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Nichtsdestotrotz liegt der Kurt jetzt dort, und ich werde folgen. Bevor er ins Krankenhaus ging, fragte er meine Schwester, ob die Abmachung noch gelte; als hätte er geahnt, dass er sterben wird. In den letzten Jahren hatte uns das Glück verlassen. Kurt fühlte sich nicht mehr gut, zog sich zurück, besser: Er schränkte seinen Radius ein. Er las, zeichnete, schlief und ging spazieren. Auf Bänken sitzend hat er viele Leute kennengelernt. Zur Trauerfeier kamen junge Menschen aus dem Kiez, und sie haben mir Geschichten von ihm erzählt, die ich nicht kannte. Das war unendlich schön. Man braucht das. Es tröstet. Überhaupt, ich hab das alles ganz gut hingekriegt. Nach der Zeremonie lud ich alle zu mir nach Hause ein. Besser die Wohnung voll, als allein heimzukehren in die Leere. Es war richtig und wunderschön, mit unseren Freunden an ihn zu denken.
Ich bin so froh, dass er mir diesen Wink mit dem Grab gegeben hat. So weiß ich, dass er es gut hat, dass ich ihn nach Hause gebracht habe.
Und so ist Dresden doch noch so was wie Heimat für mich geworden.
Doris | 80
Ich hab mich noch nie vor etwas gefürchtet. Ich glaube, ich bin nicht fantasiebegabt genug.
Ich hab mich noch nie vor etwas gefürchtet, stell dir das mal vor. Ich glaube, ich bin nicht fantasiebegabt genug. Das hat sicherlich mit meiner behüteten Kindheit zu tun. Die ersten Jahre lebte ich bei meinen Großeltern. Sie wohnten auf dem Land. Das Tollste war, sie hatten einen Garten mit einer Schaukel. Im Nachhinein hab ich das Gefühl, täglich stundenlang geschaukelt zu haben. Es war wie eine Droge, würde man heute sagen. Beim Schwungholen schaute ich in den Himmel und stellte mir vor, ein Fahrrad würde herunterfallen. Das war damals mein sehnlichster Wunsch.
Es war Krieg, aber ich hab davon wenig mitbekommen, hatte keine Vorstellung davon. Ich sah keine Toten, ich erlebte kaum Bombenangriffe und wenn, dann gingen wir in den Keller. Und das war eher wie ein Abenteuer; mein Großvater erzählte mir dann Geschichten. Er konnte das wunderbar. Er war ein grundehrlicher Mensch und ist bis heute ein Vorbild für mich. Ältere Männer hab ich mein Leben lang mit ihm verglichen – sie mussten so ehrlich sein wie Opa.
Meine Großeltern haben mich vor allem beschützt. Sie waren streng, ja, das schon, aber sie haben mich geliebt. Heute glaube ich, sogar mehr als ihre eigene Tochter. Ich bin sicher, es hat meine Beziehung zu meiner Mutter irgendwie beeinflusst. Später habe ich mich immer für sie verantwortlich gefühlt, wollte, dass es ihr gut geht. Mit neun Jahren, also nach dem Krieg, zog ich wieder zu ihr in die Stadt. Da hab ich erst gemerkt, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Ich war sehr glücklich. Mein Vater kam aus der Gefangenschaft zurück und verließ uns bald wieder, zog zu einer anderen Frau. Meine Erinnerungen an ihn sind verblasst wie ein altes Foto. Meine Mutter litt ihr Leben lang unter der Trennung und hoffte, er käme eines Tages zu ihr zurück. Vielleicht gab ich mir deshalb große Mühe, eine gute Tochter zu sein.
Sie hatte keine Ahnung, wie Erziehung geht, also hat sie es gelassen. Ich war ein typisches Schlüsselkind mit allen Freiheiten. Für mich war das traumhaft. Als ich etwa vierzehn war, kam ich eines Tages nach Hause und ertappte meine Mutter knutschend mit einem Mann. Ich war entsetzt und schrie: „Schweinerei! Raus!“ Du, der gehorchte, der ging. Meine Mutter sagte keinen Mucks. Heute denke ich – wie schrecklich. Es war beides: Ich wollte meine Mutter nicht teilen, und ich wollte nicht, dass sie noch einmal jemand verletzt.
Zu der Zeit spielte noch was anderes eine Rolle. Ich fand alle sexuellen Andeutungen peinlich, ist ja typisch für das Alter. Einer Brieffreundin schrieb ich damals: „Die körperliche Liebe ist ekelhaft, und ich werde mich niemals auf so was einlassen!“ Sie hat mir später den Brief gezeigt. Tja, daran habe ich mich nicht halten können. Sex war und ist ’ne wunderbare Sache, nur ist der Weg zu gutem Sex nicht so einfach. Man muss sich die Männer erziehen, Geduld mit ihnen haben. Und mit sich selbst.
Aber zurück zu meiner Mutter. Sie hat nach dem Krieg als Verkäuferin gearbeitet. Es dauerte nicht lange, und sie wurde befördert. Heute würde man sagen Filialleiterin, damals HO – ach, was das hieß, hab ich vergessen. Sie war der festen Meinung Kind und Job sind vereinbar. Nie hätte sie ihn meinetwegen aufgegeben. Sie liebte ihre Arbeit und kam oft spät nach Hause. So sehr ich meine Freiheiten genoss, manchmal hätte ich sie schon gern abends bei mir gehabt. „Kind“, sagte sie dann, „wenn ich meine Arbeit nicht hätte, wäre ich todunglücklich. Und eine unglückliche Mutter macht auch ihr Kind nicht glücklich.“ Ja, so war das.
In den Kriegsjahren hatten meine Großeltern und sie all ihr Geld gespart. Dann kam die Entwertung, und alles war weg. Keiner hatte mehr was.
Umso enthusiastischer war die Stimmung im Land. Es war ein regelrechter Aufbruchsrausch, dem man sich kaum entziehen konnte. Alle haben mit angepackt, sich gegenseitig ermutigt und geholfen. Ein Land neu aufbauen, was für eine tolle Sache! Und ich war überall dabei, bei den Pionieren, in der FDJ, wollte was bewegen! In der Wirklichkeit bewegte sich immer weniger. Der Rausch war verflogen, der „Fortschritt“ schritt auf der Stelle.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich meinen ersten Freund – ohne Sex wohlgemerkt. Der redete immer davon, in den Westen zu gehen. Ich hab dann auch darüber nachgedacht und mit meiner Mutter gesprochen. Aber sie wollte absolut nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Heimat, ihre Eltern und vor allem ihre Arbeit zu verlassen. So vergaß ich es wieder.
Früher musste man schon in der 11. Klasse einen Berufswunsch angeben. Ich hatte Medizin, Pharmazie und Zahnmedizin auf der Liste. Die Schule regelte alles. Und so hatte ich mit dem Abi einen Studienplatz für Pharmazie in der Tasche. Es bedeutete Freiheit. Ich konnte ausziehen, in eine andere Stadt und weg von meiner Mutter. Ich wollte endlich was erleben, Jungs treffen, unabhängig sein. Ich erinnere mich: Ich stand nackt vor dem Spiegel und fragte mich, wann ES denn endlich passiert.
Und es passierte schneller als gedacht. Schon im ersten Semester flirtete ich mit Arthur. Er war im gleichen Studiengang. Der erste Sex mit ihm war nicht gerade überwältigend, er war Anfänger wie ich. Aber zur Schwangerschaft hat’s doch gereicht. Ich heiratete ihn, nicht unbedingt aus Liebe, sondern wegen des Kindes. Aber je länger ich mit ihm zusammen war, umso mehr verliebte ich mich. Er war sehr klug, witzig und er malte! Ich war fasziniert von seinen Bildern. Und ich mochte den Geruch der Farben in unserer Wohnung. Bei anderen roch es nach Essen, bei uns nach Farben. Intelligenz und Einfühlungsvermögen bei einem Mann haben mich immer angeturnt.
Jedenfalls kam unser Sohn zur Welt, und wir organisierten alles bestens. Jeder konnte sein Studium fortsetzen, das war in der DDR kein Problem, da man sofort einen Krippenplatz bekam, nach dem Motto „Das Volk muss funktionstüchtig bleiben“! Ich erinnere mich auch noch an den Spruch einer Erzieherin im Kindergarten: „So, wie wir heute spielen, werden wir morgen arbeiten“!
Von Aufbruch und guter Stimmung war zu der Zeit schon nichts mehr zu spüren. Das Leben erstarrte immer mehr. Deshalb erschuf man sich einen Parallelkosmos mit Familie und Freunden. Wir führten ein offenes Haus. Kommilitonen und Freunde gingen bei uns ein und aus. Arthur war der Mittelpunkt, der Planet, um den alle kreisten. Wir redeten über Politik, über das Weltgeschehen, über unsere Träume. Ich war stolz auf ihn, auf uns, auf unseren Sohn, auf mich. Es war eine wilde Zeit. Zu wild. Arthur hatte erste Abenteuer mit anderen Frauen. Er konnte einfach nicht widerstehen, wenn ihm eine zu Füßen lag. Ich tolerierte es – was blieb mir anderes übrig? Hätte ich mich getrennt, wäre ich allein gewesen ohne diesen Freundeskreis, denn sie wären alle bei Arthur geblieben. Und: Er war ein prima Vater! Zärtlich, hingebungsvoll, verantwortungsbewusst. Das wollte ich meinem Sohn nicht wegnehmen, ich wollte nicht, dass er ohne Vater aufwächst so wie ich. Hinzu kam, dass Arthur mir immer wieder sagte, dass ich seine Geliebte sei, die anderen dienten nur zur Körperpflege. Ja, da sitzt man ganz schön in der Falle. Ich hab ihn eben geliebt.
Und dann passierte es. Eine seiner Verehrerinnen blieb an ihm hängen und er an ihr. Damit konnte ich nicht umgehen. Ich weiß noch, wir saßen in der Küche. Er hielt meine Hand und sagte: „Ich hab mich in Ruth verliebt.“ Es war totenstill, und ich hörte einen tiefen Seufzer – es war mein eigener. Wie schon gesagt, ich fürchte mich nicht, mein Verstand lässt das nicht zu, und in schwierigen Situationen werde ich ganz rational. Ich ging ihm aus dem Weg, wir lebten nebeneinander her.
Plötzlich verschwand Ruth. Sie war in den Westen abgehauen, und er weinte sich bei mir aus. Wir schliefen wieder miteinander. Ich schöpfte neue Hoffnung. Alles schien gut. Eines Tages treffe ich einen Freund, und er erzählt mir im Vertrauen, dass Arthur seine Flucht in den Westen plane. Ich seh’ mich noch nach Hause rennen und auf Arthur losgehen. Ich hab ihm eine gelangt. Unser Dialog war kurz: „Ich weiß es!“ Er wurde rot. „Du willst abhaun!“ Pause. „Ja, ich will zu Ruth.“ – „Und was ist mit uns?“ Schweigen. „Wenn du uns nicht mitnimmst, verrate ich dich.“ Weißt du, dass er zu ihr wollte, konnte ich noch nachvollziehen, aber dass er uns zurücklassen wollte, das hat mich schwer getroffen. Und was das an Schikane seitens der Stasi für mich und unseren Sohn bedeutet hätte! Ich hab ihm das nie verziehen.
Die Stasi war schon immer in unserem Umfeld. Wir betrieben so was wie einen „linken Salon“, das war Grund genug. Ob unsere Wohnung damals verwanzt war, weiß ich bis heute nicht. Erst später habe ich aus meiner Akte entnommen, wer in unserem Kreis der Spitzel war. Diesem Menschen hatte ich das am wenigsten zugetraut. Durch die Flucht von Ruth gerieten wir noch mehr in den Fokus. Sie bewachten unser Haus nun rund um die Uhr. Im Hauseingang gegenüber stand immer ein Posten.
Vier Monate später war es dann so weit. Wir weihten unseren Sohn nicht ein, es war uns zu riskant. Er war fünfzehn und hatte seine erste Freundin. Dass er sich von ihr nicht verabschieden konnte, muss schrecklich für ihn gewesen sein. Am Tag der Flucht fuhren wir zuerst mit dem Auto nach Dresden. Dort stiegen wir in den Zug nach Berlin. Es klingt umständlich, aber wir mussten sichergehen, dass uns keiner folgte. In Berlin nahmen wir die S-Bahn raus aus der Stadt, wohin hab ich vergessen. Es war Winter und an dem Tag richtiges Schneegestöber, also ideales Wetter für so eine Aktion. Irgendwo erwartete uns ein Alliiertenfahrzeug, das einen doppelten Boden hatte. Wir legten uns quer zum Fahrerhaus zusammen mit noch zwei anderen Leuten hinein, und es kam eine Platte drüber. Vorher hatte jeder einen Kaugummi bekommen, um die Angst wegzukauen, so sagten sie. Die Fahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Immer, wenn das Auto stehen blieb, hielten wir die Luft an. Irgendwann rutschte mir der Kaugummi in den Hals. Normalerweise hustet du dann und gut ist. Das konnte ich aber nicht, da wir in dem Moment unmittelbar an der Grenze standen. Wir hörten den Fahrer mit den Grenzern scherzen. Ich hatte so eine Panik, wäre fast erstickt. Es war das Schlimmste an der ganzen Flucht. Ansonsten gab es keine Probleme. Das ist sicher auch ein Grund, warum die Flucht so teuer war – die Grenzer waren eingeweiht, und ein Fahrzeug der Alliierten wurde nicht kontrolliert, das hätte politische Schwierigkeiten gegeben. Nach der Grenze konnte ich endlich husten und das Ding ausspucken. Nie wieder hab ich einen Kaugummi angerührt! Wir wechselten noch zweimal das Fahrzeug, damit keiner mitbekam, dass die Amis da mit drinhingen. Und endlich rief einer der Fahrer: „Willkommen in der Freiheit!“ Wir stiegen aus, umarmten uns und begannen zu lachen. Wir konnten gar nicht mehr aufhören. Wenn ich daran denke, krieg ich noch heute ’ne Gänsehaut, schau dir das an.
Ja, so landete ich 1973 in Westberlin und bin hier hängen geblieben. In meiner Vorstellung hatte ich mich immer mehr im Norden gesehen – in Kiel oder Lübeck. Aber Berlin war einfach der Wahnsinn zu der Zeit, ich wollte nicht mehr weg. Am ersten Abend sind wir zusammen mit Arthur zum Savignyplatz in die WG von Ruth. Wir wurden wie Helden gefeiert, erlebten die totale Freiheit. Alles war so locker und fröhlich, man duzte sich. Es war einfach toll. Es erinnerte mich an das Gefühl wie damals in den Anfängen der DDR. Aufbruch: Es war wieder was möglich – eine neue Zeit, ein neues Leben.
Arthur und ich hatten verabredet, dass wir noch einige Zeit zusammenbleiben wollten, wegen unseres Sohnes. Aber er hielt sich nicht daran. Er zog mit Ruth sofort nach Westdeutschland.
Ich hätte mich nie getrennt. Glücklicherweise hat er mich verlassen. Aber ich wollte klare Verhältnisse, ohne Hintertür und hab bald die Scheidung eingereicht. Das war gut so, denn dadurch bin ich die geworden, die ich bin. Und ich mag mich so.
Jedenfalls – wir kamen zunächst bei Freunden von Ruth unter. In den Siebzigern war das noch ein Bonus: Die Exotin aus dem Osten. Du lernst schnell Leute kennen, und alle wollen dir helfen. Nachdem aller Kram, Aufnahmelager und Verhöre bei den Alliierten und so weiter erledigt waren, ging es sehr schnell. Ich hatte sofort eine Anstellung in einer Apotheke und dadurch auch sofort eine Wohnung, eine große Wohnung. Ich wurde zu vielen Partys eingeladen, und ich ließ keine aus. Ich sog dieses neue Leben auf wie ein Schwamm. Es war eine verrückte Zeit.
Leider war nicht alles toll. Mein Sohn hatte Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Er wollte lange Zeit zurück in den Osten. Die Schule war kein Problem, aber er fand keine Freunde. Und Arthur fehlte ihm. Ich hab mich mit allen Mitteln um ihn bemüht. Schon im ersten Jahr flogen wir nach Amerika, davon hatte er immer geträumt.
Zum Glück wohnten in unserem Haus sehr nette Leute. Wir waren eine tolle Hausgemeinschaft, halfen uns gegenseitig und feierten oft zusammen. Ich war beeindruckt, denn es hieß doch immer, im Westen gäbe es keinen Zusammenhalt. Meine Erfahrungen sind bis heute ganz anders.