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»Was is’n mit mir?«, beschwerte sich Jet. Er sprang vom Truck und trat dabei wie ein nervöses Tier von einem Bein aufs andere.
»Mach, was du immer machst«, antwortete Buck. »Geh in den Stall und fick deine beschissenen Schweine, aber geh mir nicht auf die Eier!«
Buck war insgeheim froh, Jet nicht an der Backe zu haben. An Tagen wie diesem, wenn Jet aufgeregt war, konnte er seinen Bruder nicht ertragen. Jet war wie ein Bär mit dem Gemüt eines Schweines, das ständig quiekte und viel zu viele Fragen stellte. Dazu kam noch etwas anderes. In seinem fetten Körper steckte eine unglaubliche Kraft, die er kaum unter Kontrolle hatte, da war es besser, ihn von der Stadt fernzuhalten.
Auf Conor aufpassen zu müssen, war schwer genug, denn der hatte seine Triebe überhaupt nicht unter Kontrolle. Letzte Nacht zum Beispiel, da hatte er ihn dabei erwischt, wie er im Baum vor dem Laden der McCalls hockte, in das Schlafzimmerfenster von Vivian McCall glotzte und an sich herumfummelte. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn Bob davon Wind bekam. Im Vergleich dazu wären ausgeschlagene Zähne und eine Menge Blut eine nette Geste. Also hatte er ihn aus dem Geäst gezerrt und in der Werkstatt mit dem Hosengürtel verprügelt, wie er es von Dad gelernt hatte.
Morgen sitzt dieser Dummkopf wieder in den Ästen …
Buck lenkte den Truck auf einen holprigen Feldweg, über den sie die Stadt eher erreichen würden, als es der Bus auf der Interstate vermochte. Die Einheimischen kannten eben die geheimen Wege. »Die haben sich im White House eingebucht«, brummte Buck sinnierend. Alles lief, wie es laufen sollte.
»Sue Ellen verdient sich mit denen von außerhalb ’ne goldene Nase und macht nich’ mal ’n Finger dabei krumm«, höhnte Conor. Sein Mund verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen. »Aber mal ehrlich, bei der würde ich gerne einziehen.«
»Verdammt, Conor«, beschwerte sich Buck, »hast du denn nichts anderes in der Birne?«
Conor lachte. »Täte dir auch mal gut, einen wegzustecken. Würdest danach alles lockerer sehen.«
Buck trat unvermittelt auf die Bremse. Der Truck bockte, schlitterte auf dem groben Schotter, brach aus und kam mit einem letzten Ruck zum Stillstand. Conor wusste, was das bedeutete. Seine Hand schnellte zum Türgriff, doch er war zu langsam. Bucks Faust klatschte ihm hart in den Magen, dass Conor zusammenklappte wie ein Springmesser. »Hab dich gewarnt, Conor.« Er schlug ein weiteres Mal zu, dieses Mal in Conors Gesicht. Dessen Lippe platzte auf und Blut spritzte. »Hab ich dich nicht gewarnt? Wieder und wieder?«
Buck ließ von ihm ab und packte mit beiden Händen das Lenkrad. Verzweifelt lehnte er sich mit der Stirn gegen das griffige Leder. »Was soll ich nur mit dir machen, Mann?« Er packte ihm in die Haare und riss seinen Kopf nach oben. »Meinetwegen kannst du rummachen, mit wem oder was du willst, aber behalt deine Aufgabe vor Augen, kapiert?«
Conor stöhnte. Blut lief ihm aus Mund und Nase, trotzdem nuschelte er schwach: »Ja, Mann.«
Dad hätte sicher eine Lösung gehabt. Er hätte Conor windelweich geprügelt und zum Prediger gebracht, damit der sich mit ihm befasste. Das volle Programm der Läuterung in Blut und Schmerz. Die Wahrheit war, dass es mit Conor immer schlimmer wurde und Buck Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren.
Letztendlich Daddys Weg …
»Ich bring dich zum Prediger!«
Conor richtete sich röchelnd auf, schlüpfte aus dem Shirt und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Was?« Er schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht machen, Mann … wir sind Brüder!«
»Gleich morgen … da bring ich dich zum Prediger!« Buck klang entschlossen. Er nickte, richtete sich auf und gab Gas. Sie hatten durch das Geplänkel Zeit verloren und die musste er jetzt aufholen. »Wenn du Pech hast, schneidet er dir den Sack ab – oder gleich alles, was da baumelt.«
»Bitte, Mann, ich will nicht zu dem«, beschwerte sich Conor. Seine Stimme klang weinerlich, weil er Angst hatte. »Der macht’s am Ende sogar noch …«
Buck dachte an die Aufgabe, die ihnen der Prediger zugedacht hatte, und schluckte. Typen wie Conor konnten alles vermasseln. Vor allem jetzt, so nah am Ende, war äußerste Konzentration angebracht. Er durfte nicht zulassen, dass Conor aus der Reihe tanzte. »Du tust, was ich dir sage, oder ich schlag dich tot!«

Welcome to Deadwood, South Dakota
13. Juli – Black-Hills-Territorium
Ungewöhnlich heftige Regenfälle hatten die Straßen in den Black Hills in Schlammlöcher verwandelt, die selbst Pferde nur mit Mühe passieren konnten. Auch jetzt regnete es wieder.
Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen. Graues Regenlicht verfärbte sich zu tiefem Schwarz. Er musste sich beeilen, wenn er die Nacht nicht draußen verbringen wollte. Der einsame Reiter zog sich den Kragen seines gewachsten Segeltuchmantels enger zusammen und neigte den Kopf nach vorne, damit das Wasser vom Hut laufen konnte. Er war vollkommen durchnässt, schnalzte mit der Zunge und der Schimmel ohne Namen setzte sich in Bewegung. Sie passierten eine improvisierte, halb im Schlamm versunkene Zeltstadt. Abgehalfterte Prostituierte zogen ihre prallen Brüste aus den fleckigen Kleidern, während er an ihnen vorbeiritt. Eine fluchte ihm hinterher, dass ihn die Krätze holen solle, weil er sie nicht beachtete. Die Luft roch in einem scharfen Unterton nach menschlichen Ausscheidungen und dem nassen Holz, das die Glücksritter in ihren Zeltöfen verbrannten.
Verdammte Goldgräber, wühlen sich in die Hänge, brechen die Erde auf und lassen ihren Unrat zurück … Was bleibt, ist ein vernarbtes, kaputtes Land …
Die Zelte der Goldgräber blieben zurück. Die Main Street wurde von grob gezimmerten, dicht beieinanderstehenden Holzhäusern gesäumt. Gelbliches Licht fiel aus den Fenstern auf die Straße, vermischte sich mit dem helleren der Petroleumlaternen zu einem diffusen Schein, der an eine Zirkusmanege erinnerte. Der Reiter fand, dass es durchaus Ähnlichkeiten damit gab, wenn man die Geräuschkulisse aus vielerlei Sprachen hinzuzog. Schilder stachen wie ausgestreckte Arme in die Straße hinein, auf denen Liquor Dealers, Dentist oder Saloon zu lesen stand. Schiefe Veranden aus ungeschälten Bohlen bildeten fragil schwebende Konstruktionen über dem Straßenschlamm. Selbst um diese späte Stunde herrschte reges Treiben. Eine Menge Pferde stand gesattelt vor den Geschäften und Saloons. Planwagen rollten schmatzend von Kaltblutpferden oder Ochsen gezogen zwischen den Häusern hindurch. Ihre Räder zogen tiefe Furchen in den Schlamm, den man hier Straße nannte. Hunde streunten herum, taxierten Passanten, die Essen mit sich führten. Bärtige Goldschürfer mit eingefallenen Wangen drängten sich neben Anzugträgern und Frauen der Heilsarmee dicht an dicht auf den hölzernen Stegen. Eckensteher mit halb zugeknöpften Westen über karierten Hemden musterten argwöhnisch jeden Fremden, die Hand lässig auf den Colt gestützt. Er kannte diese unlösbare Verbindung zwischen Schütze und Waffe nur zu gut. Aus den Saloons und Spielhallen erklangen Gelächter und Klaviermusik, durchmischt von deutlich hellerem Lachen chinesischer Huren.
Die Bank und ein imposanter Eisenwarenladen schienen die einzigen Steingebäude der Stadt zu sein. Vor ihnen lungerten bärtige Männer in dunklen Anzügen herum, um den Wert der Häuser hervorzuheben. Die hielten Flinten lässig auf die Hüften aufgesetzt, ihre Hosenbeine steckten in hohen, schlammverschmierten Stiefeln.
Der einsame Reiter zog sich den Hut tiefer ins Gesicht und ritt weiter. Sein Ziel war der Nuttall & Man’s Saloon und der musste die Straße hinab liegen. So stand es zumindest in dem Telegramm, das er von einer alten Weggefährtin erhalten hatte. Der verstörende Satz, mit dem sie ihn bat, nach Deadwood zu reiten, hatte ihn dazu bewogen, Cheyenne in Wyoming und den Zirkus seiner Frau Agnes Lake Thatcher zu verlassen, den er Zuhause genannt hatte. Die Wahrheit war, er war geritten, weil es ihn in den Fingern juckte und die Vorderlader-Colts an seinem Gürtel, die noch aus dem Krieg stammten, lange kein Feuer mehr gespuckt hatten. Der alten Zeiten willen. Das waren genug Gründe, um sich in den Sattel zu schwingen und den beschwerlichen Weg nach South Dakota auf sich zu nehmen.
Der Nuttall & Man’s Saloon lag etwa fünfzig Meter die Main Street hinab, wenn man vom Eisenwarenladen aus rechnete. Im Falle von Problemen war es angebracht, einen Maßstab zu verwenden, und die Stadt sah verdammt noch mal nach Ärger aus. Er lenkte den Schimmel zu einem freien Platz an der Anbindestange und sah sich ein letztes Mal um, bevor er sich aus dem Sattel schwang. Gegenüber dem Nuttall & Man’s stand das dritte und größte Steingebäude der Stadt. Unterhalb des ausladenden Balkons, auf dem sich Freier und Nutten in Unterwäsche tummelten, hing ein rotes Schild mit goldener Schrift, auf dem The Gem – Varieté Theater zu lesen stand. Dem Gedränge nach zu urteilen, ein Laden, der gut lief. Ihm fielen sehr wohl die Männer in den langen Mänteln auf, die mit Gewehren bewaffnet an den Ecken und auf dem Balkon des Gem standen und die Straße beobachteten. Mindestens zwei von ihnen hielten ihre Blicke auf ihn gerichtet.
Ächzend schwang er sich aus dem Sattel, band den Schimmel fest und tätschelte ihm die Flanke, ehe er sich die Satteltaschen überwarf, sein Gewehr aus dem Scabbard zog und es schulterte. Die Glücksritter hoch im Norden benutzten meist die alten Springfield Rifles aus dem Bürgerkrieg. Er hingegen setzte auf eine Winchester Modell 1873, denn der Unterhebelrepetierer verschoss moderne Metallhülsenpatronen, die unempfindlich gegen Feuchtigkeit waren und die man schnell nachladen konnte. Ein entscheidender Vorteil, wenn man es mit mehreren Männern gleichzeitig zu tun bekam. Er stieg mit klirrenden Sporen auf die Veranda und stampfte sich den Schlamm von den kniehohen Stiefeln. Während er sich den Mantel aufknöpfte, trat er zwischen den Männern hindurch, die auf der Veranda herumlungerten und rauchten.
Er strich sich das Wasser aus dem langen Vollbart, betrat den Saloon durch die offen stehende Tür und wurde von einem Brodem aus Alkohol, Rauch, altem Schweiß und ungewaschener, zu lang getragener Kleidung empfangen, durchsetzt von einer Note Erbrochenem und Urin. Der typische Geruch der aus dem Boden gestampften Goldgräberstädte. Unter dem gigantischen Kronleuchter war es zum Bersten voll. Die runden Tische, die Bar. Dazwischen leichte Mädchen in einem Alter, in dem sie besser die Schulbank hätten drücken sollen. Erfahrene Nutten in rüschenbesetzten Kleidern, hinten weit ausgestellt, um ihre fetten Ärsche zu überdecken, zwängten sich zwischen den Tischen hindurch. Ein Mann mit Bowler und gestreiftem Hemd klimperte auf dem Klavier, ein paar schlammverkrustete Goldgräber standen daneben und hoben ihre Biergläser, um zu singen. Der Klavierspieler trug diese Ärmelschoner aus gewachstem Segeltuch, um sein teures Hemd zu schützen. James lachte in sich hinein, denn er wusste, dass die hässlichen Dinger den Hemdstoff weit mehr verschmutzten, als wenn er keine tragen würde.
Er legte den halben Weg zwischen Tür und Bar zurück und sah sich mit zusammengekniffenen Augen im verrauchten Zwielicht um. Den Spieltisch, an dem gepokert wurde, verbannte er aus seinem Sichtfeld, denn er wusste, was geschehen konnte, wenn er sich einen Stuhl nahm und sich setzte. Er hatte sich an den Karten zu oft die Finger verbrannt, obgleich er ein exzellenter Spieler war und wissen sollte, wie es am runden Tisch lief.
Wo zur Hölle steckt sie nur?
»Suchst du mich, Fremder?«, sagte ein rothaariges Mädchen neben ihm, die seine Tochter hätte sein können und hakte sich an seinem Arm unter. Sommersprossen umspielten ihre Stupsnase. »Hast Lust, ein armes Mädchen auf ’nen Drink einzuladen, hm?«
Der Fremde befreite sich sanft aus ihrem Griff. »Bist ’n schönes Mädchen, aber sorry, ich bin wegen jemand anderem hier. Kennst du Martha Jane Cannary … manchmal nennt sie sich Burke?« Das Mädchen legte enttäuscht ihren Zeigefinger auf die Nasenspitze und tat nachdenklich. »Da muss ich jetzt wirklich überlegen, Süßer …«
Er spielte mit einer Münze zwischen seinen Fingern. »Das hilft dir beim Denken, Süße.«
»Lass dir nicht die Hosen dabei ausziehen«, lästerte eine Frauenstimme hinter ihm, die er nur zu gut kannte. Der Fremde drehte sich um und grinste. »Martha!«
Er steckte die Münze der Kleinen zu und zwinkerte. »Hast mir Glück gebracht.«
Dann umarmte er die große Frau mit dem geflochtenen, schwarzen Zopf, die Männerkleidung und einen Waffengürtel über der zugeknöpften Jacke trug. »Halleluja noch mal, wie lang ist das jetzt her?«
»Viel zu lange, Mister James Butler«, hauchte ihm Martha ins Ohr. »Und nenn mich Jane, alter Dummkopf.« Sie fuhr ihm dabei mit den Fingern durch sein langes, nasses Haar. »’n Bad und trockene Sachen wären nicht schlecht, was?«
James löste sich von ihr und hielt sie an den Schultern fest, um sie sich anzuschauen. Auf den ersten Blick wirkte sie gelöst, doch wenn man genauer hinsah oder weil man sie kannte, konnte man die Besorgnis erkennen, die sie plagte. »Erst erzählst du mir, was es mit diesem ominösen Telegramm auf sich hat, das mir keine Wahl ließ, außer herzukommen!«


The White House Inn
Das Motorrad war auf dem Gepäckträger festgezurrt, der Bus strebte auf der staubigen Landstraße seinem abendlichen Ziel entgegen. Die Sonne stand bereits zur Hälfte hinter dem Horizont, die Schatten wurden länger. Selbst nach Sonnenuntergang lag die bleierne Hitze wie eine Last über dem Land. Im Bus war Ruhe eingekehrt. Wer nicht schlief, schwitzte an die Scheiben gelehnt vor sich hin. Sie hatten einen Schweinemastbetrieb mit riesigen Hallen passiert. Der Fahrtwind hatte den Güllegestank durch die offenen Fenster gepresst. Jetzt stand er wie zäher Brei im Bus und wollte nicht mehr weichen.
Hope schreckte aus einem unruhigen Schlaf auf, weil Cherryl sie mit dem Ellbogen anstieß.
»Hast du die Typen gesehen?«
Hope rieb sich die Augen. »Hab geschlafen, verdammt … welche Typen? Und warum stinkt’s hier denn? Hast du …?«
»Quatsch, nichts hab ich!«, erwiderte Cherryl. »Sind an ’ner Schweinezucht vorbeigefahren. Deshalb stinkt das jetzt so.«
»Hast du mich geweckt, um mir das zu sagen? Dein Ernst?« Hope sah aus dem Fenster. Die Sonne versank gerade vollends hinter dem Horizont. Aus den Schatten wurde Dunkelheit. Die endlosen Maisfelder verwandelten sich in einen sich träge wiegenden Ozean, angefüllt mit Finsternis.
Cherryl schüttelte den Kopf. »Nee! Wegen der Kerle bei der Schweinefarm.«
»Hä?«
»Ja, da waren welche vor den Ställen …«
»Was war denn mit denen?«
»Die standen neben ’nem rostigen Truck, gafften uns nach. Echt gruselige Vogelscheuchen, sag ich dir.« Cherryl rieb sich fröstelnd die Arme. »Da war was in ihrem Blick …«
Hope rutschte nach oben, um sich aufrecht hinzusetzen. »Cherryl, das ist nicht witzig.«
»Wenn ich’s dir sage. Wie wilde Hunde … fast … animalisch.«
Hope rollte mit den Augen. »Klar. Und das hast du alles beim Vorbeifahren festgestellt. In ’ner Sekunde.« Hope wurde jetzt ebenfalls kühl. Sie dachte an das zurück, was sie im Maisfeld erlebt hatte. An die unsichtbare Präsenz. Wäre Cherryl doch nur ruhig gewesen. »Im Mais ist alles möglich …«
Cherryl sah sie erschrocken an. »Was? Hope? Alles klar mit dir?«
Hope fing an, diabolisch zu grinsen. »Ich sagte, im Mais ist alles möglich.«
»Jetzt machst du mir Angst.«
»Das war meine Absicht!«
Sie passierten ein Ortsschild, aber es war bereits zu dunkel, um zu erkennen, was auf ihm geschrieben stand. Kurz darauf schaltete Kindermann einen Gang nach unten und die ersten Häuser tauchten auf.
Häuser?
Eher Hütten …
Schwarze Vögel, die in den Bäumen sitzen … uns anstarren, weil sie uns erwarten … Wollen sie uns etwas zurufen, das wichtig ist?
Eine Warnung vielleicht?
In der Tat saßen Krähen in den Bäumen neben der Straße.
Wo sollen sie auch sonst sitzen? Sammeln sich auf ihren Schlafbäumen für die Nacht … nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste.
Die Totenvögel, die ich rief … Sie sprechen zu mir, rufen mir zu, ihre Augen eine nervöse Warnung. Wir sollten nicht hier sein …
Ihre Gedanken spiegelten sich in den schwarzen Knopfaugen der Vögel. Doch die saßen viel zu weit entfernt und außerdem war es dunkel. Die Augen, die sie sah, waren in ihrem Kopf. Hope schüttelte die düsteren Gedanken ab.
Es war Zeit, sich von alldem zu befreien. Nach dem Ausflug nach South Dakota würde sie das Waisenhaus mit einem vorzeigbaren Schulabschluss verlassen und ein neues Leben beginnen, wenn es gut lief, sogar einen Psychiater aufsuchen, wenn sie das Geld dazu hatte. Ein Leben ohne die Schatten der alten Geister.
Nicht in dieser Nacht. Ich werde mich den Bildern nicht hingeben, ihnen keinen Glauben schenken.
Ich werde einfach nur ein Mädchen sein, lachen und albern …
Im gelben Licht der Straßenlaternen sahen die Holzhäuser schäbig und heruntergekommen aus. Fast wie in einer Geisterstadt, denn niemand befand sich auf der Straße. Keiner saß wie bei Städtchen üblich vor den Häusern, um ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten. Wie der Interstate bestanden die Straßen in der Ortschaft aus gewalztem Schotter. Durch das veränderte Fahrgeräusch waren jetzt alle aufgewacht und drückten sich die Nasen an den Scheiben platt, denn jeder wollte wissen, wo sie die Nacht verbringen würden.
»Ganz sicher in ’ner beschissenen Turnhalle«, motzte Lissy und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»In ’ner Kirche«, mutmaßte Cherryl. Sie hatte sich einen Schminkspiegel an den Vordersitz gehängt, damit sie sich ihr Make-up nachziehen konnte.
Hope kicherte und warf Lissy einen vielsagenden Blick zu. »Ich sag Gemeindehaus. Hundertprozentig!«
»Ihr liegt alle drei so was von falsch«, tönte Brady und schaute über die Rückenlehne. »Wir werden in ’nem horrormäßigen halb zerfallenen Haus übernachten, so sieht’s aus, Mädels. Der Slasher schärft schon sein Beil!«
Hope schlug gegen die Rückenlehne. »Du bist so ein Idiot, Brady Banner!«
»Hey, verdammt!« Cherryl warf Hope einen wütenden Blick zu. Der Lippenstift auf ihrem Mund war verschmiert, als hätte sie mit einem der Jungs wild geknutscht. »Wegen dir kann ich’s jetzt noch mal machen!«
Lissy gluckste und wedelte mit der Hand. »Für unsere Beauty-Queen ist der Abend somit gelaufen!«
Cherryl fauchte genervt. »Ihr seid so was von blöd …«
Der Bus bremste und bog nach links in die Main Street ab, um gleich darauf nach rechts auf den Parkplatz einer eindrucksvollen viktorianischen Villa zu fahren.
Hope klappte der Unterkiefer nach unten. »Nee, oder?«
»Manchmal hasse ich es, wenn ich recht habe«, ertönte von vorne Bradys Stimme.
Das viktorianische Haus mit seinen Erkern und Türmchen wirkte nur auf den ersten Blick wie eine noble Villa. Aus der Nähe fügte es sich in das marode Gesamtbild der Stadt nahtlos ein. Die Farbe war abgeblättert, das Holz darunter spröde und grau. Die Fenster wirkten stumpf und die Gardinen dahinter grau wie altes Leinen. »Dann doch lieber die Turnhalle«, stöhnte Cherryl und steckte ihre Schminksachen in die Umhängetasche zurück.
»Na, vielleicht ist es drinnen ja ganz nett.« Hope klang nicht gerade überzeugt.
»Willkommen in Purgatory, Iowa!«, verkündete Schwester O’Hara von vorne. »Alles aussteigen und vor der Veranda aufstellen. Wir übernachten im besten Hotel am Platz, dem White House Inn.«
»Da will ich gar nicht erst die anderen Hotels sehen«, höhnte Brady.
Jamie lachte, denn der Witz war wirklich gut.
»Quatscht nicht rum, packte eure Sachen und lasst nichts im Bus liegen«, schnauzte Schwester O’Hara sie an und wedelte hektisch mit der Hand Richtung Ausstieg, um sie anzutreiben.
»Boah …« Cherryl stöhnte. Sie stieg hinter Lissy aus dem Bus. »Hier draußen ist die Luft ja noch schlimmer als in der Blechkiste.«
Hope hob ihre geknotete Bluse an, um sich Luft zuzufächeln, was wegen der breiigen Hitze ihr keine lüsternen Blicke der Jungs einbrachte.
»Kann dir helfen, wenn du willst«, tönte Brady neben ihr.
»Ach, verpiss dich doch einfach, kann dein Gelaber jetzt echt nicht ertragen.« Hope war genervt und sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche, doch sie bezweifelte, dass dieses Haus einen solchen Luxus zu bieten hatte. Zur Not würde ein nasses Tuch helfen, ihre Haut vom klebrigen Schweiß zu befreien, damit sie sich wieder menschlich fühlte.
Lissy stieß Hope an. »Schau mal, das Fenster.«
Hope folgte ihrem Nicken und sah, dass die Gardine hinter dem Fenster neben der Fliegentür zur Veranda wackelte. Sie bekam eine Gänsehaut, während sie sich vorstellte, von drinnen beobachtet zu werden. Kurz darauf öffnete sich quietschend die innere Tür und die Fliegentür schwang nach außen. Eine Frau mittleren Alters trat auf die Veranda. Sie war groß und schlank und sah in dem schwarzen, mit roten Rosen bedruckten Kleid gut genug aus, dass einer der Jungs durch die Zähne pfiff. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, hatte sie die Vierzig bereits hinter sich. Ein harter Zug umspielte ihre Mundwinkel, ihre Augen wirkten klar, aber streng. Das blonde Haar fiel in leichten Locken über ihre Schultern und hatte einen dezenten grauen Schimmer.
»Das ist Mrs. Iversson, Kinder«, stellte Schwester O’Hara die Frau vor.
»Dann müssten Sie Schwester O’Hara vom New Yorker Waisenhaus sein«, stellte die Frau fest, überquerte die überdachte Veranda und stieg die drei Stufen zu der Ordensfrau herunter, um ihr die Hand zu geben. Dann drehte sie sich zu den versammelten Jugendlichen um. »Und ihr seid die Gören, die mal Landluft schnuppern wollen, ja?«
Mrs. Iverssons Stimme hatte diesen rauen Klang von zu vielen Zigaretten und einer Menge Alkohol und wollte nicht zu ihrem adretten Äußeren passen. Hope warf Lissy einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Selbst die Dumpfbacke Brady hielt für den Moment die Klappe.
»Das White House Inn ist mein Haus«, begann Mrs. Iversson ihre Ansprache. »Es steht auf meinem Grund und Boden. Die Regeln sind einfach.« Ihr Blick wanderte über die verschwitzte, müde Schar und blieb an Jason haften, der sich die letzte Zeit über unauffällig verhalten hatte. In einer Weise, dass Hope ihn fast vergessen hätte.
»Es gibt Dreierzimmer für die Jungs und ebenso für die Mädchen. Auf jeder Etage gibt es ein Badezimmer mit heißem und kaltem Wasser. Dort findet ihr auch die Toiletten«, erklärte die Iversson.
»Die Mädchen schlafen oben, die Jungs im Erdgeschoss. Wer sich mit wem ein Zimmer teilt, liegt ganz bei euch … Seid alt genug, um das selbst auf die Reihe zu bekommen«, ergänzte Schwester O’Hara. Die Frauen standen jetzt nebeneinander und Hope stellte fest, dass beide dieselben verkniffenen Fältchen um die Augen hatten.
»Zweihundert Meter die Straße runter gibt’s ’nen kleinen Laden, wenn ihr was braucht«, erklärte Mrs. Iversson.
Brady und Jamie stießen sich mit den Fäusten an und grinsten.
»Das ist das Stadtzentrum, dort spielt sich unser Leben ab. Es gibt das Hawkeye und das JD’s, wo man essen und trinken kann.« Mrs. Iversson nickte, als wären es lohnenswerte Ziele. »Und wir haben ein Kino. Es ist klein und hat ’nen schlechten Sound, aber es ist ’ne nette Abwechslung …«