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Einer der beeindruckendsten Befunde ist, dass frühe positive Peerbeziehungen späteren Schulproblemen inklusive gesundheitlicher Störungen entgegenwirken können. Heute wissen wir, dass die soziale Positionierung der Kinder im Kindergarten ein starker Prädiktor für die soziale Stellung und die Schulleistung in der Primarschule darstellt, teilweise sogar für das Jugendalter (Stamm, 2005). Daraus folgt, dass soziale Interaktionen und Peerbeziehungen von Vorschulkindern bereits in diesem entwicklungspsychologisch relevanten Stadium genau betrachtet werden müssen.
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3.2.5 Entwicklung der Moral und ihre Kehrseite: Die Aggression
In den letzten Jahren ist die Frage, wie und ob sich Kinder von Erwachsenen vorgegebene Standards überhaupt anzueignen in der Lage sind, zu einer im bildungs- und sozialpolitischen Bereich hoch aktuellen Thematik geworden. Freuds Theorie besagt, dass der Mensch mit mächtigen sexuellen und aggressiven Trieben geboren wird und diese erst im Alter von fünf Jahren, wenn eine Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gelingt und er dessen Werte und Verhaltensstandards übernimmt, unter Kontrolle bringt. Disziplinierung, die sich aus Angst vor Strafe und dem Verlust elterlicher Liebe ergibt, ist der Gewissensbildung somit nicht förderlich. Der Behaviorist Watson wiederum stellte sich den Menschen als «unbeschriebenes Blatt», als «tabula rasa» vor, weshalb das Kind erst durch Belohnung bzw. Bestrafung das «richtige» bzw. «falsche» Verhalten lernt. Anders die soziale Lerntheorie: Sie betrachtet die Verstärkung und das Modelllernen als Grundlage moralischen Handelns. Daraus folgt, dass erwachsene Rollenmodelle für moralisches Handeln besonders effektiv sind, wenn sie sich als warmherzig erweisen, positive Autorität ausstrahlen und das, was sie dem Kind demonstrieren, auch selber tun. Häufige und harte Bestrafung wirkt sich auf die Internalisierung nicht förderlich aus und führt auch nicht zum Erlernen sozial akzeptablen Verhaltens, sondern zu vielen unerwünschten Nebenwirkungen. Die kognitive Entwicklungstheorie schließlich betont das Denken, d. h. die Fähigkeit des Kindes, vernünftig über Gerechtigkeit und Fairness nachzudenken. Schon in den Vorschuljahren sind junge Kinder in der Lage, moralische Urteile zu fällen und zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.
Alle diese Theorien moralischer Entwicklung erkennen an, dass das Gewissen in der frühen Kindheit entsteht. Die meisten Theorien unterstützen die Sichtweise, dass die kindliche Moral zunächst durch Erwachsene kontrolliert und erst nach und nach durch innere Standards reguliert wird. Dies geschieht über die Internalisierung der vorgegebenen Standards. Obwohl die Theorien in verschiedenster Hinsicht ähnliche Aussagen machen, legen sie andere Schwerpunkte. Die Psychoanalyse beispielsweise betont die emotionale Seite der Gewissensentwicklung, die soziale Lerntheorie betont das moralische Verhalten und wie es durch Verstärkung und Modellbeobachtung gelernt wird, und die kognitive Entwicklungstheorie das Denken. Diese kognitive Sichtweise mit den beiden Vertretern Piaget und Kohlberg hat die Forschung zur Moralentwicklung entscheidend geprägt. Gemäß Piagets Entwicklungstheorie (1976) verläuft die Entwicklung des moralischen Urteils beim Vorschulkind wie folgt: Aus einem amoralischen Stadium kommt es in ein Stadium des Respekts gegenüber unverletzlich scheinenden Regeln. Wer sich im Einklang mit diesen Regeln verhält, ist «lieb», wer nicht, ist «böse». Sein kindlicher Realismus bewirkt jedoch, dass es solche Regeln |61◄ ►62| allerdings wie andere Dinge betrachtet und unfähig ist, zwischen subjektiven und objektiven Aspekten der Umwelt bzw. seiner Erfahrung mit ihr zu unterscheiden (Egozentrismus). Während das Vorschulkind von einer autoritätsbestimmten (heteronomen) Moral geleitet wird, entwickelt sich gegen Ende des Grundschulalters eine selbstbestimmte (autonome) Moral, die unabhängig von den erwachsenen Bezugspersonen wirksam ist.
Aufbauend auf Piagets Modell, entwickelte Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens (Kohlberg & Turiel, 1978). Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu. Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, dass es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt. Das moralische Urteil entwickelt sich dementsprechend über drei Niveaus. Jedes dieser Niveaus enthält Stufen: (1) das präkonventionelle Niveau, (2) das konventionelle Niveau und (3) das postkonventionelle Niveau. Das erste Niveau ist dadurch gekennzeichnet, dass das junge Kind Moralität als von Belohnung, Bestrafung und Autorität kontrolliert versteht. Das zweite Niveau betrachtet die Konformität als Notwendigkeit, um positive menschliche Beziehungen und eine gewisse soziale Ordnung garantieren zu können. Im postkonventionellen Niveau entwickelt das Individuum abstrakte, universelle Gerechtigkeitsprinzipien.
Vorschulkinder, die wegen ihres aggressiven Umgangs mit anderen Kindern nicht besonders beliebt sind, übertreten moralische Regeln häufig. Dass Kinder von Zeit zu Zeit Aggressionen zeigen, ist jedoch normal. Allerdings gibt es junge Kinder – insbesondere impulsive oder überaktive –, die gefährdet sind, langfristige Verhaltensprobleme zu entwickeln. Diese negative Entwicklung ist jedoch abhängig vom Erziehungsstil der Eltern und dem Aufwachskontext des Kindes. Im Vorschulalter sind zwei Formen von Aggression zu unterscheiden:
• die häufig auftretende instrumentelle Aggression: Zu ihr gehören Schubsen, Anschreien oder Wegdrängen, wenn es um die Eroberung eines bestimmten Objekts oder eines Platzes geht.
• die feindselige Aggression: Bei ihr geht es darum, jemanden anderen zu verletzen. Sie kann sich auf zwei Arten äußern: als offene, direkte Aggression, die auf die Zufügung körperlicher Verletzungen ausgerichtet ist, und als relationale Aggression, welche auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen ausgerichtet ist. Erstere Form ist eher bei Jungen, letztere bei Mädchen zu beobachten. Da relationale Aggressionen|62◄ ►63| meist verdeckt sind, werden Mädchen häufig als weniger aggressiv wahrgenommen.
Was jedoch fördert Aggression? Zuerst einmal ineffektive Disziplinierungsmaßnahmen der Eltern, dann aber auch konfliktreiche Familienverhältnisse und Gewalt im Fernsehen. Kleinkinder verstehen Gewalt im Fernsehen nur rudimentär. Dies führt zu Nachahmungen und zur unkritischen Annahme des Gesehenen. Es gibt jedoch verschiedene Maßnahmen, aggressives Verhalten zu reduzieren: (a) effektive Erziehungsmaßnahmen der Eltern respektive der Erziehungsberechtigten, (b) kindliche Trainingsprogramme, welche das Ziel haben, soziale Problemlösestrategien einzuüben, (c) Verminderung der Feindseligkeit innerhalb der Familie, (d) Abschirmen der Kinder vor gewaltgeladenen Sendungen im Fernsehen.
3.3 Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken
Die Entwicklung junger Kinder geht einher mit einer ausgeprägten Beeinflussbarkeit und Verwundbarkeit (Vulnerabilität). Aus diesen Gründen hat die Forschung schon vor vielen Jahren von einer besonderen Gefährdung der frühen Kindheit gesprochen und Risikofaktoren definiert, welche die kindliche Entwicklung beeinträchtigen. Solche Risikofaktoren bilden sich im Rahmen der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen heraus. Ahnert (2006) macht jedoch darauf aufmerksam, dass es auch Wechselwirkungen gibt und junge Kinder aktiv in ihre eigenen Lebenskontexte einwirken und damit die Wirkung von Risikofaktoren reduzieren oder verhindern können. Not tut deshalb anstatt einer defizitorientierten, auf die kindlichen Gefährdungen eingeschränkten Sichtweise eine ganzheitliche Sicht auf die Frühsozialisation des Kindes und auf die sich daraus ergebenden Chancen.
Heute wird unter Entwicklung die kontinuierliche Wechselwirkung von umweltbezogenen und genetischen Faktoren verstanden. Beide wirken wechselseitig und verändernd aufeinander ein. Dies geschieht in einem langen, störanfälligen Sozialisationsprozess. Frühe Erfahrungen beeinflussen dabei die weiteren Entwicklungsbedingungen. Diese sind bereits vorangehend anhand des Modells der Kind-Umwelt-Passung beschrieben worden. Von Passung spricht man dann, wenn die Kontextbedingungen den vorhandenen Fähigkeiten, Temperaments- und Verhaltensmerkmalen des Kindes derart entsprechen, dass sie weiter entfaltet und wiederum von der Umwelt stimuliert werden können. Wie entstehen jedoch Fehlentwicklungen? Aus der Sicht dieses Kind-Umwelt-Passungsmodells dann, wenn Fähigkeiten stimuliert werden sollen, für die es keine Grundlage gibt, oder wenn die Umwelt nicht angemessen auf Fähigkeiten oder andere Merkmale reagiert.
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Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion steht das Zusammenspiel von vulnerablen und protektiven Faktoren und damit das Stichwort «Resilienz». Resilienz wird definiert als psychologische Widerstandsfähigkeit, trotz biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken internale und externale Ressourcen erfolgreich zu nutzen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Mit dem Konzept der Resilienz verwandt sind Konzepte wie Salutogenese und Coping. Unter Vulnerabilität werden Eigenschaften verstanden, die zu verfehlten Anpassungsleistungen prädisponieren. Sie können sowohl genetisch als auch umweltbedingt sein. Bestimmte Sozialisationsbedingungen können zur Verstärkung oder Milderung von Vulnerabilität beitragen. Gleiches gilt für bestimmte Lebensphasen (z.B. sensible Phasen). Auch wenn Vulnerabilität vorwiegend genetisch bedingt sein sollte, kann sie durch bestimmte Sozialisationseinflüsse oder Lebensphasen verändert werden. Ferner geht die Resilienzforschung davon aus, dass trotz vorhandener Vulnerabilität störende Einflüsse dann minimierbar sind, wenn protektive Faktoren wirksam werden können oder auf sie zurückgegriffen werden kann. Umgekehrt wird jedoch auch angenommen, dass sich im Falle nur vereinzelt zur Verfügung stehender Schutzfaktoren Störungen entwickeln und Fehlentwicklungen kaum vermieden oder zurückgehalten werden können.
Welches sind entwicklungsförderliche Beziehungskontexte? Sowohl Resilienzals auch Vulnerabilitätsfaktoren können nur über Beziehungskontexte des Kindes wirksam werden. Die kindliche Beziehungsfähigkeit steht somit im Zentrum der Entwicklung und der Pädagogik der frühen Kindheit. Betreuungspersonen und Vorschullehrkräfte müssen wissen respektive lernen, wie ein entwicklungsfördernder Beziehungskontext aufgebaut werden kann und wie kindliche Signale und Verhaltensabsichten sensitiv beantwortet und interpretiert werden können. Papoušek, Schieche und Wurmser (2004) sprechen dabei von sensitiven Betreuungsmustern und von emotional positiven Zuwendungsformen, denen eine ausgeprägte Sicherheits- und Schutzfunktion zukommt. Für die FBBE-Thematik und die Frage nach Chancengleichheit besonders wesentlich ist, dass entwicklungsfördernde frühe Beziehungskontexte auch im späteren Leben beibehalten oder gestärkt werden können. Folglich braucht es Erziehungsprinzipien, welche auf die kindliche Kompetenz- und Bedürfnisentwicklung ausgerichtet sind und als Leitplanke dienen. Auf diese Weise kann das Kind handlungskompetent und gestaltungsfähig werden. Neben der Bindungssicherheit und der liebevollen Zuwendung gehören vier Erziehungsprinzipien dazu:
• die Beachtung der kindlichen Individualität und des zunehmenden Autonomiestrebens,
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• die Orientierung an verbindlichen Verhaltenserwartungen,
• vielfältig und herausfordernde Förder- und Anregungsmöglichkeiten,
• die partizipative Einbindung in eine gemeinsame Lebensgestaltung.
3.4 Zusammenfassende Bilanz
Die bildende, integrierende, betreuende und erziehende Umwelt kann Entwicklungsmuster bereits in den frühen Lebensjahren bedeutsam verändern. Diese soziale Tatsache lässt vermuten, dass eine angemessene vorschulische Förderung enorme Wirkungen auf die kindliche Entwicklung erzielen kann. Dazu liegen heute vielfältige Forschungsergebnisse vor. Sie belegen jedoch, dass solche Wirkungen nur dann positiv sein können, wenn vorschulische Förderung gleichermaßen auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung ausgerichtet ist. Entsprechend wurde in diesem Kapitel die Bedeutung der Beziehung junger Kinder zu Erwachsenen diskutiert und darauf verwiesen, dass emotional sichere Beziehungen in frühkindlichen Bildungs-und Betreuungssettings zentral sind, aber auch prädiktiv für die späteren sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen, für die Manifestation von Verhaltensproblemen und für Schulleistungen.
Die Hauptbotschaft in diesem Kapitel war die, dass Entwicklung nicht einfach nur eine Entfaltung angeborener Fähigkeiten ist, sondern nach sozialem Kontext variiert. Piaget hat den Einfluss der Kultur, in der ein Kind lebt, auf die kognitive Entwicklung noch weitgehend vernachlässigt. Erst seine Kritiker, insbesondere auch Wygotski, haben erkannt, dass Entwicklungsveränderungen aus einer sozial-kulturellen Perspektive betrachtet und erklärt werden müssen. Die kognitive, soziale und emotionale kindliche Entwicklung ist somit eine Angelegenheit, in der die Natur – was das Kind auf die Welt mitbringt – und die Förderung – die Beziehungen und andere Aspekte des kindlichen Kontexts – interagieren.
Insgesamt liefern sowohl die Hirnforschung als auch die neue kognitive Entwicklungspsychologie viele Argumente, welche die Forderungen nach der Implementation von FBBE-Konzepten unterstützen. Beide Forschungsrichtungen haben nachweisen können, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als beispielsweise Piaget angenommen hatte, und dass ihre Lernfähigkeiten bereits in den ersten Lebensmonaten bemerkenswert sind. Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass junge Kinder bereits über kognitive Strukturen verfügen, welche Wissen aufzubauen in der Lage sind. Auch im Hinblick auf die viel diskutierte Frage, ob es bestimmte Phasen oder Zeitfenster gibt, in denen ein junges Kind von FBBE-Angeboten|65◄ ►66| besonders profitiert, liefert die Forschung einige Hinweise. Die Wirksamkeit kompensatorischer Programme ist mehrfach belegt, jedoch nur, wenn die Angebote auch während der folgenden Lebensjahre aufrechterhalten und die Familien umfassend einbezogen werden. Darauf wird in Kapitel 9 eingegangen.
Anlage und Umwelt sind für jedes Kind einmalig. Deshalb lassen sich zwischen Kindern auch bemerkenswerte Variationen bereits im frühen Alter beobachten. Weil darüber hinaus die Responsivität der Umgebung gegenüber dem Entwicklungsstand des Kindes und seinen Charakteristika der Schlüssel zur Förderung der weiteren Entwicklung ist, fokussiert das nächste Kapitel auf einige Variationen zwischen Vorschulkindern im sprachlichen und mathematischen, im körperlich-emotionalen und im kulturellen Bereich. Auf solche Disparitäten sollte das pädagogische Fachpersonal angemessen reagieren.
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