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Mein Vorsatz, das ganze Drama samt seiner tieferen Ursachen und Zusammenhänge nicht zu nahe heranzulassen, erwies sich als Illusion.
Und so wie mir, ging’s vermutlich auch vielen anderen, selbst wenn dabei die Formen von Empathie unterschiedlich gewesen sein mögen.
Während beispielsweise manche die auf Bahnhöfen ankommenden Flüchtlinge beklatschten, als ob alles eine Zirkusnummer oder Zieleinlauf eines Marathons sei, fragte auch ich mich, ob das noch mit Offenheit und ehrlicher Willkommenskultur zu tun hatte. Oder ob es nur Mainstream-Klamauk Nichtbeteiligter war und eher ein Fall für Sozialpsychologen. Ich stellte mir jene vor, die gerade mal von ihrer Kärrnerarbeit bei der Flüchtlingsversorgung aufschauten, sich den Schweiß von der Stirn wischten, … vielleicht mal kurz mit dem Kopf schüttelten, um sodann nachdenklich mit ihrer Tätigkeit fortzufahren. Und bei den Kanzlerin-Selfies ging’s mir nicht anders, wo im Smartphone-Zeitalter auch den Letzten, vielleicht noch Zögernden, klargeworden war, wohin die Reise nun zu gehen hatte.
Nicht verwunderlich, dass viele bei dem „doppelten Rittberger“, den die Politik vollführte, nachdenklich und reservierter wurden, meilenweit davon entfernt, Fremdenfeindliche zu sein.
Gewiss, konnte man sich auch einfach dem Mainstream anvertrauen, was durchaus praktisch und zudem dem Nachtschlaf dienlich wäre. Und außerdem gehörte man damit zu den „Guten“, da musste nicht mehr groß nachgedacht werden. Bloß aufpassen muss man dabei trotzdem, der Mainstream ist ein wendiger Geselle. Denn falls neben den genannten Beklemmungen sich bereits andere Emotionen wie Wut, Enttäuschung oder Ohnmacht angestaut hatten – an guten Gründen dafür herrscht kein Mangel – dann zeigte sich der Mainstream eher wie ein breitgefächertes Flussdelta in dem man Mühe hatte, den Hauptstrom zu erkennen, um sich nicht zu verfahren. Was wurde da gerade jetzt nicht alles pro und contra gesagt und geschrieben, oft auch gepöbelt und geschrien?
Die einen wollen das Abendland retten und schreien laut „Das Boot ist voll“, „Merkel muss weg“ und „Lügenpresse“. Andere meinen gelassen „Das schaffen wir“, plakatieren mit „Refugees welcome“ oder belegen die zuvor Gemeinten einfach mit „Das Pack“ ohne solches präziser zu adressieren. Wieder andere nehmen nach dem Motto „die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ Anleihen bei Märchen auf und glauben, mit der Einteilung in Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge den Stein der Weisen gefunden zu haben. Noch ganz andere, giftige Töne waren da plötzlich zu hören, die nichts mit angeblicher Islamisierung und Flüchtlingen zu tun hatten. Wie passt dieser merkwürdige Mix zusammen? Kam da im großen Kessel der Emotionen nicht manches durcheinander? Fand sich da zusammen, was überhaupt nicht zusammengehörte? Liefen da viele, gewöhnlich als besonnen Geltende, nicht den falschen Lautsprechern nach? Und so nahm ich mir vor, fortan genauer hinzuhören und höllisch aufzupassen, um nicht vom schlecht markierten Weg abzukommen.
Fehlten in diesem Durcheinander nicht geeignete „Ranger“? Solche, die nicht nur den Weg vorgaben, sondern offen, mutig und mit Vertrauen auf die Klugheit der Wanderer, diese gezielt an Klippen heranführten und erklärten, wie sie zu überwinden seien.
Oder jenseits der Metapher: Sollte Politik nicht mit mehr Offenheit, Mut zur Wahrheit und Vertrauen in ihr Volk aufmerksamer als bisher auf dessen Maul schauen?
Nein, nein, diese deftige Ausdrucksweise ist mir nicht nur so rausgerutscht. Denn so hatte schon mal einer formuliert und mit dieser Haltung die Welt verändert. Gut, es ist rund 500 Jahre her und es war nicht irgendeiner, doch hatte der damals vortrefflich verstanden, wie man eine Botschaft so unters Volk bringt, dass sie dort auch ankommt, verstanden und deshalb angenommen wird. Und gewiss hatte diesen Luther damals mehr bewegt als nur Kirchentüren mit Nägeln und Wände mit Tintenfässern zu verunzieren, musste deshalb gar fliehen und sich verkleiden. Denn außer der mühseligen Übersetzungsarbeit gehörte zu seiner Vision nicht nur Wunsch und Absicht, sondern auch Mut, Charakter und eben die Gabe und Bereitschaft, dem Volk aufs Maul zu schauen. Andernfalls würde heute niemand mehr über seine Übersetzungen reden.
Sollte das nicht noch mal ähnlich möglich sein? Heute, wo im Internetzeitalter viele einfache Leute oft schon weiter als Politik und medialer Mainstream sind. Die Leute hatten doch schon Flagge gezeigt, als sich Politik vor Krawallmachern europaweit noch wegduckte, mit linker Hand das rechte Auge zuhielt und besonders die starken Länder sich noch in der bequemen Hängematte des unsinnigen Dublin-Abkommens geräkelt hatten. Die Mehrheit der Europäer hätte doch schon vor Jahren verstanden, dass man die laut nach Hilfe rufenden, schwächeren europäischen Südländer und die Kriegsnachbarländer mit den Flüchtlingsströmen nicht alleine lassen kann – und auch, dass das Geld kostet. Die hatten zuvor doch ganz andere Kröten geschluckt. Vor solch aufgeklärtem Volk hätte Politik doch nicht jahrelang duckmäusern müssen und dazu obendrein den Eindruck erwecken, den Problemen ohnehin nur noch hinterher zu hecheln.
Wo hätte denn die Minderheit der ganz offen Rechten, Braunen, notorisch Fremdenfeindlichen und Freunde dumpfer Sprüche fischen können, wenn der Teich mit klarem Wasser statt mit trüber Brühe gefüllt wäre? Stattdessen wird Ungewünschtes weggebügelt, verdrängt, vernebelt oder totgeschwiegen. Und zur Ruhigstellung scheinbar Aufmüpfiger werden Etiketten verteilt. Antidemokrat, Antieuropäer, Antiamerikaner, Putinversteher oder eben Rechtspopulist und Fremdenfeindlicher und ähnliches ist da im Angebot. Früher, in der Diktatur, stellte man Aufmüpfige einfach mit dem Begriff „Klassengegner“ in eine Schmuddelecke, während heute als Allzweckwaffe gern auch die Menschenrechts- und Wertekeule schnell zur Hand ist.
Allerdings hat Weggebügeltes oder Totgeschwiegenes die Eigenschaft meist unterschwellig in den Köpfen weiter zu schwelen. Und irgendwann, nicht immer passen Ort und Zeit, will’s schließlich dort mal raus.
OK, trotzdem scheint ja nun auch „oben“ angekommen, was schon längst dorthin gehörte. An Stelle eines gebetsmühlenartigen Mantras ist heftige Geschäftigkeit getreten. Und so scheint mir’s geboten, nun im Tun unserer Oberen nicht nach Haaren in der Suppe zu suchen, die man gewiss büschelweise und mühelos fände. Obwohl es im Moment noch alles mehr wie eine Feuerwehraktion anmutet, wo der Dauerton der Sirene erst lange überhört wurde, nun jedoch, nachdem der Dachstuhl lichterloh brennt, die Feuerwehr zwar ausgerückt, in der Hektik ihr aber die Befehlsstruktur abhandengekommen ist.
Obendrein scheint’s, als balanciere das Jahrhundertprojekt Europa, was so hoffnungsvoll begonnen hatte, am Abgrund. Bis auf Ausnahmen ducken sich die meisten Länder ab und schauen zu, ob und wie besonders Deutschland aus der Nummer wieder rauskommt. Und die Hoffnung, dass das gelingen möge, ist recht vage und erschöpft sich im Moment in der Floskel, wonach eine Krise immer auch eine Chance ist.
Scheint’s da nicht geboten, mehr „auf des klugen Volkes Maul zu schauen“?
Womit wir wieder bei Luther wären. Mit dem Unterschied: Bei dem wissen wir, wie’s ausgegangen ist, bei uns wird’s erst die Zukunft zeigen. Eine Zukunftsaufgabe, für die es wohl gleich mehrerer „Luthers“ bedürfte.
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Aus aktuellem Anlass noch mal Luther:
Eine kurze Zeitreise der besonderen Art – Herbst 2017
Martin Luther – Superstar
Ein atheistischer Einwurf zum Lutherjahr
„Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt“, (auch in der Version: „…in den Himmel springt“ bekannt) hatte mal einer vor über fünf Jahrhunderten in aller Kürze das zusammengefasst, was damals, um Geld in klamme Kassen zu spülen, völlig normal war. Was nicht heißt, dass dabei allen ehrlich Gläubigen angesichts solcher Heuchelei wohl gewesen sei. Doch kam es ja schließlich von „oben“ und so wird es wohl deshalb auch nicht so ganz falsch sein, mögen viele der damals nur ungenügend gebildeten Normalbürger gedacht haben. Für die einen war’s ein Leichtes von ihrem Reichtum etwas Kleingeld abzugeben, viele andere mussten, aus höllischem Respekt vor möglichen Qualen im Fegefeuer, ihre letzten Thaler zusammenkratzen oder diese vom Munde absparen. Und lange Zeit blieb solche – Abzocke würden wir heute dazu sagen – unter dem Teppich verbannt. Und wer doch aufmuckte, wie seinerzeit dieser Jan Hus aus dem Böhmischen, damals noch als Einzelkämpfer, der endete leicht auf dem Scheiterhaufen.
Wobei es eigentlich mit solcher Art von Heuchelei schon viel früher losgegangen war, nämlich als die Kirche die Beichte erfand und damit die Menschen erfolgreich sowohl zu erleichtern als auch zu disziplinieren imstande war. Eine recht praktische Sache: Man beging locker irgendein krummes Ding, was landläufig unter Sünde einzuordnen war, beichtete danach … und fertig war die Laube. Und später, wie erwähnt, wurde dieses System durch einen gewissen Tetzel noch dahingehend „modernisiert“, indem man für Dinge, die nicht ganz koscher waren, einfach etwas zahlte und man dadurch sogar noch weitgehend anonym bleiben konnte, wo man zuvor alles seinem Beichtvater hatte anvertrauen müssen.
Einem jedoch, dem platzte irgendwann der Kragen ob solcher Praktiken. Dessen Credo lautete kurz und bündig: „Dem Volk aufs Maul schauen“. Mit solcher Art von Kommunikation, mit dem Blick auf „kleine“ Leute und deren Befindlichkeit war dieser Luther seiner Zeit weit voraus. Hatte er doch damit die feinen Schwingungen des Unmuts vieler seiner meist ungebildeten Landsleute erfasst und versucht, diese nicht nur ungeschönt beim Namen zu nennen, sondern alles auch in für jedermann verständliche Worte zu fassen. Und legte sich dabei sogar mit dem Papst an, der ihn deswegen mit dem Bann belegte, so dass dieser Luther fortan sein Werk unter falschem Namen betreiben musste. Das Ergebnis, inzwischen durch den Buchdruck auch über einsame Klosterzellen hinaus vernehmbar, war gewaltig. Sonst hätte vielleicht schon Jan Hus die Lawine losgetreten? Was wir heute Reformation nennen, war in Wirklichkeit nicht nur eine Revolution des religiösen Denkens, deren Wirkung bis heute anhält, sondern auch ein Siegeszug einer neuen Form von Kommunikation zwischen den wenigen oben und den vielen unten. Gleichwohl inzwischen auch manch Zweifelhaftes von ihm bekannt wurde.
Dennoch war dieser Luther damals wohl auch eine Art Vorläufer und Wegbereiter dessen, was sich zweihundert Jahre später in breitem Strom und weit über religiöses Denken hinaus für das Zusammenleben der Menschen in Europa Bahn brach und eine neue Epoche einleitete. Einer aus Königsberg hatte damals sogar gemeint „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, Mehr noch, meinte dieser Kant, „man solle doch sich der selbstverschuldeten Unmündigkeit entledigen und endlich mündiger Bürger werden.“ Unerhört war das. Und durch die erwähnten technischen Erfindungen, verbreiteten sich die neuen Ideen rasant bis in die kleinste Hütte. Obwohl das die Oberen, die gern alles so belassen hätten wie es war, nicht gerade erfreut hatte, begriffen sie doch die Wucht des neuen Denkens und dass sie solche „Querulanten“ wie diesen Kant und dessen vielen Anhänger nicht einfach mundtot machen konnten. Und so arrangierten sie sich damit so gut es eben ging und so gut es ihre Machtpositionen nicht allzu sehr einengte. Im Gegenteil, sie nutzten solch neues Denken, um diese auszubauen. Und jeder der auf sich hielt und als gebildet gelten wollte, der machte sich die neuen Ideen zu eigen, egal ob er sie wirklich verstand, willens war nach ihnen zu leben oder sie nur nachbetete, weil es Mode geworden war.
Viele der jahrhundertelangen Dogmen ließen sich nun nicht mehr halten – und neue mussten deshalb her. Je nachdem, von wem die neuen Wahrheiten formuliert, für wen sie gedacht waren und wer damit geködert werden sollte. Für jene vielen, die solch neues Denken nicht gewohnt waren, musste alles in höchst einfache Worte, Begriffe und Sätze gekleidet werden. Das hatte man schließlich vom alten Luther gelernt. Gelernt hatte man auch etwas, woran der Luther seinerzeit noch fast gescheitert war: Denn praktizierten derartig populäre Kommunikation jene, die dafür das Siegel der Zuständigkeit für sich beanspruchten, also die Oberen, da war alles korrekt und in Butter. Eben alternativlos, wie man das später gerne nannte. Gehörte jedoch jemand nicht zu dieser erlauchten Gilde, fühlte sich dennoch bemüßigt, selbst über die Gesellschaft und deren Gebrechen nachzudenken, da fand man für solch „Unbefugte“ einfach ein neues Schimpfwort, das in der Bedeutung gleich nach Kinderschänder kommt. Und jeder, der solch Etikett umgehangen bekam, egal ob zu Recht oder Unrecht, fiel nun automatisch ewiger Verdammnis, ähnlich einer öffentlichen Steinigung anheim. Obwohl es sich dabei nur um die schon immer praktizierte Methode des „Populismus“ gehandelt hatte. Jene Standardmethode, der sich alle, die irgendetwas erreichen wollten, seit alten Zeiten recht hemmungslos bedienten. Denn anders, als ihm zunächst aufs Maul zu schauen und dann auch etwas verständlich nach Selbigem zu reden, kommt man ihm schlecht bei, dem Volk.
Nur dass es jetzt zwei Arten von diesem Populismus gab, den „guten“ für die Oberen, der aufs Volk zwar meist beruhigend, manche meinen gar einschläfernd wirkt. Andere werden beim Herumgeschwurbel manch Oberer eher an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erinnert. Beim „bösen“ Populismus hingegen wird das Volk, des alternativlosen Einerleis oft überdrüssig, eher munter. Weshalb man sich allerdings hierbei besonders vorsehen muss, um nicht auf etwas reinzufallen, was zwar süß und billig scheint, jedoch klebrig wie Pech ist. Womit die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ inzwischen die ganz hohe Schule ist und wer die nicht beherrscht, schnell in der Schmuddelecke landet.
Andererseits – um wieder auf Luther zu kommen – wenn man’s recht bedenkt, hatte sich denn seit Luthers Zeiten beim Populismus wirklich Grundsätzliches geändert?
Denn wenn beispielsweise heute einer sich anmaßte, viele Millionen und Milliarden an Spenden und Entwicklungshilfen mit Tetzels mittelalterlichen Ablasshandel in Verbindung zu bringen, der müsste sich wohl recht warm anziehen, um nicht wirklich auf einem zumindest moralischen „Scheiterhaufen“ zu enden.