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„Hier ist eine apodiktische Universalstruktur vorgezeichnet – in meinem ego, in jedem ego überhaupt –, eine egologische Intersubjektivität als in jedem ego in seiner eigenen Struktur vorgezeichnet.“140
Die apodiktische Struktur, die dem Ich vorgezeichnet, also von ihm verschieden und ihm unverfügbar gegeben ist, führt das Ich nicht nur zu seinem eigenen Geheimnis, zu dem also, was es nicht benennen kann, von dem her es nämlich ergriffen ist, sondern das Ich verweist gleichermaßen über sich selbst hinaus hin auf das andere Subjekt141. Es gibt eine egologische Intersubjektivität, die schon dem Ur-Ich eigen ist.
Die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, das eigene Leben des Ich, lässt den Anderen erkennen. Die Erkenntnis des Anderen entspringt dem Ur-Ich, in dem der Andere schon angelegt ist:
„Die Anderen sind in mir, in meinem in sich geschlossenen transzendentalen Leben in bestimmter Motivation erwachsene Geltungsgebilde, habituell mir eigener Erwerb, wieder identifizierbar, durch erneuerte Erfahrung synthetisch bewährbar. Und so sehe ich und sage ich: Sie sind in Wahrheit und gemäß dem in mir konstituierten Sinn ‚meinesgleichen’, mit ihrem transzendentalen Leben, das ich durch die Selbstvergegenwärtigungsart (in mir motivierter) Fremdappräsentation analogisch erfahre, in einer Art, die es mir ermöglicht, in meinem ausgebildeten Vermögen, dem Selbst des Anderen immer näher zu kommen, von ihm immer vollkommener Kenntnis und Erkenntnis zu gewinnen – immer in Form von Modis [sic!] der Selbstvergegenwärtigung.“142
Von hier aus erschließt sich die Bedeutung des anderen Menschen für das denkende Subjekt. Wenn der Denkende in den Akten des Bewusstseins die Welt im Wege der phänomenologischen Reduktionen gleichsam in sich hinein holt und in sich konstituiert, dann ist auch der Andere als Teil dieser Welt demselben Prozess der Erkenntnis unterworfen und hat damit für das Ich eine wechselseitig konstitutive Bedeutung. Die Subjekte stehen somit nicht bloß nebeneinander, sondern sind über die Intentionalität miteinander verbunden. Die jeweils eigene Intentionalität bezieht zum einen das Ich auf den Anderen, insofern dieser für das Ich erscheint. Darüber hinaus wird der Andere als Wahrnehmender wahrgenommen, dem die Wirklichkeit erscheint. Es konstituiert sich eine Intersubjektivität, deren Phänomenologie Husserl ausführliche Untersuchungen143 widmet. Wir wollen diese in dem für unseren Darstellungszusammenhang erforderlichen Rahmen kurz nachzeichnen144.
Das Erscheinen des Anderen als Teil des Welterscheinens
Zu der Welt, die im Bewusstsein konstituiert wird, gehört auch der andere Mensch145. Phänomenologisch wird er als Körper scheinbar mit Gegenständen gleich gestellt und als Ding angesehen146. Die von Husserl so genannte Apperzeption führt über die Wahrnehmung des Anderen als Körper hinaus. Die Apperzeption fügt dem sinnlich Wahrgenommenen hinzu, was für die Konstitution des Gegenstandes bedeutsam ist. So werden z. B. von einem Haus meist höchstens zwei Wände und Dachflächen wahrgenommen. Die ihm wesentlichen weiteren Bestandteile hingegen werden apperzipiert, also mit wahrgenommen – nicht in sinnlicher Weise, aber doch so, dass die die vollständige Konstitution als Haus im Bewusstsein möglich ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Menschen: Er wird wahrgenommen als Körper, zugleich aber wird mit ihm sowohl apperzipiert, was ihn zum Menschen, zum Leib-Körper macht, als auch alles andere, was ihn als Mensch im Bewusstsein erscheinen lässt.
Die Notwendigkeit des Anderen zur Konstitution objektiver Wirklichkeit
Der Andere tritt nicht nur als Gegenstand in der Welt auf, sondern als ein Bewusst-sein, das genauso intentional vorgeht wie das Ego. Diese Erkenntnis ist nicht metaphysisch vorgegeben, sondern aus der phänomenologischen Reduktion selbst hergeleitet. So vermeidet Husserl den Rückfall in metaphysische oder ontologische Denkstrukturen147. Ebenso grenzt er die phänomenologische Ebene von der psychologischen ab: Während man auf der psychologischen Ebene im Solipsismus endet, ist dieser auf der phänomenologischen transzendentalen Ebene überwunden148. Die Brücke zum Anderen ergibt sich aus der phänomenologischen Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis: Insofern das Ego sich transzendental reduziert, muss objektive Erkenntnis das Erscheinen der Welt für jedes beliebige (d. h. auch das andere) Ego sein. Objektive Erkenntnis setzt also eine Vielzahl von Egos voraus. Dies gilt unabhängig davon, ob das Ego als das konkret erlebende Subjekt alleine ist (etwa nach einer „universalen Pest“149) oder nicht. Husserl denkt also auch im Hinblick auf die Intersubjektivität konsequent und transzendental egologisch. Die phänomenologische und die transzendentale Reduktion, die Epoché all dessen, was angezweifelt werden kann, bewirken gleichsam einen Sog allen Wahrnehmens und Erkennens in das Innerste des erkennenden Subjekts – des Meditierenden, wie Husserl im Rahmen der Cartesianischen Meditationen sagt – hinein. Allein im Inneren wird alle Wirklichkeit konstituiert einschließlich des Anderen, und zwar als Nicht-Ich im Gegensatz zum Ich150. Der Leitfaden des transzendentalen Ego beinhaltet bereits alles, was zur Konstitution auch des Anderen notwendig ist, weil
„eine reduzierte Welt als immanente Transzendenz zur Ausweisung kommt. Es ist in der Ordnung der Konstitution einer ichfremden, einer meinem konkret-eigenen Ich äußeren […] Welt die an sich erste, die ‚primordiale’ Transzendenz (oder ‚Welt’), die unerachtet ihrer Idealität als synthetische Einheit eines unendlichen Systems meiner Potentialitäten noch ein Bestimmungsstück meines eigenen konkreten Seins als Ego ist.“151
Die Wahrnehmung des Anderen und dessen Reduzierung führen also dazu, dass dieser vom Ich in allen möglichen Varianten und durch sie hindurch wahrgenommen werden kann. Wie jedes real Erfahrene, wird auch der Andere zum Index einer Mannigfaltigkeit, die nie auszuschöpfen ist und die in ihrer Bandbreite nie in eigene originäre Wahrnehmungen übergehen kann152. Diese Mannigfaltigkeit realisiert sich immer wieder neu in Erfüllungszusammenhängen, die sich als „mögliche Erfahrungen“ durch verschiedene Motivationslagen darbieten153. Damit ist eine Offenheit des Ich für alles, was nicht Ich ist, bereits in ihm selbst als Potenzial angelegt und wird aktuell, sobald der Andere in das Gesichtsfeld der Erfahrung rückt.
Diese Mannigfaltigkeit leitet hin zu einem Verständnis des Fremden, das ihn zum einen vom Ich abgrenzt, zum anderen von großer Bedeutung für dessen eigenes Selbstverständnis ist. Dieser Zusammenhang ist im Anschluss an E. Husserl insbesondere von B. Waldenfels vertieft worden. Waldenfels hat aus den Wurzeln der Phänomenologie Husserls eine „Phänomenologie des Fremden“ entwickelt154. Dabei wird das Fremde nicht als ein Spezialthema behandelt, das von der mehr oder weniger sicheren eigenen Position aus beobachtet und behandelt wird, zu der man in ursprünglicher Vertrautheit wieder zurückkehrt und vielleicht neue oder tiefere Erkenntnisse gewonnen hat. Sondern das Fremde wird vielmehr als etwas gesehen, das sich unmittelbarer auf die eigene Erfahrung auswirkt, indem es eindringt, in Frage stellt, entfremdet und sich gerade im Entziehen als Fremdes zeigt.
Der Mensch stellt sich als Grenzwesen und das Fremde als „Grenzphänomen par excellence“155 dar, insofern es von andersher kommt. Es sprengt oder mindestens verwandelt eine etwa bestehende Ordnung, und das immer wieder. Dabei entstehen Ordnungen gerade durch Abgrenzung: Durch Definition wird festgelegt, was etwas ist und was nicht. An den Grenzen entsteht immer wieder Unruhe. Im Gegensatz dazu steht die Ordnung schlechthin, der grenzenlose Kosmos, der alle Ordnungen umfasst und sie auf welche Weise auch immer untereinander in Beziehung setzt („Beziehungsgefüge“156). Geltung verschafft sich dieser Kosmos in seiner Grenzenlosigkeit an einem Ort innerhalb des Ganzen, an dem er sich selbst enthüllt. Dieser Ort ist klassischerweise die Seele als – nach Aristoteles und dann Thomas von Aquin – „quodammodo omnia“157. Das Denken versucht, sich dieser Grenzenlosigkeit anzugleichen, schafft es aber nicht, da sich überall „Randfiguren“ finden, „die in ihrer Anomalität die Normalität verunsichern“158. Die Zeit, in der man davon ausging, es gebe einen Ort, von dem aus sich das Ganze entfalte, und zwar ohne Bruch, einen Ort also, der im vorgegebenen Ganzen entschwindet, sei mit der Moderne zu Ende gegangen. Subjektivität und Rationalität, so Waldenfels, lassen jede Ordnung als kontingent erscheinen159. Damit ist die Reduzierung des Selbst auf ein Selbiges hinfällig, weil allein in sich noch keine Grenzziehung möglich ist. Ein Selbst, ein „Eigenes entsteht, indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren“160. Fremdes charakterisiert sich also nicht durch die Vermittlung eines Dritten bzw. durch einen drittseitigen Standpunkt, der anhand von Kriterien die Unterscheidung trifft. Waldenfels führt als Beispiel Holz und Beton an. Diese sind verschieden, werden aber nicht als fremd betrachtet. Fremdheit kommt zur Verschiedenheit hinzu, aber in einer nicht dialektisch zu vermittelnden Diastase. Daher ist sorgfältig das Begriffspaar Fremd-Eigen von Selbem-Anderen zu unterscheiden. Auch eine radikale Besinnung auf das Selbst darf nicht die Unruhe ausblenden, die in dieser Selbstbesinnung präsent bleibt. So wie jede Ordnung „ihren blinden Fleck in der Gestalt eines Ungeordneten“ hat, so trägt auch jedes Eigene den Einfallspunkt eines Fremden in sich. In beiden Fällen ist dies kein Defizit161.
Die Erfahrung des Anderen als alter Ego und die Selbsttranszendenz des Ich
Damit zeigt sich, dass auch der Andere im Subjekt und seinen Potentialitäten bereits angelegt ist; der bereits erwähnte Zusammenhang von Systole und Diastole, der sich in der bereits skizzierten husserlschen Monadenlehre zeigt, erweist gerade im Bereich der Intersubjektivität, die Husserl als Teil der Konstitution der Welt versteht, den gesamten Umfang seiner Bedeutung.
Husserl spricht gar von „Paarung“162. Vom eigenen Ich aus, d. h. vom Standpunkt der Monade, die das Ich selbst ist, wird der Andere wahrgenommen als eine ebensolche Monade. Das bedeutet aber nicht, dass der Andere als Kopie des Ich selbst wahrgenommen wird. Die phänomenologische Epoché gestattet dies nicht, weil sie ja gerade die Eigenheiten des Ich, die es erlauben würden, es mit einem anderen Ich zu vergleichen, ausklammert. Vielmehr ist die Wahrnehmung des Anderen als alter Ego phänomenologisch geprägt durch appräsentierte Wahrnehmung. Die andere Monade konstituiert sich appräsentativ in der eigenen163. Das bedeutet: Zusammen mit dem, wie der Andere als Nicht-Ich, das zur Welt gehört, erscheint, erscheint gleichzeitig seine eigene Intentionalität, die mir entzogen ist und über die ich nicht verfügen kann und die daher nie ganz und erfüllend wahrgenommen werden kann164. „Wir finden bei genauer Analyse wesensmäßig dabei vorliegend ein intentionales Übergreifen“165 und damit eine Selbsttranszendenz des Ich auf das alter Ego hin. Hier erweist sich die volle intersubjektive Tragweite der oben bereits skizzierte husserlschen Monadenlehre in Abgrenzung zu derjenigen Leibniz’.
Die transzendentale Reduktion auf das primordiale Ich lässt also eine Monade hervortreten, die zum einen der anderen Monade bedarf und zum anderen sich selbst auf die andere Monade hin entwirft. Gleichzeitig aber überschreitet sie sich selbst und gibt sich in ein Unverfügbares und nie an sich vollständig Wahrnehmbares hinein. Dieser Gedanke kann in letzter Konsequenz nur auf der tiefsten intentionalen Schicht vollzogen werden, wo also nichts mehr, was das konkrete Ich ausmacht, in Betracht kommt. Auf dieser tiefsten intentionalen Struktur ist vom Ich das andere Ich notwendig mitgesetzt, „auch wenn alle fremde Leiblichkeit fortfiele und ich zum solus ipse würde.“166 Damit ist auf der anderen Seite mit größter Deutlichkeit festgestellt, dass das andere Ich nie an sich wahrgenommen wird, sondern immer nur appräsentiert, d. h. durch „Vergegenwärtigung hindurch erfolgende Mitsetzung einer Ichgegenwart, die nicht die meine ist“167, aber in meiner tiefen intentionalen Struktur bereits beschlossen liegt.
Indem Husserl die leibnizschen Monaden mit Fenstern versehen hat, hat er sie auf die Welt und insbesondere den Anderen hin geöffnet. Henry tut ähnliches und betrachtet den Punkt, an dem das Ich im Tiefsten auf Gott und damit auch den Nächsten hin offen ist, weil
„das Verhältnis zwischen den transzendentalen Sich [sic!] und dem absoluten Leben die religiöse Verbindung (religio) voraussetzt. Nicht so, als würde jedes von ihnen als Träger dieser Verbindung sein Verhältnis zum anderen erzeugen, sondern … weil es von dieser Verbindung her sein eigenes Sich besitzt sowie damit zugleich die Möglichkeit, sich auf den anderen zu beziehen.“168
In der Selbsterscheinung des Absoluten Lebens „in seiner ursprünglichen Ipseität […] entsteht und bildet sich in einer ursprünglich phänomenologischen Möglichkeit jede denkbare Gemeinschaft.“169
Aus diesem innersten Punkt heraus manifestiert sich – Henry spricht gar von „zeugen“170 – das Erscheinen des absoluten Lebens im Erscheinen von Welt. Gerade aus der Selbsterscheinung des absoluten Lebens in jedem einzelnen ergibt sich für ihn eine zwingende soziale Dimension, da „das in jeder Gemeinschaft Gemeinsame das Leben ist“171. Damit erhält das Ich, das als in letzter Instanz konstituierendes der Anonymität preisgegeben werden müsste172, seine Bestimmung im Zusammenspiel mit dem Anderen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist deswegen nicht irgendeine Möglichkeit, sondern sie ist konstitutiv für das Ich selbst. Mit anderen Worten: Ohne die Beziehung zum anderen wäre das Ich nicht so, wie es ist, und zwar in ontologischer Hinsicht, nicht nur moralisch oder charakterlich.
Der Ursprung des Ich aus der Extramundanität des Ur-Ich ist auch für den Anderen bedeutsam. Denn aus ihr folgt, dass auch der Andere nicht einfach nur äußerlich vom Ich unterschieden ist, sondern in seinem eigenen Ich-Sein anders ist als das Ich, dabei aber seinerseits eine Sichtweise auf mich hat173. Beides entspricht einander: Ich begegne einem Anderen und entdecke, dass er in seiner phänomenologisch reduzierten Subjektivität genau so wenig in der Welt vorkommt wie ich und sich genau so sehr an der Welt konstituiert wie ich. Er bleibt deshalb nicht der Andere überhaupt, sondern wird Mensch174. Am Anderen wird dem Ich die eigene Wirklichkeit vor Augen geführt.
„Haben wir fremde Subjekte hereingenommen in unsere subjektive Umwelt, so haben wir dadurch eo ipso uns hinein genommen in unsere Umwelt.“175
So wird in der Hineinnahme des Anderen die Struktur deutlich, die einen Dialog, ein Gespräch miteinander zu tragen vermag.
1.1.1.5Einwände gegen den phänomenologischen Zugang zur Intersubjektivität?
Die Phänomenologie und insbesondere der in ihr sich zeigende intersubjektive Ansatz verlangen danach, den Schritt der Epoché so zu vollziehen, dass die Strukturen des Bewusstseins freigelegt werden und dass nicht mehr inhaltliche Gegenstände den Blick auf diese verstellen. Dafür legen Husserl und auch Henry Zeugnis ab. Nicht alle Denkansätze der jüngsten Zeit gehen den Weg mit, die Epoché bis in diese letzte Konsequenz durchzuführen. Insbesondere im Bereich des Ego scheinen sie entweder nicht die Notwendigkeit zu sehen oder aber nicht den Schritt zu wagen, den Leib und die Psyche radikal auszuklammern. In der Tat ist dies ein operativer Schritt im Denken, der nicht nur außergewöhnliche Herausforderungen an ein theoretisches Abstraktionsvermögen stellt, sondern sich als gegenläufig erweist zu den Erkenntnissen und Postulaten moderner Psychologie, die das Ich in seiner physio-psychischen Verfasstheit mitnichten einzuklammern gestatten, sondern es vielmehr immer mehr in den Vordergrund rücken.
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