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Im Dezember standen auch Familienfeiern an. Erst war mein Kleiner dran, er wurde 17, dann kam der runde Geburtstag meines Vaters, der 70. Ich hatte dafür eine kleine Show organisiert. Ein Ehepaar, das auf lustige Art die Sängerin Andrea Berg nachstellte. Da Holger bei diesen Titeln besonders gern tanzte, tat ich ihm immer öfter den Gefallen und tanzte mit ihm. Holger hatte schon seit längerer Zeit den Hang zur Volksmusik entdeckt. Er drehte dann immer die Lautstärke auf und freute sich, wenn mir das auf den Wecker fiel. Aber dann hörte ich Andrea Berg und später auch Helene Fischer und fand, dass sie besser sangen. Sogar mein Kleiner tanzte gern dazu. Aber auch „Schwarze Rose“, den Sänger kannte ich nicht einmal, fand mein Kind ganz toll und ich konnte mit ihm zu diesem Titel besonders gut tanzen. Holger war froh, dass ich auch mal einen deutschen Titel gut fand. Deshalb wurde „Schwarze Rose“ fast zum Familien-Klassiker. Zum Geburtstag war nun das „Andrea-Berg-Double“ bestellt als Geburtstagsgeschenk, weil mir absolut nichts Besseres eingefallen war. Ich hatte bei der Musik mit den Tränen zu kämpfen, weil mich mittlerweile die Textinhalte immer mehr berührten und ich das raushörte, was für mich zutraf. Alle meine Gedanken waren nur bei Jens und ich sorgte mich, wie das alles einmal enden würde.
Am Vorabend des Heiligabends wollte ich Jens anrufen. Ich grübelte, wie ich es wohl hinkriegen könnte. Dann erledigte es sich fast von ganz allein. Wider Erwarten war Holger müde und ging schon um acht zu Bett. Die Kinder schauten Fernsehen und ich verzog mich in den Keller an den Computer mit der Begründung, Bilder zu sortieren. Gegen neun Uhr kam der heiß ersehnte Anruf zustande. Es war laut im Hintergrund, Jens feierte in einer Kneipe. Die Situation war angespannt, wir wussten uns nicht viel zu sagen. Nach einer Weile erklärte Jens, dass sein Essen kalt werden würde. Damit fand das Gespräch ein jähes Ende. Ich war enttäuscht und fühlte mich ausgebrannt. Nun hieß es, die nächsten Tage zu überstehen.
Heiligabend feiern wir gewöhnlich mit den Eltern und Schwiegereltern. So auch dieses Jahr. Meine Schwiegermutter war nun das zweite Mal nicht mehr dabei, aber sonst verlief alles genauso wie bisher. Erst gab es Abendessen, dann kam der Weihnachtsmann. Die Kinder bekamen dieses Mal „Kultur“ geschenkt, genau zu meinem Geburtstag fand ein Musical statt. Mein Geburtstag fiel mit Ostern zusammen und Bettina und Mario wollten kommen und mit uns auch zu der Show fahren. Also hatte ich insgesamt sieben Karten besorgt. Damit stand auch schon der nächste Termin des trauten Familienglücks fest, mein Drang, für „das Wohl der Familie zu funktionieren“, zwang mich, still zu sein und mir nichts anmerken zu lassen.
Am ersten Feiertag war es mittlerweile zum Ritus geworden, mittags in gleicher Runde in immer derselben asiatischen Gaststätte zu essen. Wenn der Gaststättenbesuch beendet war, fanden auch die Weihnachtsverpflichtungen meist ein Ende. Die Kinder beschäftigten sich mit sich selbst oder mit Freunden und wir gingen zum Weihnachtstanz mit unserem Freunden oder sie kamen auf Besuch. So war es auch dieses Jahr. Weil immer Trubel um uns rum herrschte, vermisste keiner die Zweisamkeit, das kam mir dieses Jahr zugute.
Auf unserer Tanzveranstaltung war auch deutsche Musik zu hören. Als „Schwarze Rose“ kam, wollte Holger mit mir tanzen. Er wusste, dass es mir gefiel. Anfänglich konzentrierte ich mich auf den Rhythmus, erst später wurde mir der Text bewusst. Den Interpreten kannte ich sowieso nicht und es war schwierig den Text zu verstehen. Es klang so ähnlich wie:
Schwarze Rose,
der Wunsch, dich zu berühren,
an dich mich zu verlieren,
das wär’ für mich nicht gut.
Schwarze Rose,
dein Duft ist so begehrlich,
doch Dornen sind gefährlich
und trotzdem tun sie gut.
Früher interessierten mich die Texte kaum, seit es Jens gab, war alles anders. Ich interpretierte es so, wie es für mich zum jeweiligen Zeitpunkt am besten zutraf. Bei diesem Lied war ich hin und her gerissen. Holger tanzte es zwar gern, aber der Inhalt traf auf Jens und mich so zu, dass man es besser nicht hätte sagen können. Gerade dieser Titel war das perfekteste Tanzlied, das ich jemals vermochte zu tanzen. Ich musste mich beim Tanzen so zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Nach den Feiertagen kehrte zu Hause wieder der Alltag ein. Ich verkroch mich und versteckte mich in der Arbeit. Außerdem ging ich jetzt regelmäßig zum Schwimmen, jeden Sonntagnachmittag, da waren die wenigsten Leute im Bad. Ich spornte mich an und schwamm immer mehr Bahnen, bis ich bei 50 angelangt war. Mehr war in einer Stunde nicht zu schaffen. Ich setzte mir verbissen dieses Ziel und strengte mich an. Es machte mich zufrieden, wenn ich es schaffte, als würde ich einem innerlichen Erfolgswahn unterliegen.
Holger kam zwar mit, klemmte aber meistens am Beckenrand und wenn Roland mit war, quatschen sie miteinander. Aber Roland verlor bald die Lust, da kam Marion ohne ihn mit, später gingen wir nur noch alleine schwimmen.
Jens’ Urlaub war vorbei, wir gingen wieder sehr vorsichtig und liebevoll miteinander um. Nach der Arbeit hatte ich einen Frisörtermin und auf dem Nachhauseweg hielt ich auf einem Parkplatz an, um mit ihm zu telefonieren. Dieses Mal würde es nicht auffallen, wenn ich etwas später zu Hause war, denn Wartezeiten beim Frisör kann man nicht vorhersagen. Jens saß in seinem Wohnzimmer, Petra war zum Sport. Er erklärte mir, dass er gerade seine Versicherungsunterlagen bereinige. Ich verstand nicht. „Martina, begreifst du nicht? Ich schließe mein bisheriges Leben ab. Ich werde übermorgen zu Sonja fahren und ihr sagen, dass Schluss ist. Morgen habe ich leider keine Zeit dafür. Ich kann so nicht weitermachen. Ich sehe, wie du daran kaputt gehst, das ertrage ich nicht länger. Ich liebe dich, das muss ich mir endlich eingestehen. Du hast von mir eine Entscheidung verlangt und ich habe mich jetzt entschieden. Wir kommen nicht mehr voneinander los. Wie es hier zu Hause weitergeht, weiß ich noch nicht. Jetzt muss ich erst mal die eine Sache bereinigen, dann kommt der nächste Schritt.“
Ich war sprachlos. Mit solch einer Entscheidung hatte ich nie gerechnet und schon gar nicht so aus heiterem Himmel. Jens sprach das erste Mal die Worte „ICH LIEBE DICH“ aus, niemand hatte das vorher gewagt. Alles war mit einem Schlag anders. Ich konnte es noch nicht richtig glauben, es war ja ein ewiges Auf und Ab mit unseren Entscheidungen. Ich konnte mich auch nicht freuen, es würden ja nun neue Probleme auf uns zukommen. Ich rechnete ihm allerdings hoch an, dass er den Mut gefasst hatte, sich zu entscheiden. Alles was ich ihm bisher an den Kopf geknallt hatte, seine Feigheit, sein Umworben-sein-wollen, war nun hinfällig. Ob er es wirklich durchziehen würde? Skeptisch sagte ich: „Jens, du wirst wieder umkippen. Sonja wird deine Entscheidung nicht akzeptieren und du wirst nachgeben.“ Jens seine Enttäuschung war nicht zu überhören: „Nein, Martina, ich dachte, du kennst mich mittlerweile. Ich brauche sehr lange für eine Entscheidung, das ist richtig. Aber wenn ich sie getroffen habe, gibt es kein Zurück mehr. Schade, dass du mir so wenig zutraust. Seit Monaten beschäftige ich mich mit unserer Zukunft. Ich wollte deine Ehe nicht zerstören, habe gehofft, du kriegst das wieder hin, indem ich mich von dir abwende. Aber wir haben es beide nicht geschafft, einander loszulassen.“
Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es gelang mir nicht. Zu Hause wurde ich noch nicht vermisst und so ließ ich mir Zeit. Ich zweifelte immer noch an Jens’ Worten. Ich sehnte mich nach dem nächsten Tag und hatte noch tausend Fragen im Kopf, die ich ihm stellen wollte.
Dann war es so weit, Jens und ich sprachen das erste Mal über unsere Zukunft. Was würde morgen bei Sonja passieren? Kratzte sie ihm die Augen aus? Würde sie es Petra petzen? Wahrscheinlich nicht, dann könnte ihre eigene Ehe auch Schaden nehmen. Und wenn Sonja wieder Arbeiten kommt? Wie ging es mit uns weiter? Jeder hatte eine Nacht Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Folgende Vereinbarung kam nun zustande: Wir würden es langsam angehen. Auf Arbeit gaben wir uns nicht zu erkennen und auch zu Hause noch nicht. Jens führte als Grund dafür seine Tochter an. Sie beendete im Sommer ihre Lehre, er wolle sie bis dahin nicht belasten. Bei mir gab es gleich mehrere Gründe, die Trennung von Holger hinauszuzögern. Auch mein Kleiner sollte das Schuljahr erst beenden. Holger wurde dieses Jahr 50. Die Feierlichkeiten waren schon organisiert, er sollte noch einen schönen Geburtstag haben. Auch war eine Mallorca-Reise mit unseren Freunden schon lange gebucht. Genau zu seinem Geburtstag würden wir kurz vor Mitternacht wieder landen.
Ein weiterer Termin stand bereits fest: Anett und Bernd wollten ihre Silberhochzeit feiern. Sie hatten mich gebeten, mich um alles kümmern. Ich wollte sie nicht hängenlassen. Bis dahin waren es reichlich vier Monate und bis zum Ende der Schuljahre unserer Kinder noch sechs. Das bedeutete, wir gaben unserer Beziehung noch ein halbes Jahr Zeit bis zum nächsten Schritt!
Über diesen Zeitaufschub war ich froh. Obwohl es auch noch andere Termine gab, die ich aber ignorierte. Roberto wollte mit uns im Juni verreisen, auch das war schon gebucht. Den Sommerurlaub im September hatte Bettina festgemacht, nach Griechenland, das erste Mal ohne Kinder. Alle diese Planungen hatte ich einfach über mich ergehen lassen. Ob und wie diese Termine durchgeführt wurden, war mir nun egal. Für mich zählten der Geburtstag, die Silberhochzeit und das Ende der elften Klasse. Alles andere würde sich ergeben. So verdrängte ich erst einmal das Ganze.
Aber die Grübelei wurde stärker, jetzt wurde es ernst, was meine Ehe anging. Nun war ich am Zuge. Aber wie? Ich sah Holger vor mir und wusste, dass er ohne mich nicht zurechtkommen würde, ich hatte keinen Überblick über die finanziellen Auswirkungen und was mit meinen Kindern wird. Aber ich wusste eins: Wenn ich ihn verlasse, soll es ihm wenigstens wirtschaftlich gut gehen. Für mich würde es einfacher sein, bei Null wieder anzufangen, der Verzicht auf Wohlstand wäre das Mindeste, was ich für ihn tun konnte.
Dann stand das Treffen von Jens und Sonja auf der Tagesordnung. Ob danach wieder alles anders kam …? Als er zurück war, schien er erleichtert, aber auch erschöpft. Er sagte, dass es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, aber sie habe ihm nicht die Augen ausgekratzt. Sie tat mir wieder etwas leid, aber ich war stolz auf Jens, dass er es durchgezogen hatte. Er hatte es für uns getan. Er liebte mich anscheinend wirklich. Mittlerweile wurde mir immer mehr bewusst, dass Jens nicht mehr umkippen würde. Ich konnte es noch gar nicht glauben.
Jetzt hatte ich Jens für mich. Nachdem ich die vergangenen Monate um ihn gekämpft hatte, war ich nun Sieger. War es das, was ich gewollt hatte? Hatte ich jetzt mein Ziel erreicht und würde feststellen, dass es gar keine Liebe gewesen war, sondern es nur ein Besitzdrang? Ich fürchtete mich vor der Antwort, die ich in diesem Moment noch nicht kannte. Doch in den nächsten Wochen würde ich spüren, ob die Sehnsucht und die Glücksgefühle blieben oder ob auf einmal alles anders wurde. Es war alles noch zu frisch und überwältigend, um darüber nachdenken zu können.
Es begann eine neue Phase meiner Untreue. Jens besorgte mir ein zusätzliches Handy, welches ich im Haus versteckte. Ich wurde unvorsichtiger, fühlte mich mit dieser Art der Verbindung sicherer. Auf einmal gab es Pläne, es war noch unfairer, dem Partner gegenüber so scheinheilig zu tun. Aber ich wusste keine andere Möglichkeit. Bevor ich mir nicht sicher war, welche Vorschläge ich Holger unterbreiten konnte, wollte ich weiter schauspielern. Das fiel mir ungeheuer schwer, weil es für mich so untypisch war und gegen meine Prinzipien verstieß. So begann also mein „professionelles Fremdgehen“. Plötzlich gingen Jens und ich ganz anders miteinander um. Wir fühlten uns freier, wurden auch unvorsichtiger und nutzten jede Möglichkeit, uns zu treffen.
Jens wollte am kommenden Wochenende zum Geburtstag seiner Tante fahren, zur Familienfeier. Sie wohnte im gleichen Ort und sogar im selben Viertel wie meine Freundin Martina. Als ich es ihr erzählte, fragte sie, ob Jens nicht bei ihr vorbeikommen könne, denn sie habe noch ein Buch für mich. Sie war also neugierig auf Jens? Martina war die einzige Eingeweihte, sie wusste alles von mir. Jens erzählte ich von diesem Gespräch und er war von dieser Idee sofort begeistert. Natürlich wollte er Martina kennenlernen, es wäre kein Problem, sich bei der Feier kurz abzumelden. Ich merkte, dass er schon eine Bindung zu Martina aufgebaut hatte, obwohl er sie noch gar nicht kannte, dass sie sich zu unserer gemeinsamen Bezugsperson entwickelte in diesem Drama. Also vermittelte ich beiden diesen Samstagnachmittagtermin und war glücklich über das bevorstehende Ereignis. Jens fieberte dem Samstag entgegen und ich wartete zu Hause auf eine SMS von ihm. Er schrieb mir, dass es ein angenehmes Gespräch gewesen sei. Ich war überglücklich. Auch Martina erzählte mir beim nächsten Telefonat, dass sie einen guten Eindruck von Jens erhalten hätte und dass ich ihm sehr wichtig sei. Nun war sie noch mehr involviert und es fiel ihr auch nicht leicht damit, weil sie Holger ebenfalls mochte.
Zu Hause wurde es kühler. Holger ahnte wohl, dass etwas nicht stimmte. Am Wochenende, als alle im Wohnzimmer saßen, verkroch ich mich abends ins Schlafzimmer und sortierte die Sachen im Schrank. Holger suchte mich auf und fragte mich, was mit mir los wäre. Ich wich ihm aus, er wurde wütend, schmiss mich aufs Bett und schrie mich an, dass ich mich gefälligst ändern solle, da sonst etwas passiere. Er wollte wissen: „Oder hast du einen anderen? Sag es mir!“
Das war doch die Chance, endlich die Lügerei zu beenden. Mein Herz raste. In meinem Gehirn war alles durcheinander. Was würde geschehen, wenn ich es jetzt zugab? Seine Wut würde ihn unberechenbar machen. Die Kinder waren zu Hause, nein, ich konnte es nicht eskalieren lassen. In dem Zustand, in dem Holger sich jetzt befand, würde er womöglich alles zusammenschlagen. Ich hörte die Warnung meines Vaters, dass Holger das Haus zusammenschieben würde, wenn ich einen anderen hätte. Also versuchte ich zu schlichten und verneinte seine Vermutung, ich versprach, mein Verhalten zu ändern. Er ließ mich los und ging die Treppe runter. An diesem Wochenende bemühte ich mich sehr um Harmonie, damit er sich beruhigte. Die Kinder hatten Gott sei Dank nichts mitbekommen.
Meine Gefühle zu Jens veränderten sich trotz der neuen Situation nicht. Es war wohl doch Liebe und nicht nur Besitzdrang. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich ohne ihn nicht sein konnte. Am Sonntag hatte Jens Geburtstag, Montag wollten wir „nachfeiern“. Mit einem Überstundenschwindel vertuschte ich zu Hause mein Zusammensein mit Jens. Meine Aktivitäten wurden immer gewagter und gefährlicher und ich wurde Holger gegenüber immer gleichgültiger. Ich kam mir zwar schäbig vor, konnte es aber noch nicht lassen.
Auf der Arbeit wurde eine erneute Bewerbungsrunde ausgelöst, die erste war wohl nicht rechtmäßig gewesen. Damals hatten wir uns ja beide für den Wechsel des Arbeitsortes entschieden. Jetzt sah es anders aus. Einerseits stand nun fest, dass mein Arbeitsgebiet an der alten Stelle bleiben würde, anderseits waren Jens und ich nun ein Paar und wir überlegten, ob wir auf der neuen Arbeit weiterhin eng zusammenarbeiten wollten und ob dies dann gut gehen würde. Die Entscheidung erleichterte uns wieder unser ehemaliger Chef, der das Konzept der Strukturänderung erarbeitet hatte. Er riet mir, nicht zu wechseln und lieber den langen Arbeitsweg in Kauf zu nehmen, denn hier hätte ich Perspektive. Jens dagegen sollte wechseln, seine Stelle würde hier gestrichen. Zu Hause musste ich nur die Begründung meines Chefs wiedergeben, auch wenn es Holger nicht passte, dass ich weiter so lange fahren sollte. Jens würde nun an einem anderen Arbeitsort sein. Das war aus derzeitiger Sicht die beste Lösung. Wenn wir getrennt arbeiteten, nahm vielleicht das Getratsche ein Ende.
Im Garten begann die Saison. Beim Saubermachen der Rabatten und Beete überkam mich Wehmut, weil es das letzte Mal sein könnte, das eigene Grün zu genießen. Aber ich hatte mir vorgenommen, Holger bestens zu unterstützen, und sicher würde mein Kleiner nicht mit mir wegziehen, denn hier hatte er sein vertrautes Umfeld. Ich wollte allen am Wochenende den Haushalt und die Wäsche machen, es sollte ihnen weiterhin gut gehen. Der Große brachte ja auch noch seine Wäsche. Ob Holger diese Hilfe annahm? Hoffentlich, sonst würden mich Schuldgefühle quälen. Es war so grotesk, ich organisierte in meinem Kopf die Abläufe für die ganze Familie, so wie es immer war in meinem Leben, und bildete mir ein, dass alle meine Vorschläge akzeptieren würden. Ob das so gut gehen und ob Jens es überhaupt mitmachen würde?
Den finanziellen Überblick hatte ich mir nun auch verschafft und für Holger alles aufbereitet. Das Ergebnis beruhigte mich etwas, es sah nicht so aus, als ob ich Holger in den Ruin stürzen würde, dann hätte ich auch bestimmt nicht den Mut und die Kraft für eine Trennung gefunden.
Jens hatte mich mit der Wohnungssuche beauftragt und ich war vorangekommen. Es gab bezahlbare Häuser zur Miete, aber auch schöne kleine Wohnungen. Ich suchte einiges aus und wollte die nächsten Schritte Jens überlassen. Er sollte entscheiden, wo er einen Termin vereinbaren wollte.
Ich hatte sogar einen Abschiedsbrief für Holger vorbereitet. Ich fürchtete den Tag der Wahrheit und auch, dass er mir keine Gelegenheit geben würde, ihm zu sagen, warum ich mich trennte und dass es nicht seine Schuld sei, dass ich ihn verließ. Weil ich befürchtete, etwas zu vergessen, schrieb ich alles auf, perfekt durchdacht, das war eigentlich ziemlich schlimm, aber ich hatte keine bessere Idee. Ich schrieb:
„Lieber Holger, es tut mir leid, was ich dir antue und was du ertragen musst, dich trifft keine Schuld. Unsere gemeinsamen Jahre bereue ich nicht und hätte auch nie geglaubt, dass mir so etwas passieren kann. Ich habe mich lange gegen die Gefühle gewehrt, der Andere ist nicht besser als du. Du hast nichts falsch gemacht. Aber die Gefühle und die Liebe zu dem anderen Mann sind so stark, dass ich bereit bin, alles aufzugeben, auch auf die Gefahr hin, verachtet oder verstoßen zu werden. Mir ist bewusst, dass ich mit diesem Schritt allen großes Leid zufüge. Deshalb habe ich so lange gezögert, dir die Wahrheit zu sagen. Lieber Holger, ich wünsche mir, dass du mir irgendwann einmal verzeihen kannst und eine Frau findest, mit der du glücklicher wirst als mit mir. Damit es für dich etwas erträglicher ist, sollst du das Haus behalten. Ich möchte dich so gut es geht unterstützen bei Haushalt, Garten und Wäsche, solange du es wünscht. Lieber Holger, ich bin bereit, nochmals bei Null anzufangen und gebe alles auf, was mir ans Herz gewachsen ist. Lass uns bitte vernünftig miteinander umgehen, schon wegen der Kinder. Es tut mir leid, entschuldige bitte. Martina.“
Für diesen Brief hatte ich mehrmals Anlauf genommen, hatte umformuliert und weggestrichen. Während des Schreibens liefen mir die Tränen. Es war mir, als hätte ich ein Kapitel meines Lebens beendet, als ich den Brief fertig hatte. Ich versteckte ihn. Wann er „zum Einsatz“ gelangen würde, war noch völlig unklar, aber er war erst einmal fertig und ich somit einen Schritt weiter an das Ende meiner Ehe herangerückt.
Der Urlaub nach Mallorca rückte immer näher. Ich bereitete Holger darauf vor, dass ich einen ganztägigen Außentermin hätte und gar nicht erst ins Büro ginge. Dies kam schon mal vor, deshalb erschien es glaubwürdig. Tatsächlich bummelte ich Stunden ab. Ich war froh, dass er nicht viel fragte und nur den Ort wissen wollte. Bei der Lügerei wurde mir bald übel, ich tröstete mich damit, dass alles ja bald ein Ende hätte. Jens hatte sich inzwischen die Wohnungen im Internet angesehen und Termine mit den Vermietern vereinbart. Vormittags wollten wir uns die Wohnungen anschauen und nachmittags unsere vorerst letzten Stunden genießen. Ich war so aufgeregt, es wurde immer ernster mit uns beiden: Wenn wir uns für eine Wohnung entschieden, was würde dann geschehen? Wie lange hätten wir Zeit, zu Hause alles zu regeln? Was würde mit Benni, ob er mit mir mit wollte? Wenn nicht, wie würde ich das verkraften? Ließ mich Holger gehen oder schlug er alles zusammen? Ließ er sich helfen?
Dann saßen wir bei dem ersten Vermieter. Als er unsere Daten abfragte, erklärte ihm Jens, dass alles über seinen Namen laufen würde. Er riskierte immer mehr. Die Wohnung befand sich im Obergeschoss eines Einfamilienhauses. Von einem großen Balkon aus konnte man über den Stadtrand ins Grüne schauen. Der Gedanke, mich als Mieter in einem Privathaus unterordnen zu müssen, war mir neu und musste erst einmal reifen. Die nächste Wohnung war eine Altbauwohnung an einer stark befahrenen Straße, auch nichts für mich. Die letzte Wohnung für diesen Tag befand sich am anderen Ende der Stadt in einem zehn Jahre alten Neubaublock. Sie schien modern, aber das Umfeld war nicht schön. Es gab zwar einen Innenhof, aber keinen Balkon. Wir sagten zwar niemanden sofort ab, blieben aber skeptisch. Nach meinem Urlaub wollten wir noch eine Einliegerwohnung in einem Eigenheim auf einem Dorf anschauen.
Damit war unser Stadtbesuch beendet. Jens wollte, dass ich mein Auto auf einem Parkplatz abstelle und wir mit seinem Auto fahren. Auf dem Weg zum Parkplatz passierte dann, was dem Spruch „Lügen haben kurze Beine“ gerecht wird. Ich wurde geblitzt. Mich durchzuckte es. So, jetzt kommt ein Brief nach Hause, aus einer Stadt, in der ich zu dieser Uhrzeit auf alle Fälle nicht sein durfte. Holger oder mein Sohn leerten im Regelfall den Briefkasten. Einen Brief vom Landratsamt konnte ich nicht unbemerkt öffnen. Wie sollte ich mich aus der Affäre ziehen? Ich wurde vor acht Jahren das letzte Mal geblitzt, in einer 30-iger Zone. Holger dagegen bekam regelmäßig solche Post, er hatte sogar schon mal ein Fahrverbot erhalten.
Zu Hause erklärte ich Holger, dass ich geblitzt worden sei. Weil ich einen zusätzlichen Termin bekommen hätte, sei ich noch an einem anderen Ort gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass Holger mir nicht mehr vertraute und ihm etwas schwante. Er sagte, er glaube langsam, dass ich ihn verarsche. Ich ließ mich auf keine Diskussion ein und vergrub mich in meiner Hausarbeit.
Am nächsten Tag packte ich die Koffer für den Urlaub mit unseren Freunden und da ich im Garten und Haus zu tun hatte, verging die Zeit sehr rasch. Auf dem Weg zum Flughafen sah ich von der Straße aus das Haus mit der Wohnung, die wir zwei Tage zuvor besichtigt hatten. Mir kamen die Tränen und ich musste mich sehr zusammenreißen, damit Holger nichts merkte. Seit dem Geständnis mit dem Blitzer hatten wir wenig miteinander gesprochen, ich mied seine Nähe und er ließ mich in Ruhe. Es war so unheimlich, wie kurz vor einer Explosion. Auf dem Flughafen gab sich Holger besonders locker und lustig den anderen gegenüber und kasperte ausgelassen herum. Wahrscheinlich überspielte er so unsere Zerrissenheit, die er irgendwie spürte.
Als wir spät abends im Hotel ankamen, ging ein anstrengender Tag zu Ende. Das Hotel war sehr schlicht, die Zimmer schon fast ungemütlich und dunkel, das Essen ohne Auswahl. Holger sagte wie immer nichts zu und er aß kaum. Er beschwerte sich aber nicht, denn wir wollten es ja preiswert haben.
Am nächsten Tag fuhren wir an der Steilküste entlang und klapperten die Sehenswürdigkeiten ab. Ich aber war nicht bei der Sache, wollte nur, dass alles schnell verging. Es war warm und das viele Laufen anstrengend. Nachmittags streikte Holger und kam mit uns nicht mehr mit. Entweder tat seine Hüfte weh oder er musste aufs Klo. Es war wie immer. Und er war so stur. Wegen der Hüfte wollte er nicht zum Arzt gehen, angeblich aus Angst, deswegen arbeitslos zu werden. Sein Durchfall war schon obligat geworden, sobald kein Klo in der Nähe war, bekam er Schweißausbrüche. Seine Hausärztin meinte, es sei psychisch, womit es sich für sie erledigt hatte. – Wir beide redeten kaum miteinander, es fiel aber nicht auf, da die anderen ständig um uns rum waren. Mein Handy war mein Trost, ich wurde immer unvorsichtiger mit dem Schreiben an Jens. Drei Tage hieß es noch zu überstehen, dann war ich wieder in Deutschland und auf sicherem Boden.
Am Abend gingen wir alle gemeinsam essen, bis ich schließlich gegen Mitternacht ausgelaugt im Bett lag. Holger fing an, Fragen zu stellen und versuchte unbeherrscht, herauszufinden, was mit mir los war. Als ich weiter abweisend blieb und schwieg, wurde er wütend. Er drückte mich aufs Bett und schrie mich an. „Ich will jetzt endlich wissen, was mit dir los ist, sonst knallt’s. Wenn du mich nicht mehr willst, dann sag es endlich, aber mach es nicht auf die Tour, die du hier loslässt. Was bildest du dir denn überhaupt ein?“ Ich weinte, er wurde immer wütender und tat mir weh beim Festhalten. Dann schrie er noch lauter: „Los, raus mit der Sprache. Du hast einen anderen, stimmt’s?“ Ängstlich sagte ich: „Holger, bitte lass mich los. Du tust mir weh. Lass uns schlafen.“ Er drückte noch fester zu: „Nein, und wenn ich dich die ganze Nacht festhalten muss. Ich will es wissen.“ So ging es hin und her bis ich es nicht mehr aushielt: „Ja, Holger, du hast recht. Ich habe einen anderen Mann und ich werde dich verlassen. Es tut mir leid, du kannst nichts dafür.“