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Dabei greift er zurück auf Nicolaus Cusanus’ (eigentlich Nikolaus v. Kues, 1401 -1464) Schrift De pace fidei10 (1453). Dieser beschreibt darin eine Art Konzil, das im Himmel um das göttliche Wort, also den Logos herum, stattfindet. Vor ihm versammeln sich die „bedeutsamsten Männer der Welt“11, um herauszufinden, wie die eine Wahrheit mit der Verschiedenheit der Religionen und Bräuchen in Zusammenhang gebracht werden könne. Sie hören dem Logos zu, der ihnen verständlich macht, dass die Wahrheit nur eine ist, sich aber aufgrund des freien Willens der Menschen in unterschiedlichen Bräuchen und Religionen ausdrückt. Die Verschiedenheit der Religionen sei aber auf den einen wahren Glauben zurückzuführen, so wie die Weisheit nur eine sei und einen Ursprung habe.
Das Interesse, aus dem Cusanus sich die Mühe macht, in der ihm eigenen dialektischen Art die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt theologisch zu erläutern, wird in der Forschung nicht einheitlich gesehen. Zum Teil wird die Ansicht vertreten, der Kardinal habe vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Spannungen im Mittelmeerraum aufzeigen wollen, dass der Friede gerade von den Religionen ausgehen müsse. Zum Teil wird ein religionstheologisches Anliegen bescheinigt, sodass De pace fidei als ausdrückliche Toleranzschrift erscheint12. In diesem Rahmen wird sie wiederum unterschiedlich gedeutet: Cusanus wird von einigen die Ansicht zugeschrieben, keine Religion könne die ganze Wahrheit besitzen, diese müsse gemeinschaftlich zusammengetragen werden13. Demgegenüber wird betont, die Weisheit als der Ursprung von allem bilde bereits die Einheit, diese müsse aus den Religionen heraus nur noch gesucht und gefunden werden. Da die Weisheit des Logos nicht verschieden von der einen philosophischen Weisheit sei, könne Cusanus die Zuversicht haben, dass alle zur wahren Religion kämen14.
Wie auch immer man die Beweggründe des Cusanus deutet: In dem diskutierten Werk geht es nicht darum, Religionen zu ersetzen oder auszutauschen. Sie können nebeneinander bestehen. Wohl aber muss erkundet werden, worin ihr wahrer Kern liegt. Dies geschieht aus dem Logos heraus. Dabei lässt der Kardinal keinen Zweifel daran, dass er monotheistischtrinitarisch und von daher in Bezug auf die Religionen christologisch und christozentrisch denkt15. Es wird deutlich, dass Cusanus von der Beziehung ausgeht, die sich vom Logos her mit den Anderen ergibt. Wenn der Dialog als Beziehungsgeschehen verstanden wird, kann sich aus De pace fidei in der Tat eine Anleitung zum Dialog ergeben.
Hören auf den Logos auf Erden
Das Hören auf den Logos dürfte sich allerdings in der irdischen Praxis weniger reibungslos gestalten als auf dem cusanischen Himmelskonzil. Was auf dem Hintergrund christlicher Theologie einleuchtet, erscheint in anderen Religionen und Weltanschauungen unmöglich, die den Logos als solchen nicht kennen oder anerkennen. Wenn Ratzinger im Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs aber trotzdem den Wunsch zu äußern wagt, dass man nicht nur dem Logos zuhören möge, sondern dies gemeinsam tun solle, also religionsübergreifend, sieht er offenbar hinter dem Horizont des christologischen Bekenntnisses zum Logos weitere Möglichkeiten, dass dieser eine Logos sich verständlich macht. Diese Möglichkeiten sind, christlich verstanden, nicht einfach da, sondern aktuieren sich im Dialog, den die Kirche (und mit ihr die Christenheit) mit der Welt von heute und dabei insbesondere den Religionen führt. Eine wertvolle Hilfestellung bietet dabei der Gedanke, dass die universale Vernunft, die als Logos bezeichnet werden kann, allgemeiner und universaler Anerkennung und Zustimmung fähig ist. Für das Christentum ist diese Vernunft nicht außerhalb der Person Jesu Christi zu denken. Die Frage, wie das Hören auf den Logos möglich sein kann, führt deshalb an einige Problemkreise heran. Wenn der Glaube an den Logos Jesus Christus nicht geteilt wird, so bietet es sich an, das Hören auf den Logos als Akt des Menschen zunächst unabhängig von diesem Glauben zu beschreiben. Man kann versuchen, Anregungen zu finden, wie eine Struktur aussehen kann, in der ein Hinhören auf den Logos möglich ist. Diese Struktur wird sich aus Sicht des Christentums nicht anders realisieren können als im Hinhören auf Jesus Christus. Außerhalb des Bekenntnisses zu Jesus Christus wird sie aus der Sicht anderer Religionen und aus der Sicht nichtreligiöser Weltanschauungen als verbindliches Hinhören angesehen werden, sofern sie auf einem soliden philosophischen Fundament steht. Diesen Fragen soll in der vorliegenden Studie nachgegangen werden.
Aufbau und Methode der vorliegenden Studie
Die Formulierung der Fragestellung gibt im Groben die Gliederung und den methodischen Gang der Überlegungen vor.
Im ersten Kapitel wird der Überlegung nachgegangen, wie menschliche Kommunikation und Dialog aussehen können, damit sich darin ein Drittes, der Logos, zu verstehen gibt. Das Arbeitsgebiet ist hierbei philosophisch. Es geht um Strukturen, die auch ohne die Rückbindung an ein religiöses Bekenntnis einsichtig gemacht werden können. Von der Theologie aus gesehen: Eine Theologie des Dialogs ist umso solider, je mehr sie sich von der Philosophie gleichsam als Magd bedienen und sich von ihr gedankliche Strukturen und Instrumentarien bereitstellen lässt, mit denen sie theologische Inhalte verständlich machen kann16. Als philosophischer Denkweg bietet sich zunächst die Phänomenologie an. Sie erscheint für theologische Fragestellungen nützlich: Seit ungefähr einem Jahrhundert hat sich eine Religionsphänomenologie etabliert, die versucht, Strukturen religiöser Phänomene aufzuzeigen und von daher Gemeinsamkeiten der Religionen festzustellen. Auf diesen religionsphänomenologischen Ansatz soll indes nicht ausführlich eingegangen werden. Das phänomenologische Interesse richtet sich im vorliegenden Rahmen vielmehr auf die Beziehungen zwischen Menschen ihrer zugrunde liegenden Struktur. Es ist darzulegen, wie das Subjekt zum Anderen gelangt und was auf diesem Weg in der Beziehung zwischen ihnen entstehen und sich ereignen kann. Dialog wird damit phänomenologisch sowohl als intersubjektives Geschehen erschlossen wie auch als Möglichkeit, wahrzunehmen, dass Transzendenz sich immanent zur Sprache bringt. Dabei erweist sich unter anderem ein Blick auf das Dialogische Denken als hilfreich, welches auf dem phänomenologischen Gedankengang aufbaut.
Im zweiten Kapitel wird zunächst der Frage nachgegangen, wie Transzendentes sich in die dialogische Disposition der Subjekte hineingeben kann. Die zuvor aufgezeigten philosophischen Strukturen erweisen sich als geeignet, sowohl in einem allgemein religionswissenschaftlich verstandenen Sinn Heiliges als auch den Logos Jesus Christus zu empfangen. Es wird darauf Wert zu legen sein, dass es dabei nicht um eine Projektion menschlichen Denkens geht, sondern um ein Rufen nach Gott aus der Mitte der Existenz heraus, auf welches das Heilige – Gott – der Logos Antwort gibt, indem er sich auf den Menschen in intersubjektiver Verfasstheit einlässt. Religionswissenschaftlich werden sich deshalb die phänomenologisch begründeten intersubjektiven Strukturen als tragfähig für eine Offenbarung transzendenter Wirklichkeit erweisen. Aus christlicher Sicht wird zu zeigen sein, dass sich die Offenbarung in Jesus Christus auch mit dem philosophischen Instrumentarium der Phänomenologie denken lässt. In diesem Rahmen kommt es darauf an, ob die Mitte christlicher Theologie auch die Mitte eines Dialogs sein kann und darin zur Sprache kommt, dass also Jesus Christus Ausdruck und Ereignis des Dialogs ist. Damit wird die Frage nach dem bestimmten Dialog spannend, in welchen jemand einbezogen ist, dem das Bekenntnis zu Jesus Christus fremd ist. Diese Frage ist die alles entscheidende, denn von ihr hängt ab, ob es einen Dialog der Religionen als gemeinsames Hören auf den Logos geben kann oder nicht. Es wird zu zeigen sein, dass das gemeinsame Hören auf den Logos auch dann möglich ist, wenn es nicht allerseits auf der Basis des ausdrücklichen Bekenntnisses zu Jesus Christus aufliegt. Umgekehrt ausgedrückt: Wer sich je auf einen wirklichen Dialog über die Wahrheit und das Heil einlässt, der kommt unweigerlich in Kontakt mit dem Logos. Innerhalb eines so gedachten dialogischen Beziehungssystems findet die kirchliche Verkündigung Jesu Christi als des ewigen Logos ihren Platz und erweist sich als dessen Mitte. Dabei wird ein Zusammenhang deutlich, der zwischen der eher vertikal zu denkenden Selbstmitteilung Gottes an den Menschen und der eher horizontal zu denkenden intersubjektiven Kommunikation besteht. Gott teilt sich mit und bringt sich in diesem Mitteilen zugleich zwischenmenschlich kommunikativ zur Sprache.
Im dritten Kapitel wird schließlich versucht, aus den philosophischen und theologischen Überlegungen ein Verständnis von Dialog zu entwickeln, das den Anforderungen der heutigen Pluralität der religiösen und nichtreligiösen Bekenntnisse und Nicht-Bekenntnisse gerecht wird. Die Überlegungen laufen auf eine Differenzierung zwischen zwei Herangehensweisen hinaus, die in einem Verständnis von Dialog möglich sind. Es kann einerseits darum gehen, dass die Gesprächspartner versuchen, sich im Dialog zu definieren, d. h. voneinander abzugrenzen oder sich gar in eine abgestufte Reihenfolge zu bringen. Neben diesem eher wettbewerblichen und deshalb als kompetitiv bezeichneten Verständnis wird ein relationales Verständnis vorgeschlagen. In diesem geht es darum herauszufinden, welche Beziehung zwischen den Dialogpartnern bestehen kann, wie sie aufeinander einwirken und voneinander lernen. Je weniger diese Frage von einer wettbewerblichen Sicht gekennzeichnet ist, desto geringer wird die Gefahr, die Wahrheit aufzugeben oder zu relativieren. Wenn auch beide Sichtweisen im Verhältnis zwischen den Religionen ihre Berechtigung haben – zumal das römische Lehramt beide Sichtweisen beleuchtet – so wird sich zeigen, dass innerhalb der Zielorientierung im Dialog ein relationales Verständnis weiter führen kann als ein kompetitives. Insbesondere im Bereich der Theologie der Religionen kann sich ein relationales Verständnis verdient machen, ebenso wie für die Herausforderungen, die sich für eine zahlenmäßig kleiner werdende Kirche im Kontext religiöser und weltanschaulicher Pluralität stellen.
Im Übrigen sind Methodologie und Auswahl des Stoffes persönlich geprägt. Im Lesen der zuvor zitieren Aussage Kardinal Ratzingers, der das Titelzitat entnommen ist, kam mir spontan die Frage, wie die Chancen aussehen, dass der geäußerte Wunsch sich erfüllt. Diese Frage stellte sich mir vor dem Hintergrund meiner eigenen missiologischen und theologischen Studien in Rom, die mich in den vergangenen Jahren mit Personen, Gedanken und Autoren in Verbindung brachten, die sich als hilfreich für die Fragestellung erweisen könnten. Vor diesem Hintergrund gestaltete sich der methodische Rahmen in der Weise, nicht eine vollständige Theologie des Dialogs zu erarbeiten, sondern Anregungen aufzuzeigen. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass es nicht darum geht, Gedankengänge eines Autors oder mehrerer Autoren in ihrer Vollständigkeit zu analysieren und zu valutieren, sondern diese aufzugreifen und Möglichkeiten zu suchen, sie für weiteres Nachdenken fruchtbar zu machen. Das hat dazu geführt, dass in dieser Studie zahlreiche Autoren zu Wort kommen und in eine Verbindung gebracht werden, die dazu anregen kann, die Grundlagen und Möglichkeiten des Dialogs, insbesondere des interreligiösen und interkulturellen, weiter zu vertiefen.
Jedes Kapitel beginnt mit einer skizzenhaften Darstellung des Hintergrundes, vor dem sich die dann folgenden Überlegungen verstehen und von dem sie angeregt werden. Damit ist nicht die vollständige Darstellung einer Wirklichkeit beabsichtigt, die ohnehin zu komplex erscheint. Es sollen vielmehr die Motivation der Gedankengänge anschaulich gemacht und der Einstieg aus der Zeit und dem Kontext heraus gefunden werden.
Bei all dem wird keine abgeschlossene Systematik einer Theologie des Dialogs versucht, vielmehr geht es um Anregungen, mögliche Wege des Dialogs weiter zu beschreiten.
1 „Der Dialog unterbricht die Gewalt“, schreibt W. STEGMAIER, Heimsuchung. Das Dialogische in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, in: FÜRST, G. (HG.), Dialog als Selbstvollzug der Kirche? Quaestiones disputatae 166, Freiburg – Basel – Wien 1996, 9-29, hier: 9.
2 Vgl. das Eröffnungsreferat von Bischof KARL LEHMANN bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vom 19. September 1994, Vom Dialog als Wahrheitsfindung in der Kirche heute. Zit. nach: SEKRETARIAT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (HG.), Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 17, Bonn 1994, 5: „‚Dialog’ ist auf neue Weise zum Signal für die Diagnose und Therapie in der heutigen Gesellschaft geworden. Überall wird in umfassender Weise der Dialog als Form des Umgangs miteinander und der Kommunikation gefordert. Dies gilt in besonderer Weise für die Kirche. Hier kann es […] programmatisch heißen: ‚Dialog statt Dialogverweigerung. Wie in der Kirche miteinander umgehen?’“
3 F. KÖNIG – J. DUPUIS, Unterwegs zu einem Dialog der Religionen, in: Stimmen der Zeit 226 (2008), 232-244, hier: 236.
4 Vgl. Lumen gentium 1.
5 Vgl. H. J. POTTMEYER, Dialog und Wahrheit. Wie die Kirche ihre Wahrheit findet und lebt, in: SCHAVAN, A. (HG.), Dialog statt Dialogverweigerung. Impulse für eine zukunftsfähige Kirche, Kevelaer 21995, 90–96, hier: 94.
6 Allerdings werden die Begriffe Diskurs und Dialog sehr häufig gerade im kirchlichen Sprachgebrauch synonym verwendet, was auch W. BEINERT, Wenn Mutter Kirche ihren Pass verliert. Oder: Ekklesiologie des Dialogs, in: ThPQ 146 (1998), 349-356, hier: 351, feststellt.
7 Vgl. W. LÖSER, Art. „Dialog“, in: W. BEINERT (HG.), Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg – Basel – Wien 1997, 83-86, hier: 84.
8 CASSIODOR, Expositio in Psalmum 95 (94), Vers 1, PL 70, 671.
9 J. RATZINGER, Der Dialog der Religionen und das jüdisch-christliche Verhältnis; Erstveröffentlichung: Internationale katholische Zeitschrift Communio 26 (1997), 419-429; zit. nach: J. RATZINGER, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Urfelder Reihe 1, Hagen 42005, 93–121, hier: 120-121.
10 NIKOLAUS VON KUES, Über den Frieden im Glauben – De pace fidei, zit. nach der Ausgabe L. MOHLER (HG.), Meiner Philosophische Bibliothek 223, Leipzig 1943.
11 Ebd., 96.
12 Zum Stand der Diskussion vgl. R. HAUBST (HG.), Der Friede unter den Religionen nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 13.-15. Oktober 1982, Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 16, Trier 1984, darin: J. STALLMACH, Einheit der Religion – Friede unter den Religionen. Zum Ziel der Gedankenführung im Dialog “Der Friede im Glauben”, 61-75, hier: 63.
13 So: W. DUPRÉ, Menschsein und Mensch als Wahrheit im Werden. Einige Bemerkungen zum Problem der Religion bei Nikolaus von Kues, in R. HAUBST (HG.), Der Friede unter den Religionen, 313-324, hier: 320.
14 Vgl. J. STALLMACH, Einheit der Religion, 72-73.
15 Vgl. W. A. EULER, Einheit der Religionen – Friede unter den Menschen. Begegnung mit nichtchristlichen Religionen bei Ramon Llull und Nikolaus von Kues, in: C. LOHR – E. COLOMER (HG.), Anstöße zu einem Dialog der Religionen. Thomas von Aquin – Ramon Llull – Nikolaus von Kues, Freiburg 1997, 71–91, hier: 85-86.
16 Die Philosophie ist nach PETRUS DAMIANI, De divina omnipotentia 5,621, die „ancilla theologiae“.
1. K A P I T E L
PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN — WAHRHEIT IM DIALOG
Vorbemerkung: Der Umbruch des Denkens als geistesgeschichtlicher Kontext
Wer sich daran macht zu untersuchen, wie auf philosophische Weise ein „Hinhören auf den Logos“ gehen kann, der wird sich zunächst darüber Gedanken machen, in welche Richtung die philosophische Betrachtung geht, d. h. wo das Denken seinen Ausgang nimmt und wohin es führen soll. Anders gefragt: Wer oder was ist der Agent, der Protagonist der Denkbewegung? Ist es der Denkende, der versucht, ein Gedachtes zu erreichen oder gar zu formen? Oder ist es das Gedachte oder zu Denkende, was nach dem Denkenden greift? Bei diesen Überlegungen mag man auf einen Begriff stoßen, mit dem eine geisteswissenschaftliche Strömung des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet wird: den „Umbruch des Denkens“1.
Der Begriff Umbruch lässt auf eine Entwicklung besonderer Art schließen. Mit ihm kann nicht nur beständiges Fortschreiten auf dem Weg durch die Zeit beschrieben sein, dass also das spätere auf dem früheren aufbaut, dessen Fehler aufzeigt, es weiter entwickelt und überwindet. Vielmehr liegt ein besonderer Akzent auf dem Bruch; die Abkehr vom Bisherigen ist radikal und dezidiert. Tatsächlich ist der Umbruch des Denkens verstanden worden als eine neue neuzeitliche Hinkehr zur Metaphysik2, aber nicht als neoscholastischer Pendelschlag zurück, sondern personalistisch gewendet und damit in Absetzung von allem bisher Dagewesenen3.
Eine prophetische These Hegels
Vorausgesehen mag diese Entwicklung bereits G. W. F. Hegel (1770 – 1831) haben, als er im Jahre 1802 schrieb, dass
„durch die Totalität der betrachteten Philosophien der Dogmatismus des Seins in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen worden ist und also der alte Dogmatismus und Reflexionsmetaphysik [sic!] durch diese ganze Revolution der Philosophie zunächst nur die Farbe des Innern oder der neuen und modischen Kultur angezogen“4 habe.
Mit diesem Urteil verbindet Hegel die Einschätzung, eine wahre Philosophie erstehe erst aus der Vernichtung der Absolutheit der herkömmlichen Philosophien5. Die Wortwahl des Autors deutet bereits den radikalen Umbruch des Denkens an, der etwas vernichtet: den Dogmatismus des Seins und denjenigen des Denkens.
Was Hegel „Dogmatismus des Seins“ nennt, hatte seit der Antike die Philosophie bestimmt und im Mittelalter seinen Höhepunkt erreicht. Alles, was ist, verdankt sich im letzten Grunde dem einen Sein, das allem seine Ordnung vorgibt und es in sein je eigenes Sein als Teilhabe entlässt. Ziel der philosophischen Erkenntnis ist die dadurch vorgegebene objektive Ordnung des Seins. Theologisch gewendet geht es darum, zur Erkenntnis der göttlichen Ordnung aufzusteigen, die hinter dem Kosmos steht und sich in ihm zeigt: die Metaphysik. In diesem Dogmatismus des Seins kommt dem Menschen zentrale Bedeutung zu. Er und mit ihm die Erde sollten der Mittelpunkt der ganzen von Gott her geordneten Welt sein. Was also im Mittelalter als Ordo-Gedanke zu universaler Bedeutung aufgestiegen war, nennt Hegel „Metaphysik der Objektivität“.
Mit den Begriffen „Dogmatismus des Denkens“ und „Metaphysik des Subjekts“ skizziert Hegel die Entwicklungen im Denken der Neuzeit. Unter dem Druck der Naturwissenschaften mit ihren neu erarbeiteten und erfundenen Forschungsmethoden und –instrumenten geriet die bisherige Sichtweise ins Wanken. Nicht mehr die Metaphysik, sondern die Astronomie erhob den Anspruch, die maßgebliche Erklärung für die Welt insgesamt und damit die Zielvorgabe des Denkens zu liefern. So hat G. Galilei (1564 – 1642) nicht nur die Hinwendung der Astronomie zum heliozentrischen Weltbild in unbestreitbarer Weise vollzogen, sondern zusätzlich den Anspruch der Mathematik, der Geometrie und damit der Naturwissenschaft generell reklamiert, der verbindliche Maßstab zur Beschreibung und Normierung jeglicher Ordnung der sichtbaren Welt überhaupt zu sein. Darin kommt der methodische Schritt der Reduktion zum Tragen: Von verschiedenen Hinsichten, unter denen derselbe Gegenstand betrachtet werden kann, wird eine als vorrangig angesehen; alle anderen treten ihr gegenüber zurück oder sinken gar in die Bedeutungslosigkeit. Mit der Reduktion der Wissensformen im Blick auf die Wirklichkeit der Welt auf die geometrischen Wissenschaften provozierte Galilei6 damit die Herauslösung der Geisteswissenschaft aus dem Bereich aller Fragestellungen, die die objektive Welt als solche betrafen.
Infolgedessen vollzog die Philosophie der Neuzeit die der Naturwissenschaft entgegengesetzte Richtung. Sie wandte sich von dem Anspruch ab, die Welt, die Dinge an sich objektiv sicher zu erkennen. Nachdem dies von den Naturwissenschaften übernommen worden war, rückte nun der Zweifel in den Blick des geisteswissenschaftlichen Zugangs und über diesen die Beschränkung auf das erkennende Subjekt selbst. Die Geisteswissenschaften – an prominenter Stelle R. Descartes (1596 – 1650)7 und I. Kant (1724 – 1804) – vollzogen also gegenläufig zu den Naturwissenschaften eine Entwicklung hin zum Menschen als bestimmendem Ausgangspunkt. Nicht mehr vom Sein her wird gedacht, sondern vom denkenden Menschen. Es erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt Erkennt-nis möglich ist. Die Kapazität des menschlichen Verstandes gibt radikal den Umfang möglicher Erkenntnis vor. Denken vom Sein her ist immer Denken des Subjekts. Nicht das Sein, nur das Denken ist sicher. Allein dieses lässt der methodische Zweifel Descartes’ übrig. Die Dinge an sich können im Denken nicht erreicht werden. Das metaphysische Grundanliegen der Philosophie war also in anderer Perspektive das gleiche geblieben: Wie bisher ging es darum, möglichst viel Wahres zu erkennen: Allerdings meinte man nun Wahres im Denken; das Wahre im Sein an sich wurde für unerreichbar erklärt. Metaphysik war fortan nur noch im Subjekt selbst, in seinem Denken und in seinen Sitten, zu finden.
Beide Denkrichtungen tragen nach Hegel also die Züge einer Totalität. Man darf ihm hier eine prophetische Gabe bescheinigen, denn genau dieser Begriff taucht 150 Jahre später wieder auf bei einem Philosophen, der sich damit gegen das Denken der Neuzeit stellt und der Sache nach die Vernichtung der Absolutheit proklamiert, die der deutsche Philosoph erhofft: E. Lévinas (1906 – 1995) wendet sich gegen ein Denken, das zum Ziel hat, seinen Gegenstand, die Wahrheit und letztlich Gott schlechthin zu erreichen und zu erfassen. Dies laufe nämlich darauf hinaus, dass das Ich im Denken sich des Gegenstandes seines Denkens bemächtigt und durch Begreifen vereinnahmt8, den Denkenden an das Gedachte bindet9 und damit eine Totalität herstellt, die Lévinas als „Krieg“ bezeichnet10 und mit der er dasjenige meint, was vom herkömmlichen philosophischen Denken als das Sein bezeichnet wird11. Lévinas formuliert seine Gedanken nicht zuletzt unter dem (Ein-)Druck der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, namentlich der Menschen verachtenden Kriege und Vernichtungen. Er fordert die Hinwendung zu einem Denken, das den Vorrang und die Zentralität des Menschen philosophisch ausdrücken und absichern kann. Subjekt und Objekt der Erkenntnis sollen getrennt voneinander bleiben; es ist ein Abstand zu wahren zwischen dem Selben und dem Anderen12. Beide sind nicht in ein System einzubinden. Dennoch besteht eine Beziehung, insofern das Andere immer wieder in den Horizont des Selben einbricht und sich Geltung verschafft. Die Bewegung im Denken kehrt sich bei Lévinas also um: Sie geht nicht mehr vom denkenden Subjekt aus hin auf den Gegenstand, sondern gestaltet sich als Empfangen von etwas, das sich zuwendet; aus dem Ergreifen wird ein Ergriffen-Sein.
Die Frage nach der Wahrheit, dem Logos und der Natur
Damit steht die Philosophie und stehen die Geisteswissenschaften schlechthin an einem Scheideweg, denn es drängt sich die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Denkens auf. Genauer gesagt: Kann noch mehr Wahrheit erreicht werden als diejenige, die geometrisch und astronomisch festzustellen ist?
Diese Frage hat sich auch in der Lyrik in folgendem Gedicht von Novalis (eig. F. L. Freiherr von Hardenberg, 1749 – 1832) artikuliert, in dem in eindrücklicher Weise für eine Neubekehrung des Denkens über die Naturwissenschaften hinaus hin zum Logos ein plädiert wird:
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die so singen, oder küssen,