssig. Sicher ist, dass die kontinuierliche Fürsorge ein Faktor von großer Bedeutung ist, um die Bindungssicherheit in den folgenden Jahren erhalten zu können. Unsicher gebundene Kinder zeigen in familienexterner Betreuung häufig Verhaltens- oder Anpassungsprobleme, während sich sicher gebundene Kinder deutlich häufiger als sozialkompetent erweisen, die in Konfliktsituationen besser mit Gleichaltrigen umgehen können als unsicher gebundene Kinder.
Was bedeutet Bindungssicherheit für ein Kind, das familienextern betreut wird? Diese Frage wird in Kapitel 9 ausführlich diskutiert. An dieser Stelle seien lediglich zwei Bemerkungen festgehalten:
a. dass hierzulande bildungs- und sozialpolitisch viel über diese Thematik gestritten wird, nicht zuletzt deshalb, weil die gesellschaftliche Akzeptanz von familienexterner Betreuung nicht besonders hoch ist. In anderen Ländern – wie Italien, Frankreich oder den skandinavischen Ländern – ist sie deutlich höher.
b. dass im Ergebnis nur geringe Unterschiede zwischen fremdbetreuten und in der Familie aufwachsenden Kindern ermittelt werden konnten. Von enormer Bedeutung scheint hingegen die Sensibilität und Responsivität der Mutter zu sein: Sie bestimmen die Bindungsqualität. Fremdbetreuung hat darauf fast keinen Einfluss – außer, wenn die Beziehung vorbelastet ist. Kommen solche Kinder in qualitativ hochstehende Fremdbetreuung, dann können sie ihre Bindungsunsicherheit jedoch stabilisieren. Werden unsicher gebundene Kinder zusätzlich ungünstig fremdbetreut, vergrößert sich das Risiko; sind sie besonders günstig, dann vermindert es sich.
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3.2.3 Die Entwicklung des Selbstkonzepts
Der früheste Hinweis auf ein während des zweiten Lebensjahres auftauchendes Selbstbewusstsein ist das Ich, ein Gefühl für das eigene Selbst als sich selbst erkennendes, handelndes Subjekt. Während des zweiten Lebensjahres beginnt das Kleinkind, ein Selbst zu konstruieren. So wird sich das Kind beispielsweise seines Aussehens bewusst, und im Alter von zwei Jahren beginnt es, seinen Namen oder ein Personalpronomen zu verwenden, wenn es sich selbst meint. Diese Selbstaufmerksamkeit ist es auch, welche zu seinen ersten Bemühungen führt, die Sichtweise anderer Menschen zu verstehen und diese mit der eigenen zu vergleichen. In der Sprache beginnen sich soziale Kategorien zu zeigen. Das Selbstkonzept des Vorschulkindes entwickelt sich in erster Linie in der zunehmenden Selbstwahrnehmung weiter. Diese geht beispielsweise einher mit Streitereien mit Peers um gewünschte Gegenstände, aber auch mit ersten Kooperationsversuchen mit anderen Kindern. Nach drei Jahren beginnt sich der Selbstwert auszudifferenzieren. Obwohl das Selbstkonzept bei Vorschulkindern bisher nur rudimentär untersucht worden ist, verweisen verschiedene Längsschnittstudien auf ein insgesamt hohes Selbstwertgefühl (Weinert & Helmke, 1997; Weinert, 1998).
3.2.4 Peerbeziehungen
Während der frühen Kindheit wird die Interaktion zwischen Kleinkindern immer wichtiger (Viernickel, 2010). Bereits sehr junge Kinder zeigen Gleichaltrigen gegenüber ein deutlich anderes Verhalten als gegenüber materiellen Objekten. Babys unter einem Jahr versuchen, Gleichaltrige anzulächeln, Laute zu äußern, sich anzunähern und sie zu berühren. Solche sozial ausgerichteten Verhaltensweisen kann man allerdings noch nicht als Interaktionen bezeichnen. Um solche handelt es sich erst dann, wenn das Gegenüber auch eine soziale Reaktion zeigt. Dies ist gegen Ende des ersten Lebensjahres der Fall (z.B. Austausch von Spielobjekten, gegenseitige Nachahmung; erste einfache Spiele). Im zweiten Lebensjahr manifestieren sich dann enorme Entwicklungen. Zunächst findet eine Entwicklung von vorwiegend nicht sozialer Aktivität auf das Parallelspiel hin statt. Mit Parallelspiel gemeint ist, dass Kinder Seite an Seite sitzen und ähnliche Materialien verwenden, jedoch alleine vor sich hin sprechen und vom Gegenüber wenig Kommunikatives aufnehmen.
Auch bei drei- und vierjährigen Kindern bleiben Allein- und Parallelspiel weiterhin bestehen. Fast alle Interaktionen finden in dieser Altersgruppe zwischen lediglich zwei Kindern statt. Die komplexe Situation, in der mehrere Kinder in einem Gruppenprozess ein Spiel initiieren, ihre Rollen darin finden und das Spiel flexibel abwandeln und weiterentwickeln, übersteigt sowohl die kognitiven als auch die sozialen Fähigkeiten vieler sehr junger Kinder. Sie stellt sich erst mit etwa vier bis fünf |59◄ ►60| Jahren ein. Zu beachten ist allerdings, dass Kleinkinder, die sich regelmäßig treffen, früher schon erste Beziehungsmuster entwickeln. So kommt es in stabilen Gruppen zu einer nachweisbaren Bevorzugung bestimmter Interaktionspartner. Die meisten Kinder bevorzugen ein oder zwei andere Kinder der Gruppe und treten mit diesen verstärkt in einen sozialen Austausch, während zu anderen wenig oder kein Kontakt entsteht. Diese Tendenz verstärkt sich im Verlauf der Vorschulzeit. Auch die Qualität der Interaktionen variiert in Abhängigkeit vom Partner. Es entstehen spezielle Beziehungen zwischen zwei Kindern, die von besonders positiver und kooperativer Natur sind. Auch wenn man gemäß Viernickel (2000) vorsichtig damit sein sollte, bei Kindern in einem Alter, in dem sie zur Selbstauskunft noch nicht fähig sind, bereits von Freundschaften zu sprechen, gibt die empirische Forschung doch Hinweise darauf, dass schon Kleinkinder zwischen mehreren Interaktionspartnern differenzierte Wahlen treffen und im Kontakt mit ihnen unterschiedliches Verhalten realisieren. Eltern haben auf die sozialen Beziehungen ihrer Kinder sowohl eine direkte (über die Beeinflussung der Peerbeziehungen) als auch indirekte Auswirkung (über ihre Erziehungspraktiken). Sichere Bindungsmuster und positive Eltern-Kind-Gespräche korrelieren mit positiven Peerinteraktionen. Für die FBBE-Thematik besonders relevant sind solche Befunde, weil dadurch die familienergänzende Betreuung die große Chance bekommt, durch die Erweiterung des Peerkreises insbesondere die Idee der frühkindlichen Bildung proaktiv zu unterstützen. Kinder lernen auf diese Weise nicht nur, wie man sich sozial austauscht, wie man einen Dialog führt, wie man sich eingliedert, wie man Regeln einhält und auch Kompromisse schließen kann, sondern sie lernen in solchen Settings auch den Erwerb vieler Vorläuferkompetenzen (sprachlicher und mathematischer Art). In vielen Untersuchungen hat sich dabei gezeigt, dass sozial kompetente Kinder über bessere Vorläuferfähigkeiten verfügen als sozial weniger kompetente Kinder (Osborn & Milbank, 1987; Sylva, Melhuish, Sammons, Siraj-Blatchford & Taggart, 2004; 2008).