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Der Abend verging durch Spiele und Tänze recht schnell und kurz vor Mitternacht gab es noch mal Kaffee und Kuchen. Als Überraschung trug meine Mutter ihre selbstgebackene Kirschtorte in den Saal, auf der sie ein Silberbrautpaar platziert hatte. Dieses rutschte just in dem Moment von der Torte und fiel auf den Fußboden. Von dem Bräutigam brach der Kopf ab. Sie war so entsetzt und brach in Tränen aus: „Der Kopf ist ab, das bringt Unglück!“
Weil meine Mutter so aufgelöst war, brachte ich diesen Vorfall nicht mit meiner Situation in Verbindung, sondern tat es ab als sinnlosen Aberglauben. Um halb vier Uhr früh lagen wir endlich im Bett, das heißt auf der Couch im Wohnzimmer, denn die Betten waren ja vergeben an unsere Gäste. Ich war zu müde, um zu grübeln und hatte nur noch den kommenden Ablauf im Kopf: Frühstück im Garten, Reste holen aus der Gaststätte, Sachen packen für den Urlaub, das Haus „urlaubsfertig“ machen … Bettina und Mario fuhren gleich von uns aus mit in den Urlaub. Jens hatte ich versprochen, eine SMS zu schreiben, wie die Feier abgelaufen war. Ich kam erst spät dazu, als alle im Bett waren. Holger schlief schon und ich schrieb im Wohnzimmer heimlich meine Zeilen. Die Vorstellung, nun lange von ihm nichts mehr zu hören und nicht zu wissen, wie es ihm geht, stimmte mich traurig und ängstlich. Der Gedanke, mich im Urlaub um meine Ehe zu bemühen, kam mir nicht. Denn es gab dafür nichts zu tun, ich musste mich nicht bemühen, für Holger war die Welt in Ordnung, er merkte nicht, was in mir vorging.
Die Urlaubstage vergingen schleppend und ich sehnte mich dem Ende entgegen. Am Montag würden Jens und ich miteinander telefonieren. Solange musste ich noch ausharren. Ich zählte die Stunden, und sorgte mich. Vor allem beschäftigte mich die Frage, was in der Zwischenzeit mit Sonja gelaufen war. Die Ungewissheit zermürbte mich. Mit Herzklopfen und Tränen begannen die ersten Minuten des Telefonats. Dann sagte Jens, dass er mich nicht belügen wollte und dass es mich sehr schmerzen würde. Ich hielt den Atem an, ich wusste, dass etwas im Zusammenhang mit Sonja kommen würde: „Als du verreist warst, habe ich mit Sonja einen Tag Urlaub verbracht. Ich hatte es ihr versprochen. Der Tag verlief harmonisch, bis zu dem Zeitpunkt, als das Thema auf dich kam. Sie sprach abfällig von dir und ich verteidigte dich instinktiv. Sie merkte dadurch, wie nahe wir uns immer noch sind.“
Ich merkte, wie ich innerlich zusammenrutschte. Warum tat er so etwas? Warum spielte er mit mir? Und warum war er andererseits so ehrlich und verheimlicht mir nichts? Ich war so verletzt, aber mir fehlte einfach der Stolz, diesen Menschen zur Hölle zu schicken. Ich sah nur wieder das Gute an ihm, schätzte seine Ehrlichkeit und Offenheit. Aber ich konnte es nicht begreifen. Das Datum seines „gemeinsamen Tages“ hat sich später so in mein Gehirn gebrannt und es war einer der allergrößten seelischen Schmerzen, die er mir je zugefügt hat. Trotzdem kam ich nicht von ihm los.
Zu all diesem Durcheinander kam etwas Neues, Erfreuliches hinzu. Tommi, unser Großer, hatte sich verliebt. Einerseits war ich froh für ihn, andererseits rollte etwas auf mich zu, was mich sprachlos und unbeholfen machte. Er offenbarte uns am Telefon, dass er seit zwei Wochen eine Freundin habe, eine ehemalige Kumpeline, die sich von ihrem Freund getrennt hatte und die er am Wochenende mitbringen würde. Dies kam so geballt und ganz anders, als ich es von meinem Sohn gewohnt war. Er stellte uns vor vollendete Tatsachen.
Aufgrund meiner eigenen Probleme dachte ich gar nicht groß darüber nach. Am Freitag war schönes Wetter und wir grillten zum Abendbrot. Alle waren ein wenig aufgeregt. Jana war ein unscheinbares blondes Mädchen von 21 Jahren. Beide blieben nicht lange, wollten noch ausgehen. Ab diesem Sonnabend hatte ich ab sofort drei Kinder. Das Gästezimmer im Keller wurde zu ihrer Behausung, Tommis Kinderzimmer diente als Abstell- und Kleiderkammer.
Nun war ich an den Wochenenden noch mehr gefordert, ein Partner des Kindes bleibt trotzdem die erste Zeit wie Besuch. Man kann sich nicht mehr so frei bewegen, gibt sich mehr Mühe bei den Mahlzeiten und so weiter. Aber ich improvisierte und keiner konnte meine Gedanken lesen, ich gab mir Mühe mit meiner Hausfrauenaufgabe.
Jens’ Abwesenheit ertrug ich nur schwer, obwohl wir uns ab und zu SMS schickten und er sogar anrufen konnte. Aber seine Zeilen waren nichtssagend, ich konnte nicht deuten, wie er fühlte. Dann begann die Woche, in der Jens Donnerstag wieder da sein sollte. An dem Tag würde ich aber Überstunden abfeiern und zu Hause sein, ich hoffte deshalb auf ein Telefonat mit ihm.
Als ich Montagmorgen kaum im Büro saß, rief mich meine Kollegin von zu Hause an und meldete sich krank. Sie würde sich schon seit Längerem nicht wohl fühlen. Ich empfahl ihr, sich Zeit zu nehmen und sich auszukurieren, auch wenn ich dadurch die nächsten Tage mehr zu tun hätte.
Donnerstag klingelte bei mir zu Hause das Telefon, mein Chef war dran: „Es ist was ganz Schreckliches passiert! Unsere Kollegin, Frau Brummer, hat sich das Leben genommen. Sie wurde in der Nähe unserer Dienststelle in einer Gartenanlage gefunden. Die Kripo war grad hier.“
Ich konnte das gar nicht glauben, wir hatten doch alles ganz ruhig besprochen. Mein Chef weinte, war völlig fassungslos. Die Polizei hatte ihm gesagt, dass sie bereits am Montagabend mit dem Zug in Richtung Arbeit gefahren wäre. Dann hätte sie sich mit über 100 Tabletten vergiftet, die sie vermutlich über lange Zeit gesammelt hatte. – Nach diesem Gespräch stürzte ich mich wie wild in die Arbeit. Ich wollte nicht darüber nachgrübeln und doch stürzten die Gedanken auf mich ein. „Gerade hat sie sich so gut eingearbeitet. Warum hat sie sich, verdammt noch mal, nicht helfen lassen? Wir haben doch so oft über ihre Depressionen gesprochen?“ – Da klingelte wieder das Telefon. Jens wollte mich trösten. Es riefen an diesem Tag noch mehrere an und ich schaffte nicht, was ich mir vorgenommen hatte und es blieb vieles liegen.
Am nächsten Tag hatte sich mein Chef wieder gefangen und tröstete mich damit, dass er mir eine Nachbesetzung vorschlug: Sonja war die Auserwählte. Schlimmer konnte es nicht kommen! Später erklärte mir die Personalchefin, dass diese Variante allen helfen würde, denn da, wo Sonja jetzt sei, gäbe es nur Knatsch. Bei mir könne sie beweisen, was sie wirklich drauf habe.
Roberto und Karin wollten am Wochenende mit uns Essen gehen. Die Freundschaft zu beiden bestand noch nicht lange. Roberto hatte sowohl mit Holger als auch mit mir schon viele Jahre geschäftlich zu tun, seine Frau kannten wir erst eineinhalb Jahre. Da sie nicht sehr kontaktfreudig war, wurden Holger und ich regelmäßig angewiesen, sie anzurufen und ihr weiszumachen, der jeweilige Besuch wäre unsere Idee gewesen und auf alle Fälle nicht die von Roberto. Nur so konnte man sie „rumkriegen“, Einladungen anzunehmen. Wir spielten ihm zuliebe mit, aber dieser Affentanz ging uns auch gegen den Strich. Doch wir waren zu feige, ihm dies ins Gesicht zu sagen.
In der Gaststätte war viel Betrieb und alles dauerte ewig. Ich hatte wieder meinen Kloß im Hals und obwohl ich nur Gemüse bestellte, war es mir zu viel. Nach dem Essen machten wir mit Robertos neuem Auto eine Rundreise. Doch meine Gedanken waren schon beim nächsten Tag. Die Tasche musste ich noch packen. Oh je, Holgers Silberhochzeitsgeschenk, die teure Lederreisetasche, sollte eingeweiht werden. Da legte er großen Wert drauf. „Ich fahre mit dem Geschenk meines Mannes zum Liebhaber“, dachte ich und es war mir so gruselig und ekelhaft. Bloß gut, dass keiner Gedanken lesen kann! In der Nacht war ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Holger fing um fünf an zu arbeiten, Benni fuhr kurz nach sechs in die Schule, kurz danach wollte Jens da sein. Theoretisch dürften sie sich nicht begegnen. Jens wollte ich noch einen Cappuccino machen, ein paar Minuten Zeit würden wir ja haben.
Als mein Kleiner sein Fahrrad aus der Garage holte, fuhr Jens gerade auf den Hof. Es war dunkel, ich sah es nicht, hörte nur, wie sie sich begrüßten, dann klingelte Jens. Wir standen uns wie Fremde gegenüber. Ich bat ihn ins Wohnzimmer und brachte ihm Cappuccino und etwas Kuchen. Da sah er mich ganz traurig an und sagte: „Martina, ich weiß nicht, ob du mit mir zum Lehrgang fahren willst, wenn du jetzt hörst, was ich dir zu sagen habe. Fahren müssen wir sicherlich, sonst bekommen wir Ärger mit unseren Vorgesetzten. Aber du musst dort mit mir nicht schlafen, ich bringe dich auch heute Abend nach Hause und hole dich morgen früh wieder ab.“ Entsetzt antwortete ich: „Was soll der Quatsch? Was ist los mit dir? Ich verstehe nur Bahnhof.“
Dann erzählte er mir schluchzend, dass er eine schlimme Auseinandersetzung mit Sonja zum Feierabend hatte. Sie habe ihn zur Rede gestellt wegen des Lehrgangs, sei dann hysterisch geworden, habe ihn fürchterlich angeschrien, was auch andere gehört hätten. Schließlich sei sie wie ohnmächtig zusammengebrochen. Daraufhin hatte er ihr versprochen, sich für sie zu entscheiden. Nun liege es an mir, ob dieser Lehrgang unser „Abschied“ würde oder ob ich gleich sagte, er solle verschwinden.
Erst dachte ich, er mache einen Witz. Aber dafür war unsere Situation viel zu ernst. Ich war hilflos. Wie sollten nun die beiden Tag ablaufen? Gedanklich spielte ich durch, was ich Holger sagen würde, wenn ich abends wieder vor der Tür stand: „Hallo, ich hab es mir anders überlegt, will doch lieber zu Hause sein über Nacht?“, oder: „Ich wollte dich betrügen zum Lehrgang, aber der andere Mann will mich nicht mehr?“ Ich konnte auf gar keinen Fall nach Hause. Ich würde mich abends in meinem Zimmer verkriechen und mir die Augen ausheulen … Ich konnte nicht zu Ende denken. Ich musste mich aber schnell entscheiden. Jens hatte Angst vor meiner Reaktion. Ich schaffte es jedoch nicht, ihn zu verstoßen oder abzuschütteln. Ich sah in diesem Moment nur, dass wir uns so sehr auf diese Tage gefreut hatten und nun alles umsonst gewesen war. Würden wir jemals wieder die Gelegenheit haben, uns so nah sein zu dürfen? Mir ging der Film „Die Dornenvögel“ durch den Kopf. Auch eine aussichtslose und verbotene Liebe. Sie wussten, dass ihre Liebe keine Zukunft haben durfte und hielten sich daran. Nur ganz begrenzt ließen sie ihren Gefühlen ihren Lauf. An diesem Vergleich hielt ich mich jetzt fest und sagte: „Jens, lass es unser Abschied sein, auch wenn wir das ‚Danach‘ noch schmerzlicher empfinden werden.“
Nach diesen Worten war alles auf einmal wieder so vertraut und harmonisch, als ob es nie Streit gegeben hätte und wir mussten los, damit wir nicht zu spät kamen.
Vor Lehrgangsbeginn wurden uns die Zimmer zugewiesen. Beide waren wir auf einer Etage, aber jeder an einer anderen Ecke. In der Mittagspause wurden wir gefragt, ob wir Lust hätten, abends gemeinsam etwas zu unternehmen. Ich antwortete gar nicht und überließ es Jens. Er lehnte dankend ab. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wollte Jens für mich alleine haben, ganz alleine, ohne Angst, dass jemand kommt oder uns die Zeit wegläuft. Wir standen auf dem Hof und schauten uns an. Ich sagte: „Dann werde ich mal meine Tasche in mein Zimmer bringen, und mit Holger muss ich auch noch telefonieren.“
Aber wir kamen nur bis in Jens’ Zimmer. Dies war der Moment des unkontrollierten Alleinseins, auf den wir so sehnsüchtig gewartet hatten. Wir mussten uns nicht verstecken oder auf die Uhr schauen. Aber es war alles so neu und anders. Dennoch war es vertraut, als ob jeder den anderen schon jahrelang vom Kopf bis in die Zehenspitze kannte. Wir überlegten, ob wir essen fahren oder es ausfallen ließen und entschieden uns, auch dieses gemeinsame Erlebnis genießen zu wollen. Es würde das erste und letzte Mal sein. Doch ich bekam wieder keinen Bissen runter. Mir ging die Zukunft durch den Kopf, dieser Abschied kam mir vor wie zu sterben. Uns liefen die Tränen, vor den anderen Gästen, mitten in diesem Raum.
Dann gingen wir in mein Zimmer. Kaum fiel die Tür hinter uns ins Schloss, klebten wir aneinander. So verbrachten wir die nächsten Stunden. Wir waren so vertraut, keiner wollte den anderen loslassen. Die ganze Aufregung und Erschöpfung der letzten Tage machte sich nun bemerkbar und wir schliefen schnell ein. – Gegen Mitternacht sah ich, dass mein Handy leuchtete. Ich hatte es lautlos gestellt und vergessen zu aktivieren. Mit Holger hatte ich gesprochen und mich bis zum nächsten Tag verabschiedet, also hätte er nicht anrufen müssen. Aber er war es. Mein Herz schlug bis in den Hals, ich wollte nicht rangehen. Er versuchte es immer wieder und ich wurde immer aufgeregter. „Er steht bestimmt vor der Tür, er weiß alles, er sucht mich“, jammerte ich. Jens forderte mich auf: „Geh ran, er ist zu Hause, wo soll er dich denn suchen?“
Da nahm ich das Gespräch an. Er war so wütend, fragte, wo ich sei. Ich sagte, ich hätte schon geschlafen und vergessen das Handy laut zu stellen. Er glaubte mir nicht, billigte es aber schließlich. Ich fragte, was denn los wäre. Meine Eltern würden später aus dem Urlaub kommen, weil das Flugzeug defekt sei. Er sagte noch, dass er Angst um mich gehabt habe und ich ihm das nie mehr antun sollte, er wäre zu mir gekommen, wenn er gewusst hätte, wo ich wäre. Aber er kenne ja die Adresse nicht. Warum eigentlich nicht? Ich konnte ihm nichts darauf erwidern und wünschte ihm gute Nacht. Er polterte: „Soll das ein Hohn sein? Ich konnte bisher nicht schlafen und werde auch jetzt vor Aufregung kein Auge zumachen. Danke, was du mir angetan hast.“
Ich war so niedergeschlagen und hatte große Schuldgefühle. Dann piepte Jens’ Handy. Es war eine SMS von Sonja:
„Hallo Jens! Warum meldest du dich nicht wie versprochen?“
Jens meinte, er hätte für diesen, unseren Tag ihr nichts versprochen. Wahrscheinlich machte sie ähnliche Qualen durch wie Holger, nur mit dem Unterschied, dass Holger ahnungslos war. Da es unser Abschied war, nahm ich mir vor, mit Holger ins Reine zu kommen. Ich würde es schaffen, nur wie, wusste ich nicht.
Die Lehrgangsstunden quälten sich dahin, ich konnte und wollte nicht zuhören. Als das Seminar endlich zu Ende war, fuhren wir gedrückt nach Hause. Ohne viel zu reden verkroch ich mich gleich hinter der Hausarbeit. Holger machte mir keine Vorwürfe mehr und es war gut, dass die Kinder da waren und ich unangenehmen Gesprächen entging. Beim Abendessen zwang ich mich, ein paar Bissen runterzukriegen und kämpfte gegen die Tränen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Den Abend verkürzte ich mit der Begründung, dass ich müde sei. Es war ja auch so, Schlaf hatte es so gut wie keinen gegeben, die Ereignisse hatten sich überschlagen, ich fühlte mich wie ausgelaugt. Ich war froh, allein im Bett zu liegen und weinte mich in den Schlaf.
Am Montag war die Nacht wie immer um vier zu Ende, ich fühlte mich immer noch zerschlagen und abgespannt. Ich wusste, dass Jens später als sonst kommen würde, weil Sonja ihn zu einer Aussprache aufgefordert hatte. Es hätte mir egal sein sollen, ich hatte schließlich vorige Woche den „Abschied“ angekündigt. Aber es tat doch weh, dass er auf zwei Hochzeiten tanzte. Obwohl ich dies ja mittlerweile selbst tat. Als er endlich zum Guten-Morgen-Wunsch erschien, sah er gequält aus. Er sagte, dass Sonja ihm sehr böse sei, weil er trotzdem den Lehrgang besucht hatte. Er habe ihr versprechen müssen, die Finger von mir zu lassen. „Warum steht er hier wie ein kleiner Junge? Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Warum greife ich nach jedem Strohhalm? Warum ertrage ich diese Demütigungen? Ich kann doch sonst so gut in meinem Leben alles ordnen und einen Rundumschlag machen, damit es weitergeht! Warum nicht jetzt und hier?“
Am nächsten Tag rief Jens mich an, ob ich nicht mal zu ihm kommen könne, also zwei Türen weiter. Sonja wolle mit mir reden wegen der Arbeitsstelle. Widerwillig betrat ich das Büro. Bei dem Gespräch war Sonja aufgeregt, wie ich sie noch nie erlebt hatte, ihr Hals war rot angelaufen. Jens saß hilflos da wie ein begossener Pudel. Er ließ sie reden. Sie gab mir zu verstehen, dass aufgrund der Beziehung zwischen ihr und Jens es nicht gut wäre, wenn ich ihre Chefin würde. Zu meiner Beruhigung ließ sie mich wissen, dass sie die Stelle ablehnen würde. Selbstverständlich mit einer anderen Begründung. Sie erklärte mir, dass sie zu Jens gehöre und er ließ es geschehen. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, für wen er welche Gefühle hege? Aber ich hörte nur zu und wollte aus diesem verdammten Zimmer wieder raus. Dieser feige Kerl, lässt sich einlullen und ich gehe daran kaputt. Ich verließ deprimiert und wütend sein Zimmer. Danach gingen wir uns mehrere Tage aus dem Weg.
Nun beschäftigte mich unsere neue Struktur. Wir mussten uns entscheiden, ob wir die Arbeitsstelle wechseln wollten und in welchen Ort. Von den Arbeitsaufgaben her war es klar, dass Jens und ich die gleiche Stelle angeben mussten. Darüber hatten wir schon oft gesprochen. Aber es war uns auch klar, dass es, wenn wir weiter Büro an Büro sitzen würden und verstritten wären, nicht gut gehen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich für den näheren Arbeitsort zu entscheiden. Meine Familie wusste das schon lange, ich hätte keine Begründung gefunden, es auf einmal nicht mehr zu tun. Aber Jens’ Arbeitsweg würde länger werden. Er fragte mich um Rat. Wir diskutierten lange und auch sehr vernünftig. Unsere jetzige Arbeit machte uns beiden Spaß. Wenn wir den Antrag nicht abgaben, müssten wir vielleicht Arbeiten erledigen, die uns nicht lagen. Sonja würde sicherlich nicht zwangsversetzt werden. Wir redeten über alle Eventualitäten, bis wir letztendlich für die fachliche Entscheidungsfindung unseren früheren Chef fragten, der die Strukturänderung betreute. Er gab uns den Rat: „Das Personal geht mit seinen Aufgaben. Was gibt es groß zu überlegen, folgen Sie Ihren Aufgaben, wenn Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht.“
Daraufhin gaben wir beide unseren Wunschort ab und würden wahrscheinlich weiterhin eng zusammensitzen. In diesem Moment fühlte ich mich mit Jens wieder verbunden, freute mich, ihn vielleicht doch nicht verlieren zu müssen, obwohl noch nicht die letzte Entscheidung gefallen war. Es ging vorerst nur um Anträge, die konkreten Personalentscheidungen dauerten noch mindesten ein halbes Jahr.
So wie wir zum Lehrgang unseren Abschied und Abstand besiegelt hatten, kam es natürlich nicht. Wir redeten und gingen sehr einfühlsam miteinander um. Körperliche Nähe gab es allerdings nicht mehr, wie vereinbart. Aber jeder versuchte, mit dem belanglosesten Grund den anderen in ein Gespräch zu verwickeln, um in seiner Nähe sein zu können. Es war trotzdem zermürbend und ich fühlte mich immer noch wie auf dem Pulverfass.
Zu Hause zog ich mich noch mehr zurück, aber Holger merkte es immer noch nicht. Ich konnte nicht mehr schlafen und mein Herz raste ständig. Als Holger an einer Konstruktion für das neue Küchenradio bastelte, krochen wieder Schuldgefühle in mir hoch. Er bemühte sich mit allem so sehr und ich war mit Geist und Seele völlig woanders. Er tat mir leid. Aber Stunden später konnte ich das Mitleid schon wieder abschütteln. Holger lag auf der Couch und hatte in der Zeit, in der ich Kuchen gebacken und die Bügelwäsche erledigt hatte, eine ganze Flasche Kräuterlikör geleert. Er hielt sich nicht für einen Trinker, hatte strenge Prinzipien: Null-Promille beim Autofahren und auch an den Wochentagen keinen Tropfen Alkohol. Aber wenn die Zeit es zuließ, war eine Flasche Schnaps ziemlich schnell leer. Das hasste ich wie die Pest. Es war ihm nicht möglich, gemeinsam mal ein Glas Wein zu trinken. Aber mittlerweile war ich froh, dass es so lief. Ich konnte zu ihm Abstand halten und fand für mich eine Entschuldigung, dass ich Jens nicht aus meinem Herzen bekam.
Es standen viele Termine an, zu denen ich „Friede, Freude, Eierkuchen“ spielen musste. So fuhren wir mit Roberto und Karin zum ABBA-Konzert. Es fand in einer Mehrzweckhalle statt, 40 Kilometer entfernt. Obwohl ich die Musik mochte und die Sänger es gut nachahmten, empfand ich diese Stunden als Qual. Viele Titel brachte ich mit früheren Zeiten in Erinnerung und die Tränen kullerten. Ich war todmüde, hatte schlecht geschlafen, dazu die harten Stühle, die vielen Menschen und die Musik, die ich als viel zu laut empfand, das alles vermieste mir den Abend. Diese Nacht war nun noch kürzer als sonst, ich versuchte, das Erlebnis aus meinem Gedächtnis schnell zu streichen.
Zu Hause spielte sich immer mehr Routine ein. Die Woche über gingen wir uns aus dem Weg und versteckten uns hinter Erschöpftheit von der Arbeit und an den Wochenenden hatten wir „Besuch“, denn regelmäßig kam mein Großer dann mit seiner Freundin zu uns. Ich „bediente“ und versorgte die Familie und für alle war es selbstverständlich, dass es so ablief. Einerseits freute ich mich für ihn, dass er nicht mehr alleine war. Andererseits fiel es mir schwer, jedes Wochenende zu „funktionieren“. Jana hatte ihre Eltern zwar ganz in unserer Nähe, aber dort war es angeblich nicht möglich, länger zu bleiben. Also konzentrierten sich die Mahlzeiten, die Übernachtung, die Wäsche und so was auf uns. Sicher war ich nicht ganz unschuldig daran, dass meinen Kindern das „Hotel Mama“ so gut gefiel, aber diese Verpflichtungen wurden mir allmählich zur Last, weil sie eben so regelmäßig und selbstverständlich geworden waren. Ich lebte ihnen eine perfekte Familie vor und alle waren glücklich, aber es gab keine Freiräume mehr, alles musste jedes Wochenende durchorganisiert sein, weil man ja die Woche über auch keine Zeit hatte, sich um Haus und Hof zu kümmern. Die Wochenenden bestanden aus kochen, waschen, sauber machen, Gartenarbeit und dann schnell noch irgendeine Fete oder ein Tanzabend mit Freunden, obwohl man eigentlich total fertig war. Nach außen sah es ganz wunderbar aus, wie wir das alles so auf die Reihe bekamen, aber ich fühlte mich ausgebrannt. Holger gab es selten zu, obwohl er seine Kinder noch mehr bediente als ich. Ich rutschte immer mehr in die Zwickmühle. Wenn meine Ehe tatsächlich nicht mehr zu retten war, wie sollte ich das meinen Kindern erklären? Sie sahen doch gar keine Schattenseiten! Im Moment kam mir das zwar zugute, ich versteckte mich hinter der Arbeit, aber andererseits wurde der Abstand zu Holger immer größer. Doch ich war viel zu sehr mit meiner verzweifelten Lage beschäftigt, als darüber nachdenken zu können. Ich ließ es einfach geschehen.
Sonja war nun krankgeschrieben und Jens wirkte irgendwie lockerer und offener. Ich wusste, dass er fast täglich mit ihr telefonierte und auch, wann er das tat. Jedes Mal schnürte es mir die Kehle zu, bis es vorbei war. Wir nutzten aber natürlich ihre Abwesenheit, um uns wieder zu nähern. Wir organisierten ein paar Überstunden, um für uns allein sein zu können. Wir genossen die Zweisamkeit und jeder offenbarte dem anderen, dass seine über Wochen unerfüllte Sehnsucht nun endlich gestillt würde. Das waren die Augenblicke, in denen ich Schuldgefühle, Eifersucht, Angst vor der Zukunft einfach vergessen konnte. Es war wie ein „Auftanken“ für die nächsten Katastrophen, die ja vorhersehbar waren. Ich nahm das Risiko in Kauf erwischt zu werden und erhielt dafür Augenblicke der Zweisamkeit und das Gefühl, dass jemand mich auffängt aus einem scheinbar unlösbaren Zustand.
Wir freuten uns auf die bevorstehende Weihnachtsfeier, nicht wegen der Kollegen, sondern weil wir uns entfernen wollten, um eine Stunde zusammen zu sein. Wir wussten, dass wir in dieser Zeit nur im Auto sitzen konnten, denn draußen war es bitterkalt. Die Feier begann mit Bowling und ich versuchte lustig zu sein, wie man mich halt kannte, hatte aber ständig Jens im Blick. Beide warteten wir nur darauf, dass es endlich vorbei war. Beim Abendessen saßen wir uns schräg gegenüber, die Zeit verging einfach nicht. Einige Kollegen tranken, weil sie nicht mit dem Auto da waren, und es wurde lustiger und lauter. Jens war der erste, der bezahlte. Nun musste ich eine viertel Stunde warten, so war es vereinbart. Ob jemand was ahnte und wir uns nur einbildeten, unentdeckt ein „Verhältnis“ zu haben, überlegte ich nicht, es war mir derzeit alles egal. Als ich draußen war, rief ich ihn an, damit er mir den Weg beschrieb, wo ich hinkommen sollte.
Dann saßen wir endlich in seinem Auto. Er musste den Motor laufen lassen, denn es war bitterkalt. Im Radio liefen die herrlichsten Liebeslieder, traurig und schön. Uns kamen automatisch Tränen. Diese Stunde, die wir für uns allein hatten, verging viel zu schnell. Wir benahmen uns wie unerfahrene Teenager und jeder hatte Angst, etwas falsch zu machen. Wir wussten nicht, wie es mit uns weiter gehen würde, waren aber so froh darüber, den anderen bei sich zu haben. Dieses Mal lag nicht nur ein einsames Wochenende vor uns, wir würden uns auch am Montag nicht sehen können, denn ich musste zu einer Schulung. Wir besprachen, wie und wann wir miteinander telefonieren könnten. Es fiel mir dann so schwer, nach Hause zu fahren und ich weinte bis fast vor die Haustür. Holger lag schon im Bett und ich war froh, dass er mich nur im Dunkeln zu sehen bekam. Er fragte, ob alle solange wie ich da gewesen wären, denn es wäre schon mächtig spät. Ich war so selten alleine weg und immer machte er mir Vorwürfe, wenn es später wurde, obwohl ich weit vor Mitternacht zu Hause war. Für mich begann eine weitere Nacht voller Grübeleien.