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Während Gerlinde dem Ermittler den Schlüssel reichte, kam ein uniformierter Beamter hinzu, der bisher dafür Sorge getragen hatte, dass die Gesellschaft auf dem Flur blieb und nicht in das Mordzimmer drängen konnte. «Jürgen Brummler», stellte er sich knapp vor und bezog sofort steif seinen Platz direkt neben der Tür.
«Sie soll einfach so da liegen bleiben? Die ganze Nacht?», empörten sich einzelne weibliche Stimmen.
«Unser Arzt wird sie zu gegebener Zeit zur Leichenschau abholen», verkündete Ganter ruppig und scherte sich diesmal nicht um das protestierende Stöhnen.
«Gerlinde wird Sie ins Speisezimmer führen. Dort sind Sie bei Ihren Gesprächen ungestört», erklärte von Weitershausen und gab dem Hausmädchen ein Zeichen. «Ich denke, der Tisch ist bereits abgeräumt, und andere Spuren unseres Festes muss ich Sie bitten zu übersehen. Es war ein glücklicherer Ausgang geplant», sagte der Gastgeber bitter. «Versammeln Sie sich doch bitte alle in der Bibliothek. Auf diesen Schock brauchen wir eine kräftige Stärkung», forderte er dann lauter, machte eine raumgreifende Armbewegung, und artig setzte sich die Gästeschar in Bewegung. Eine mitleidige Seele klaubte den Sohn des Lyrikers von den Stufen und trug ihn davon.
«Herr von Weitershausen, ich würde die Gespräche gern mit Ihnen beginnen», erklärte Ganter, der gleichzeitig versuchte zu ignorieren, dass ihm schon bei diesen Worten der Schweiß ausbrach. Wie sollte das erst während der Befragung werden?
«Gut.» Von Weitershausen gab sich entschieden aufklärungsbereit. «Wenn Sie nur erlauben, dass ich zuvor die Gäste mit dem Notwendigsten versorgen lasse, stehe ich Ihnen sofort zur Verfügung.»
Ganter nickte nur. Was blieb ihm anderes übrig?
«Seit wann lebte Mireille Loliot in Ihrem Haushalt?»
«Seit mehr als einem Jahr. Mein guter Freund, Jean Loliot, reiste in wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten ins Ausland. Seine Firma produziert leistungsstarke Motoren und Antriebssysteme. Er ließ seine Tochter in unseren Händen zurück.» Der Hausherr barg für einen Augenblick sein Gesicht in den auffallend großen Händen, schluchzte trocken auf und atmete mehrfach tief durch. In einer Geste der Verzweiflung strich er sich die schweißfeuchten Haare aus der Stirn, dann sah er Ganter mit sengendem Blick an. «Ich weiß gar nicht, wie ich ihm je wieder unter die Augen treten kann – nachdem ich auf so entsetzliche Weise versagt habe.»
«Warum nahm er seine Tochter nicht mit auf die Reise?», hakte Ganter nach, ohne auf die Äußerung von Weitershausens zu reagieren.
«Mit Mireilles Gesundheit stand es nach dem Tod ihrer Mutter nicht zum Besten. Das Mädchen war schwach, ihre Konstitution angegriffen. Der Hausarzt der Familie riet Jean dringend davon ab, ihr die Strapazen einer solch abenteuerlichen Reise zuzumuten.» Er schluchzte erneut. «Doch nun sieht es so aus, als wäre es allemal besser für das Mädchen gewesen, ihren Vater zu begleiten!»
«Was kann Fräulein Loliot im Gästezimmer gewollt haben? Fühlte sie sich vielleicht nicht wohl?»
«Doch. Mireille genoss solche Empfänge immer von ganzem Herzen. Sie liebte es, Menschen zu treffen, war bester Laune. Sie war sehr gebildet, für ihr Alter verblüffend belesen und auch noch ausgesprochen attraktiv. Ihre Anmut, ihr Liebreiz verzauberten die Gäste. O Gott!» Jetzt konnte der Hausherr die Tränen nicht länger zurückhalten.
Fritz Ganter schwieg, während sein Gegenüber um Fassung rang. Nicht aus gesprächstaktischen Gründen, sondern weil er schlicht nicht wusste, wie er auf diesen emotionalen Ausbruch reagieren sollte. Seinem täglichen Umgang entsprach mehr der rauhe Handwerker, der einfache Mann von der Straße oder der arbeitslose und entwurzelte Kriegsheimkehrer, der verwirrt nach einem neuen Einstieg ins Leben suchte. Ratlos strich Ganter sich übers Kinn, knetete es, streichelte die Stoppeln gegen den Strich. «Mireille Loliot muss die Gesellschaft nach dem Dessert und vor der Ankunft in der Bibliothek verlassen haben. Hat sie jemand aus dem Raum begleitet?»
Heimar von Weitershausen putzte sich die Nase, straffte den Rücken und warf Ganter einen vernichtenden Blick zu. «Dies ist ein offenes Haus! Wir saßen in entspannter Runde beim Essen, erwarteten die Gäste, die danach zu einer kleinen Feier dazustoßen sollten. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich jeden meiner Gäste ständig im Auge behalte! Wenn Mireille von jemandem begleitet werden wollte, um sich zum Beispiel im Garten die Füße zu vertreten, wäre das allein ihre Entscheidung gewesen! Ich unterstelle doch niemandem unlauteres Benehmen!» Empörung sprach aus seiner Haltung, Wut aus den Augen, die nur Sekunden zuvor in Tränen zu schwimmen schienen.
«Sie missverstehen mich. Mich interessiert, ob ihr jemand folgte. Ungebeten.»
Darüber dachte Heimar von Weitershausen lange nach. Dann formulierte er sorgfältig und mit Bedacht: «Retrospektiv glaube ich mich daran erinnern zu können, dass ich Xaver Koch, den Sohn des Lyrikers Franz Koch, auch habe aus dem Raum gehen sehen. Zumindest stieß er erst mit Verspätung zu uns im Rauchsalon.»
Der junge Mann wirkte auf Ganter, als habe er einmal beobachtet, wie ein wahrhaft Trauernder sich gebärdet, und spiele diese Szene jetzt theatralisch nach. Bühnenreif, schoss es dem Ermittler durch den Kopf, durchaus vorzeigbar. Doch Misstrauen hatte sich im Herzen des Beamten breitgemacht. «Sie sprachen von Ihrer großen Liebe zu Fräulein Loliot.»
«Ja, es ist wahr!» Zum wiederholten Mal fuhr seine Hand über die Stirn, als prüfe er, ob er Fieber habe. Eine Geste ohne Kraft. Mutlos. Leblos.
«Sie hatten dem Fräulein Ihre Gefühle bereits gestanden?», bohrte Ganter weiter.
«Nein.» Die Antwort war nur ein Hauch.
Normalerweise hätte Ganter seinen Zeugen jetzt heftig angefahren, ihn ordentlich angeblafft – aber das war angesichts dieser Gesellschaft wohl nicht angebracht. Diplomatie war eher vonnöten, zumal er nicht wusste, wie dieser seltsame junge Mann auf einen harten Anwurf reagieren würde. Er nahm einen geschmeidigen Anlauf: «Sehen Sie, Herr Koch, es würde meine Arbeit tatsächlich sehr erleichtern, wenn Ihre Antworten weniger einsilbig ausfielen. Mit Ein-Wort-Sätzen ist mir nicht geholfen. Sie sollten also mit Informationen nicht so sparsam umgehen.»
Xaver Koch sah ihn verwirrt an. Dann bettete er seinen Kopf auf den Unterarmen und schluchzte dem Tisch zu: «Ich habe sie so geliebt, so unendlich geliebt!»
Ob Pose oder echtes Gefühl – es war das Letzte, was Ganter noch zu hören bekam. Er schickte ihn hinaus.
In der Tür wandte Koch sich noch einmal um und fixierte den Beamten mit einem Blick, in dem ein bedrohliches Maß von Irrsinn flackerte. «Fragen Sie den Hausdiener!», kreischte er schrill. «Der darf immerhin jederzeit in jeden Raum. Und das Messer! Fragen Sie ihn nach dem Messer!» Dann rauschte er davon.
Konrad Benno Katzmann lag in seinem Bett, starrte die Decke an und fühlte sich unendlich alt.
Aus dem Nebenzimmer drangen leise Geräusche zu ihm herüber. Frieda, die der Kleinen ein Schlaflied vorsang, das von süßen Träumen erzählte und eine ruhige Nacht prophezeite. Bauchschmerzen, hatte seine Frau gesagt, das wäre in diesem Alter durchaus nicht ungewöhnlich. Helga würde sie einfach wegschlafen, und am nächsten Morgen sei alles vergessen.
Konrad schloss die Augen. Finanziell hatte sich die Krise bei ihm nicht allzu schmerzhaft ausgewirkt, überlegte er zufrieden. Auch Frieda wusste, dass es ihnen viel besser ging als den meisten ihrer Bekannten und Freundinnen. Er hatte bemerkt, dass sie nicht mehr ausging und die anderen auch nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Offensichtlich war ihr der relative Wohlstand peinlich. Konrad gegenüber allerdings behauptete sie, ihr Rückzug läge an seiner chronisch schlechten Laune, er verbreite eine negative Stimmung und ihre Freundinnen fühlten sich in seiner Gegenwart gehemmt. Sicher, er war nun viel mehr zu Hause als früher. Recherchieren für spannende Artikel – das war Schnee von vorgestern. Nachdem die Leipziger Volkszeitung ihm als Chefreporter gekündigt hatte und er sich ein neues Aufgabenfeld hatte suchen müssen, blieb ihm nun mehr Zeit für seine kleine Familie.
Seine Finger tasteten nach Harrys weichem Fell. «Na, wir beide! Durch dick und dünn sind wir zusammen gegangen, ich verdanke dir sogar mein Leben. So etwas schweißt zusammen. Und dich stört es auch nicht, wenn ich zu Hause bin.»
Harry war in die Jahre gekommen. Unbestreitbar. Seine Schnauze war grau, er ging nicht mehr so gern spazieren wie früher und brauchte morgens eine Weile, bis er den Körper in Schwung gebracht hatte.
Konrad lächelte nachsichtig. In ein paar Jahren würde es ihm selbst auch so ergehen. «Weißt du was, Harry? Ich glaube, ich langweile mich. Gut, die LVZ musste uns entlassen, ist ja auch nicht so, dass ich nun gar keine Reportagen mehr schreibe und verkaufe, aber so aufregend wie früher ist unser Leben nicht mehr. Mir fehlt ein bisschen Abenteuer. Geht es dir nicht auch so?» Harry grunzte wohlig unter den kraulenden Händen. Konrad wertete das als Zustimmung. «Na siehst du! Dachte ich mir schon. Dieser Reisebildband war einen Versuch wert, verkauft sich ja auch ganz gut. Der Heinz freut sich auch schon auf den zweiten Band. Nach Leipzig nun eben Dresden.» Harry rollte sich träge auf den Rücken, damit Konrad sich dem Bauch widmen konnte. Der Streichler lachte warm. «Das hast du schon immer gemocht! Seit ich dich aus der Elbe gefischt habe.» Sanft fuhr er durch Harrys Locken. «Du, ich verrate dir was: Ich bin nicht zum Ehemann und Vater geboren! Aber das bleibt unter uns. Wenn Frieda davon erfährt, regt sie sich nur unnötig auf. Wer kann schon wissen, ob ich nicht doch anpassungsfähig werde im Laufe der Jahre?»
Als Frieda eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer kam, war Konrad mit Harry ausgegangen. Sie seufzte, räumte das Glas und die zerknitterte Zeitung weg, legte die Wolldecke zu einem ordentlichen Rechteck zusammen und fühlte sich irgendwie ausgeschlossen – aus Konrads Denken, seinem Fühlen, seiner ganzen Welt.
Der Sohn der Familie machte einen ruhigen Eindruck. Keine Tränen, kein Schluchzen, stattdessen ein klarer, wenn auch besorgter Ausdruck in den Augen. Verständlich, dachte Ganter, immerhin wurde in diesem Haus ein Mord begangen, da gab es Grund genug, sich Sorgen zu machen. «Mireille Loliot war etwa in Ihrem Alter?»
Der junge Mann nickte schweigend.
«Sie lebte in diesem Haus wie Ihre leibliche Schwester. Sie verstanden sich gut?»
«Es ergaben sich nur selten Kontakte. Mireille lebte ihr eigenes Leben, und das recht intensiv. Für Brüder – egal, ob leiblich oder nicht – war darin nicht viel Platz. Wenn wir uns trafen, unterhielten wir uns, gelegentlich sind wir auch zusammen ausgeritten. Ich mochte ihre Fröhlichkeit.» Ferdinand von Weitershausen zuckte mit den Schultern. «Mein Vater sah es nicht gern, wenn wir uns trafen. Möglicherweise wollte er verhindern, dass wir uns zu nahe kamen.» Ein scheues Lächeln huschte um seine Lippen und verschwand.
«Wäre diese Verbindung nicht eher sinnvoll gewesen?», fragte Ganter.
«Mein Vater hatte andere Vorstellungen.»
Ganter beschloss, dieses Thema zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu vertiefen. Vielleicht konnte er später noch einmal darauf zurückkommen. «Ist Ihnen aufgefallen, dass Fräulein Loliot die Tafel verließ?», wechselte er das Thema.
«Ja. Sie ging kurz nach dem Dessert.»
«Und wer folgte ihr?» Ganter beugte sich weit über den Tisch, als habe er Angst, er könne sonst die Antwort verpassen.
«Das lässt sich nur schwer sagen. Zu diesem Zeitpunkt begann die Gesellschaft insgesamt sich aufzulösen. Einzelne Grüppchen bildeten sich, manche suchten die Waschräume auf, andere wollten sich nach dem üppigen Essen im Garten ein wenig die Beine vertreten. Zum Glück hatte der Wachmann aufgepasst und nahm gerade noch rechtzeitig den sehr angriffslustigen Hund an die Leine.» Ferdinand schüttelte verärgert den Kopf. «Auch so eine Idee meines Vaters, um gegen Bettler vorzugehen. Wie leicht hätte einer unserer Gäste zerfleischt werden können!»
«Haben Sie beobachtet, wer unmittelbar nach Fräulein Loliot die Tafel verließ?», hakte Ganter nach.
«Xaver Koch, Hubertus Berlinger, Frau von Andergast und ihr Gatte und vielleicht noch eine Handvoll Leute.» Ferdinand schluckte hart. «Hätte ich geahnt, dass einer von ihnen Mireille töten will, dann wäre ich aufmerksamer gewesen!», setzte er vehement hinzu.
«Sie ist Ihnen nicht gleichgültig gewesen.» Das war eine Feststellung, keine Frage. Ganter besaß eine gute Beobachtungsgabe, und ihm war das Flackern im Blick seines Gegenübers nicht entgangen.
«Natürlich nicht», flüsterte der Sohn des Hauses. «Sie haben sie doch gesehen! Eine schöne junge Frau. Und doch auf eine besondere Weise unberührbar. Ich glaube, in all den Monaten streifte meine Hand nur zweimal ihren Arm. Ich mochte ihre Art, mir gefiel es, nicht mehr allein ‹Kind› in diesem Haus zu sein. Und doch verband uns tatsächlich nicht mehr als das.»
«Wussten Sie von einer Beziehung zu Xaver Koch?», fragte Ganter.
«Nein. Geheimnisse blieben unsere Geheimnisse, wir tauschten sie nicht untereinander aus. Eine Verliebtheit fiel mir bei ihr nicht auf. Und gerade Xaver Koch wäre eine ungewöhnliche Wahl gewesen. Ihr Vater wäre sicher nicht mit dieser Verbindung einverstanden gewesen.»
«Die Mordwaffe ist eine ungewöhnliche Klinge. Haben Sie die zuvor im Haushalt Ihrer Familie gesehen?», schnitt Ganter abrupt ein neues Thema an.
Der junge Mann dachte darüber nach, kaute an der Unterlippe und meinte dann bedauernd: «Nein. Allerdings schwärmte Mireille für diese Art kunstvoll gestalteter Gegenstände. Sie meinte immer, große Kunst zu schaffen sei das eine, eine größere Herausforderung jedoch sei es, den alltäglichen Dingen eine besondere, unverwechselbare Seele zu schenken. Deshalb solle mein Vater das Stipendium diesmal an jemanden vergeben, ‹der Licht und Sonne in die Tage der Menschen trägt›. Sie sehen schon, Mireille hatte manchmal unorthodoxe Vorstellungen und eine blumige Art, sie zu formulieren.»
«Ich nehme an, Ihr Vater schloss sich dieser Meinung nicht an.»
«Natürlich nicht. Er möchte als Kunstkenner in die Geschichte Deutschlands eingehen, nicht als Förderer von Gebrauchskunst oder Kunsthandwerk. Da macht er deutliche Unterschiede.» Der sachliche Ton hatte etwas an Schärfe gewonnen. Ferdinand von Weitershausen erhob sich mit einer angedeuteten Verbeugung. «Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich mich gern wieder um die Gäste kümmern. Wie Sie sich vorstellen können, herrscht allgemeine Aufgeregung. Meine Mutter benötigt meine Hilfe.»
«Einen Moment noch! Welche Pläne hatte Jean Loliot denn mit seiner Tochter? Ist Ihnen darüber Näheres bekannt?»
«Nein. Aber eines kann ich mit Gewissheit sagen: Es waren völlig andere als die, die mein Vater für Mireille verfolgte», spuckte der Sohn des Hauses unerwartet zornig in den Raum, machte kehrt und verschwand.
Sehr interessant, dachte Ganter. Wie mag er das wohl gemeint haben?
Frau von Weitershausen tupfte ununterbrochen mit einem blütenweißen Taschentuch am unteren Lidrand entlang. Schniefte. Weinte. Wischte erneut.
«Frau von Weitershausen, was für ein Mensch war Mireille Loliot?»
Die Gastgeberin schwieg. Aber wenigstens hatte sie zu schniefen aufgehört, während sie offensichtlich auf eine Antwort sann, und das war Ganter mehr als willkommen.
«Wie soll ich das wissen?», hauchte sie unerwartet. «Ich kann doch nicht lesen, was hinter ihrer Stirn vorgeht.»
«Und ihr Verhalten? Ich möchte mir gern ein Bild von ihr machen können. Beschreiben Sie die junge Dame doch bitte!»
Gundula von Weitershausen richtete ihren Oberkörper steil auf und fixierte die Augen ihres Gegenübers, während sie unemotional aufzählte, als lese sie eine Einkaufsliste vor: «Unschuldig, freundlich, wohlerzogen. Wie man es von einem Mädchen dieser Klasse erwarten darf. Die Dienstboten waren geradezu begeistert von ihrer Bescheidenheit und ihrer unkomplizierten Art. Sie fügte sich sehr unauffällig in unseren Haushalt ein, fühlte sich im Schoß unserer Familie offensichtlich geborgen.» Wieder ein Schluchzer.
Ganter suchte misstrauisch nach Tränenspuren, fand aber keine. Aha, dachte er griesgrämig, schon wieder eine Bühnendarbietung. «Wussten Sie von der Liebe zu Herrn Koch?»
«Aber natürlich nicht!» Gundula von Weitershausen schüttelte energisch den Kopf. «Wenn es tatsächlich eine Verbindung gab, so ist es den beiden gelungen, sie geheim zu halten. Möglicherweise sollte Jean es als Erster erfahren, wer weiß. Ach, der arme Mann! Er vertraute uns Mireille an, damit sie ihre angegriffene Gesundheit … Und nun starb sie in unserer Obhut!» Neue Tränen. Wischen. Tupfen.
«Sie starb nicht einfach so – jemand hat sie ermordet», stellte Ganter klar. Sprachliche Vertuschungstechniken wollte er nicht zulassen. Seiner Meinung nach sollte die Familie so früh wie möglich damit beginnen, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Außerdem erschwerten wortreiche Verschleierungen seine Ermittlungen.
«Seien Sie nicht so roh!», tadelte ihn die Dame wie erwartet. «Es ist für uns alle ein grässlicher Hieb des Schicksals.» Sie schniefte.
Hier kam er nicht weiter, wurde dem Ermittler klar. «Hieb des Schicksals», wie albern! «Stich des Mörders» träfe es eher, hörte er seine innere Stimme höhnen. Er beschloss, sie so gut zu ignorieren, wie es eben ging. «Ich brauche die Namen aller Personen, mit denen Fräulein Loliot näher bekannt war.»
Ein gequältes Nicken war die Antwort. «Karl wird Ihnen eine Liste ins Bureau bringen.»
Ganter spürte den Worten nach und befand, dies war ein Versuch, ihn in Zukunft aus dem häuslichen Milieu in der Villa der von Weitershausens herauszuhalten. Nun, überlegte er, das wird nicht gelingen. «Waren Sie selbst auch damit einverstanden, dass die junge Dame in Ihr Haus zog?»
«Selbstverständlich. Das arme Kind hat nach dem plötzlichen Tod der Mutter nicht recht ins Leben zurückgefunden, war immer schwächlich und ohne Antrieb. Seit sie in Dresden lebte, ging es ihr sichtbar besser. Wir sorgten für reichlich Abwechslung in ihrem Alltag und viel Bewegung an der frischen Luft. Langsam bekam ihr Gesicht Farbe, und sie nahm auch wieder zu. Besondere Freude hatte sie an den täglichen Ausritten. Natürlich unternahm sie diese nicht allein, unser schwedischer Pferdepfleger Arne begleitete sie immer. Das ist ihr sehr gut bekommen», erklärte die Gastgeberin in rechtfertigendem Ton, als habe man ihr vorgeworfen, das Mädchen sei von den Weitershausens bewusst dem Hungertod überlassen worden.
Der Dresdner Ermittler konstatierte, dass die Familie sich hartnäckig um die unangenehme Realität herumdrückte. «Wann wird Herr Loliot zurückerwartet?»
«Genau wissen wir das nicht. Allerdings hofften wir, ihn zu Mireilles Geburtstag in der kommenden Woche hier begrüßen zu dürfen.»
«Sie haben keinen engeren Kontakt gehalten?», staunte Ganter.
«Doch, natürlich. Telegramme und Briefe. Auch Mireille hat ihm regelmäßig geschrieben. Deshalb wissen wir auch, dass er seine Planung für die neue Fabrik besser und schneller umsetzen konnte als erhofft. Über seine Reisepläne jedoch hat er nichts verlauten lassen.»
«Was, wenn nun eine wichtige Entscheidung hätte getroffen werden müssen, das Fräulein zum Beispiel krank geworden wäre?»
«Sie ist rechtlich unser Mündel. Alle Entscheidungen treffen wir.» Sie merkte, dass sie im Präsens gesprochen hat, und schlug die Hände vor den Mund. «Aber das hat ja nun keine Bedeutung mehr.»
Wortlosigkeit richtete sich im Raum ein.
Plötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck der Gastgeberin. Gerade noch schmerzverzerrt, wandelten sich die Züge hin zum Arroganten, ihr Blick wurde kalt, und ein neuer Ton hielt Einzug. «Ich hoffe, die dramatische Entwicklung wird unser gutes Verhältnis nicht belasten. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn der heutige Abend unsere langjährige Freundschaft zerstörte und unsere Geschäftsbeziehungen belastete.»
Ganter hörte ihr fassungslos zu. Konzentrierte sich darauf, den Mund nicht unvorteilhaft und dümmlich offen stehen zu lassen. Vorsichtshalber griff er mit der Rechten an sein Kinn. Da wäre ich aber gern dabei, wenn die Familie Weitershausen auf den Vater des Opfers trifft, dachte er sarkastisch. Ganz friedlich wird das wohl kaum abgehen. Ich würde glauben, dass diese Leute mein Kind nicht gut betreut haben. Ich könnte ihnen das nie im Leben verzeihen. Mein Gott, Ganter, diesen Fall kriegst du nie gelöst. Diese Leute fühlen und handeln völlig anders als du! Neben einem Mordopfer stehend, denken die nicht an den Schmerz des nächsten Verwandten, sondern an die Geschäftsbeziehungen, die nicht gestört werden sollen, mahnte seine innere Stimme, und ein schwarzer Verdacht keimte in ihm auf: Er war in der letzten Zeit einige Male hart bei seinen Vorgesetzten angeeckt – hatte man ihm diesen Fall zugewiesen, damit er scheiterte? Sollte so seine Laufbahn beendet werden?
Konrad schlenderte auf seinem Heimweg nach dem Besuch der Eckkneipe langsam durch die Wolfsgasse. Je näher er seiner Haustür kam, desto lustloser schritt er aus. Harry trottete schweigend nebenher, so als wolle er ihn beim Denken nicht stören.
«Weißt du was, Harry? Fritz haben wir schon lange nicht mehr besucht. Das machen wir morgen! Der wird sich freuen, wenn wir mal wieder bei ihm auftauchen. Vielleicht nehmen wir unsere Damen mit, dann können sich die Mütter über Kindererziehung austauschen, während wir Männer uns mit wichtigen Angelegenheiten auseinandersetzen, Politik zum Beispiel. Und so viel Arbeit wird er auch nicht haben, dass er uns kurzerhand vor die Tür setzt.» Konrad nickte seinem Hund zu. «Eine Runde noch, dann müssen wir wirklich hoch!»
Nach einer halben Stunde standen sie erneut vor dem Hauseingang. «Das war’s für heute. Morgen gehen wir bei Fritz vorbei. Vielleicht muss Frieda einfach mehr unter Leute.»
Konrad bückte sich und hob den kurzbeinigen Begleiter auf den Arm, trug ihn die breite Treppe hoch bis in die Wohnung.
Alles dunkel.
«Psst!», flüsterte er Harry ins Ohr. «Die Damen schlafen wohl schon. Da wollen wir sie mal lieber nicht wecken.»
Harry verstand. Trollte sich leise auf seinen Platz neben dem noch warmen Ofen.
Konrad kroch wenig später zu Frieda ins Bett. Seine Frau murrte leise im Schlaf, warf sich herum und wandte ihm den Rücken zu. Auch gut, dachte Konrad trotzig, dann muss ich nicht mit dir reden. Worüber auch?
Als der Morgen zu dämmern begann, war Fritz Ganter müde und zerschlagen auf dem Weg nach Hause. Wenigstens ein frisches Hemd für den neuen Arbeitstag würde er brauchen. Auf der Fahrt überlegte er, was er nun an greifbaren Informationen über die Ermordete bekommen hatte. Wenig. Immer freundlich sei sie gewesen, stets sauber und ordentlich, pünktlich, zuvorkommend. Eine junge Frau ohne die geringste schlechte Eigenschaft. Neid, Missgunst oder intrigantes Gehabe seien ihrem Wesen fremd gewesen, hatte man ihm unisono versichert. Sie wusste sich zu benehmen, war von gutmütigem Wesen, hatte man zu Protokoll gegeben. Wo sollte da eine polizeiliche Ermittlung ansetzen?
«Tja», murmelte Ganter in den Tagesanbruch, «und doch war irgendjemand der Auffassung, du habest den Tod verdient. Aber wer tötet einen Engel?»
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