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Das Hotel hatte eine ausgezeichnete Küche. Vera saß trotz vieler Gäste allein am Tisch, an einem Zweiertisch, dem kleinsten Tisch im Restaurant. „Katzentisch“ nennt man ihn, wenn er bei Mehrfamilienessen der Absonderung der Kinder dient und dies den Kleinen als Privileg verkauft wird. Immerhin hatte ihr Tisch dieselbe Höhe wie die anderen Tische. Und es gab mehrere dieser Katzentische. Auch in einer eher ländlichen Gegend schien es den Trend zum Singleleben zu geben. Und wenn schon dem Single beim Essen ein Kontakt zugedacht wurde, dann kein Gruppenkontakt, allenfalls ein Kontakt zu einem zweiten Single. Es war auffallend, dass alle Paare in diesem Gastraum an Vierertischen saßen und alle Zweiertische einem einzelnen Gast vorbehalten blieben. Drei Katzentische hatte sie im Blick und an allen dreien saßen Männer. Sie war zumindest in diesem Raum die einzige Singlefrau. Ein wenig bekam sie Mitleid mit den männlichen Leidensgenossen, die an einem Samstagabend alleine zum Essen in ein Restaurant gehen mussten. Sie machten ihr nicht den Eindruck, als ob sie das genießen würden. Vielleicht waren es aber auch Männer, die hier im Hotel wohnten und, wie sie, übers Wochenende irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen nachkamen. Nach dem Essen würden sie ihre Ehefrauen daheim anrufen und betonen, wie schwer es ihnen fiele, schon wieder woanders nächtigen zu müssen.
Sie telefonierte nach dem Essen mit ihrer Schwester Fritzi, die sich trotz der lärmenden Kinder im Hintergrund Zeit nahm. Ausführlich sprachen sie über die Lesung. Es war Vera immer peinlich, wenn sie in ihrem neuesten Buch jeweils an derselben Textstelle außer Fassung geriet. Da half es auch nicht, dass die Schwester dies als besonders authentisch pries und ihr riet, das immer beizubehalten. Fritzi fragte nach der Zusammensetzung im Publikum und machte sich lustig darüber, dass sich Vera hauptsächlich an den einzigen Mann erinnerte. Natürlich wollte sie auch wissen, wie sie untergebracht sei und was sie an den nächsten Tagen vorhätte. Sie solle es nicht zu toll treiben, riet sie ihr spaßeshalber. Vera kannte ihre Schwester und wusste, dass sie es immer gut meinte. Manchmal dachte sie: Die hat gut reden, mit einem Mann und drei Kindern! Für die Schwestern war die Familienplanung abgeschlossen, bei der einen, der jüngeren, weil drei Kinder ihr genug erschienen, bei der anderen aus Altersgründen: Vera war 15 Jahre älter als ihre Schwester Fritzi und traute sich nicht, eine Spätgebärende zu werden – ganz zu schweigen davon, dass ihr der Partner abhanden gekommen war und kein neuer bei ihr anklopfte. Außerdem hatte sie ein negatives Beispiel: ihre Mutter! Diese hatte die kleine Schwester auch erst nach 40 bekommen und das nie als Geschenk der Natur empfunden, sondern nur als große Last in ohnehin schwierigen Zeiten. Das war wohl der Grund, warum sich Vera als Ältere um die Schwester gekümmert hatte, so als wäre sie ihr eigenes Kind. Vielleicht hatte sie auch deshalb später selbst keine Kinder bekommen. Das eine Kind hatte ihr gereicht.
Das Samstagsprogramm im Fernsehen war nicht berauschend und es passte somit in paradox-konträrer Weise zum rauschenden Gerät. Sie sah sich eine Sendung nach der anderen an. Vera wollte darauf warten, dass sie der Schlaf überwältigt, um nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie fragte sich, wann sie endlich die Trennung überwunden hätte. Doch sie verstand, dass ihr an besonders einsamen Abenden wie diesen die schmerzhaften Gedanken hochkommen mussten. Endlich schaltete sie den Fernseher aus. Daheim hätte sie noch zu einem guten Buch gegriffen, doch bei Lesereisen verzichtete sie darauf. Sie stöberte in einem auf dem Tisch liegenden Wanderführer. Wanderschuhe hatte sie freilich nicht dabei, sie war eher ein Mensch der Wörter und nicht der körperlichen Anstrengung. Doch es gab auch Ausflugsziele in der näheren Umgebung, die ihrem Schuhwerk angemessen waren. Sie nahm sich vor, an einen See zu fahren, von dem sie las, dass man ihn in einer guten Stunde umrunden könne. Außerdem lag angeblich ein gutes Café auf dem Weg!
Die Nacht war unangenehm. Das Fenster konnte sie nicht öffnen, weil sie der immer noch im Innenhof liegend Küchengeruch störte. Andauernd ging irgendeine Dusche oder eine Klospülung, doch sie war schon froh, wenigstens keine Sexgeräusche zu hören. Im Traum begegnete ihr der Zeitungsschreiber, der sie immer so durchdringend angeschaut hatte. Er starrte auf ihre nackten Beine, so als ob die wichtiger als ihr Roman wären. Als sie zwischendurch aufwachte, wusste sie nicht Realität vom Traum zu unterscheiden. Hatte er wirklich immer auf ihre Beine gestarrt? Die Schwester hatte sie gewarnt, den kurzen Rock anzuziehen, weil sie damit bei den älteren Leserinnen wohl nicht punkten könne. Den Rock solle sie sich für die Männer aufheben, wenn sie einen Stadtbummel wagen würde. Fritzi hatte nicht auf dem Schirm, dass er auch für einen Journalisten oder Kritiker prickelnd sein könnte. Manchmal wurden Vera die Ratschläge der Schwester aber zu viel. Immer dasselbe Gerede. Es ist für eine Nahestehende schwer, der Verlassenen beim Trauern zuzusehen. Sie war aber noch nicht bereit, sich auf einen anderen Mann einzulassen. Wie soll man ein paar Monate nach einer Trennung schon bereit sein für die nächste Katastrophe? Bei der Wahl des kurzen Rocks hatte Vera nicht mehr an die Warnung der Schwester gedacht. Der Rock gefiel ihr einfach – und dass er kurz war, störte sie nicht. Das Verkaufsergebnis hatte er jedenfalls nicht negativ beeinflusst. Und dass der seltsame Schreiberling keinen Eintrag in das Buch wollte, hing wohl nicht mit der Rocklänge zusammen. Sicher war er sich zu fein, zu stolz für eine banale Signatur.
In der Nacht war nicht viel Schlaf zusammengekommen. Die Dusche tat gut und auf ein besonderes Äußeres wollte Vera an einem freien Tag keinen Wert legen. Ungeschminkt und ohne Brille würde sie sicher auch unerkannt bleiben, selbst wenn sie neben einem ihrer Plakate stünde, die sie an manchen Stellen der Stadt gesehen hatte. Sie legte privat keinen Wert darauf, als bekannte Schriftstellerin angesprochen zu werden, egal, was ihr Verlag dazu meinte. Im Frühstücksraum waren alle Tische schon mit mindestens einer Person besetzt. Alleine frühstücken war also nicht drin. Sie erkannte ihre Leidensgenossen der Katzentische wieder und setzte sich zu einem dazu. Er war der Vertreter einer Arzneimittelfirma, wie er ihr sehr schnell mitteilte, ungefragt und ohne nach ihrem Beruf zu fragen. Sie hätte gelogen, denn dass sie manchmal in der Redaktion eines Fernsehsenders arbeitete und auch dabei gelegentlich im Fernsehen auftrat, wollte sie ebenso wenig preisgeben wie ihre Erfolge als Schriftstellerin. Doch ihr Gegenüber interessierte sich anscheinend ohnehin nicht für ihren Beruf. Ihm lag eher daran, seine Ortskenntnisse auszuspielen und sich ihr als Fremden- oder Wanderführer anzubieten. Die Schwester würde frohlocken! Vera zögerte, vertröstete ihn, sprach davon, dass sie nicht so gut zu Fuß sei, doch er schob ihr eine Visitenkarte mit seinen Telefonnummern hin. Er sei immer erreichbar und würde sich freuen. So alleine mache alles doch keinen Spaß. Da nickte sie und sagte: „Mal sehen.“ Das Kärtchen warf sie ungelesen in ihre Tasche.
Natürlich ging sie alleine weg. Nach dem Frühstück zog es sie an den Fluss zu einem Spaziergang. Die ersten Meter entfernte sie sich schnell vom Hotel, dann ließ sie sich Zeit und genoss die schon recht angenehme Wärme der Sonne und das frühsommerliche Gezwitscher der Vögel. Erstaunlicherweise war kaum einer unterwegs, auch keine „Eine“ … Selten, dass sie einmal über ihr inneres Gender-Engagement schmunzeln musste ... Als sie die Glocken der Stadtkirchen hörte, vermutete sie, dass sie in einem besonders frommen Landstrich gelandet war, wo sich viele Bürger an einem Sonntagmorgen in den Gottesdienst begeben – beziehungsweise sich nicht auf die Straße trauen, um nicht als unfromm angesehen zu werden. Der junge Angler, den sie am Flussufer aufschreckte und der durchaus zu einem Schwätzchen bereit war, lachte und meinte, die Leute seien müde von ihrer Samstagsarbeit und schliefen sonntags immer sehr lange. Sie wusste nicht, ob sie das ernst nehmen sollte oder ob er sich einen Scherz mit der Fremden erlaubte. Sie lächelte freundlich und wünschte ihm „Petri Heil“. Nachdem sie schon ein paar Meter entfernt war, entdeckte sie ein idyllisches Fotomotiv und ging noch einmal zum Angler zurück. Sie fragte, ob er etwas dagegen hätte, wenn er auf ihrem Foto abgebildet würde. Er grinste nur. Sie erkannte darin eine Zustimmung und lichtete den Fluss mit dem jungen Mann im Vordergrund ab. Ihrer Schwester würde sie weis machen, dass sie ein angeregtes Gespräch mit ihm geführt hätte – was die ihr sowieso nicht glauben würde. Sie schickte ihr das Foto daher mit einer glaubwürdigeren Bemerkung. Da sich der Himmel etwas zuzog und sie nicht die Wetterkapriolen in dieser Gegend kannte, drehte sie um und ging Richtung Hotel zurück. Da dachte sie, einen Mann zu bemerken, der ihr nachgegangen war und sich ebenfalls schnell umwendete und Richtung Stadtmitte zurückeilte.
Das Mittagessen - an einem Tisch allein für sich - schmeckte ihr ausgezeichnet. Die Katzentische waren voll belegt und an den größeren Tischen saßen meist Familien oder gleich ganze Freundesgruppen, die offenbar die Lokalität schätzten. Geld haben die hier, wenn die jeden Sonntag zum Essen gehen können, dachte sie sich. Von einem Tisch wurde herübergeschaut und sie vermutete, dass man sie erkannt hatte. An einem zu kurzen Rock konnte es jedenfalls nicht liegen. Die Leute nickten und sie nickte zurück. Da die Szene nicht unbeobachtet blieb, begannen zwei andere Tische zu tuscheln. Nun wurde es ihr unangenehm. Sie hätte gern ihre Ruhe gehabt, wäre gern anonym geblieben. Sie konnte sich nur schwer in Autorenkollegen hineinversetzen, die erkannt werden wollen und Autogrammwünsche keinesfalls als störend erlebten. Sie machte ein angestrengtes Gesicht und konzentrierte sich voll auf ihr Essen. Glücklicherweise wurde ihre Distanzierung verstanden. Nach dem Pharmavertreter hatte sie schon beim Hereingehen geschaut, aber ihn nicht entdeckt. Sie horchte in sich hinein und dachte wieder an ihre Schwester. „Beim Essen lernt man Leute kennen!“, meinte die. Warum wollte sie das nicht? Sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Vorlesen ihrer Bücher gefiel – einmal abgesehen von den Szenen, in denen sie sich gefühlsmäßig zu sehr mitreißen ließ. Ihr gefiel also dieser Kontakt zu den Menschen. Aber was heißt Kontakt? Es war ja nur eine einseitige Präsentation, eine mit einer gewissen Rückmeldung zwar, doch eigentlich hatte sie alles im Griff, sie konnte bestimmen, wie weit sie etwas von sich preisgeben und wie weit sie etwas von den anderen wahrnehmen wollte. Höchstens beim Signieren musste sie mit der einen oder anderen Bemerkung oder kurzen Frage rechnen. Oder war es genau andersherum? Sie scheute weniger die Gesprächsbeiträge und Nachfragen der anderen, wenn sie mit denen zum Beispiel an einem Tisch saß, sondern ihre eigenen. Sie interessiere sich zu wenig für andere, warf man ihr gelegentlich vor, und dass das für eine Schriftstellerin doch sehr ungewöhnlich sei, denn gerade sie müsste doch Interesse an allem und jedem haben. Ach, ich kenne mich nicht einmal mit mir selbst aus, dachte sie mit einer gewissen Resignation, und es kam ihr so vor, als könnten alle im Raum ihre Gedanken hören.
Nach dem Mittagessen legte sie sich hin und schlief sofort ein. An ihrer Tür klopfte es, zuerst sanft und leise, dann ungeduldig und kalt, mit den Fingerknöcheln einer kräftigen Hand. Sie öffnete die Tür einen Spalt, doch der Mann draußen drängte sich sofort herein. Er stieß ihr die Tür gegen ihre Schulter und sie taumelte zurück. Der Mann schlug die Tür von innen wieder zu und schob die Erschrockene weiter ins Zimmer hinein, dann gab er ihr einen Stoß, so dass sie rückwärts auf das unbenutzte Bett fiel. Entsetzt hob sie ihren Kopf und schaute den Gewalttätigen an. Sie erkannte den Pharmavertreter. Sie wollte schreien, doch er hielt ihr mit grober Hand den Mund zu. Sie schnappte nach Luft - und war froh, dass sie sich endlich von diesem Alptraum befreien konnte. Sie richtete sich auf und sprang aus dem Bett. Erleichtert schnaufte sie durch: Es war wirklich nur ein Traum gewesen! Dennoch schaute sie sich auf dem Weg zu ihrem Auto vorsichtig um, ob ihr der Pharmavertreter vielleicht folgen würde. Dann fuhr sie erleichtert hinaus zu dem kleinen See, den ihr das schmale Büchlein als Ausflugstipp empfohlen hatte. Sie genoss die Ruhe und die romantische, liebliche Umgebung des touristisch noch recht unerschlossenen Kleinods. Als sie sich jedoch dem Café näherte, wurde ihr bewusst, dass die Einheimischen wochenends nicht nur gerne ins Restaurant gingen, sondern dass sie sich zu Scharen auch in den Cafés trafen. Viele waren bis zum dazugehörigen Parkplatz gefahren und hatten sich auf die Terrasse gesetzt, um den See aus angenehmer Distanz zu bewundern und den wirklich guten Kuchen zu essen, der dort angeboten wurde. Sie bekam den letzten freien Tisch, doch sie blieb nicht lange allein. Von einem der Nachbartische kam ein Mann zu ihr hin. Er trug in der einen Hand eine Aktentasche, in der anderen einen Teller, auf dem neben dem Kuchen auch eine Tasse Cappuccino hin- und herrutschte.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er grinsend. Es war der Pharmavertreter, der sogleich, ohne eine Antwort abzuwarten, Platz nahm. „Schön, dass wir uns wiedersehen!“, sagte er. „Und noch dazu in einer so herrlichen Umgebung.“ Ihr muss wohl der Mund offengestanden haben, denn er bot nun doch einen Rückzieher an: „Oder störe ich Sie? Das will ich natürlich nicht! Die Leute an meinem Tisch waren mir nicht besonders sympathisch“, erläuterte er. „Was nicht heißt, dass ich mich im umgekehrten Fall nicht zu Ihnen hergesetzt hätte. Ach, was red ich? Ich red wieder zu viel. Ich weiß. Entschuldigung!“ Er machte aber keine Anstalten wieder aufzustehen. „Nicht, dass Sie glauben, ich würde Sie verfolgen, ich bin immer hier im Café, wenn ich hier in der Gegend bin und das bin ich oft, wie Sie sicher kombiniert haben.“
Sie nötigte sich ein kleines Lächeln ab und blieb nur im Ton höflich: „Ja bitte, nehmen Sie Platz. Es darf sich jeder hinsetzen, wo er will. Meinetwegen.“
„Störe ich Sie wirklich nicht? Ich bin manchmal aufdringlich, sagen die andern. Ist halt mein Beruf, wissen Sie.“ Dabei zeigte er auf seine Aktentasche. „Immer dabei. Muss noch was nachschauen.“
„Ich will Sie nicht aufhalten“, sagte Vera kühl.
„Ach, was! Ich bin doch froh, auch mal Gesellschaft zu haben. Ganz privat. Nicht ständig von Termin zu Termin zu hetzen und meine Sachen anzupreisen. Was machen Sie eigentlich?“
„Ich genieße ein paar Stunden die Ruhe hier.“
„Ach, Sie kommen wohl aus einer größeren Stadt. Da ist es freilich sehr schön bei uns. Ich stamme von hier, wissen Sie. Und außerdem: Das alles gehört zu meinem Einzugsgebiet.“ Dabei machte er eine ausladende Bewegung mit beiden Armen. Die erschien selbst ihm ein wenig peinlich. Er räusperte sich. „Nein, ich meinte, was Sie beruflich machen. Oder bin ich da zu neugierig? Auch so eine Berufskrankheit. Ich verwickle die Ärzte, die ich aufsuche, immer in ein privates Gespräch. Nach ihrem Beruf frage ich die Ärzte natürlich nicht.“ Der Pharmavertreter lachte. „Den weiß ich ja.“ Er machte eine Pause, um eine Antwort abzuwarten.
Sie zögerte etwas, weil sie wusste, wohin ehrliche Antworten führen können. Sie hatte keine Lust, sich mit dem Menschen über ihre Bücher oder ihre Fernseharbeit zu unterhalten. „Nun, jetzt bin ich privat hier und da rede ich nicht gerne über meinen Beruf.“
„Ach so. Muss wohl etwas Besonderes sein. Wahrscheinlich eine Psychiaterin, wenn ich sie mir so anschaue. Ich rieche Ärzte zehn Meilen gegen den Wind. Dann wollen Sie natürlich nicht von mir bequatscht werden. Keine Angst, ich bin ab jetzt auch nur noch privat hier.“ Und wieder legte er ein Grinsen auf, nippte einmal an seinem Cappuccino und stach sich ein Stück seines Kuchens ab. „Ganz privat“, bekräftigte er.
Sie drehte ihr Gesicht Richtung See und konnte es sich nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen. Sie rutschte auch ihren Stuhl noch ein Stück in diese Richtung, lehnte sich zurück, legte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Er verstummte endlich und widmete sich weiter seiner Käsesahnetorte. Leise murmelte er: „Tut mir leid, wollte nicht stören.“ Sie erwiderte nichts.
Am Abend rief ihre Mutter an und fragte nach der Lesung des Vortags. Für ihre privaten Begegnungen interessierte sie sich scheinbar nicht. Sie ließ sich genau den Ablauf der Nachmittagslesung erzählen, war auch neugierig, ob jemand von der Presse da gewesen wäre. Eine gute Presse sei wichtig, meinte sie. Ja, das wussten beide.
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Samstagsvorlesung: Die Frau auf der Trompete
Für die jeden ersten Samstagnachmittag des Monats von unserer engagierten Stadtbibliothekarin Frau Lieselotte Brunner ins Leben gerufenen Reihe von Buchlesungen konnte diesmal eine überaus prominente Schriftstellerin gewonnen werden: Frau Vera Weiß-Riebendorf stellte ihr Buch „Die Frau auf der Trompete“ vor. Die mit vielen Auszeichnungen dekorierte Autorin von Romanen, die man gemeinhin der Frauenliteratur zuordnet, füllt ansonsten große Theatersäle und dass sie den Weg in die Provinz und in unsere kleine Stadtbücherei fand, ist sicher der Bekanntschaft von Frau Brunner mit der Verlegerin der Schriftstellerin zu danken. Der Lesesaal war deswegen auch gut besucht mit erwartungsvollen literaturbegeisterten Frauen unseres Städtchens und der Umgebung. Und vorneweg gesagt: Keine blieb enttäuscht zurück!
Die Autorin las einzelne Abschnitte ihres spannenden neuen Romans mit sehr angenehmer Stimme und verstand es, immer die richtigen Akzente zu setzen. Sie trat ohne jegliche Starallüren auf und begeisterte durch ihre sympathische Ausstrahlung und vor allem durch ihr großes emotionales Engagement, das auch die Zuhörerschaft mitriss. Es konnte wieder einmal belegt werden, dass nicht nur in der Lyrik die Art des Lesen eines Textes den Inhalt erklärt oder vertieft, sondern dass dies auch für die Belletristik gelten kann. Man darf sich auch fragen, ob die Protagonistin des Romans nicht sogar autobiographische Züge trägt und sie deshalb besonders intensiv vorgestellt und wahrgenommen werden konnte. Die wechselnden Erzählperspektiven ergaben eine fesselnde Melange aus Distanz und Nähe und der auktoriale Erzähler – oder hier die Erzählerin, denn gendergerechte Formulierungen scheinen der Autorin wichtig zu sein - verriet einiges aus dem Innenleben der Romanfiguren, das dem Zuhörer – und diesmal bleibe ich bei der männlichen Formulierung – einen fast zu intimen Vergleich mit der Autorin gestattete. Das Gesamtbild der Lesung, von der äußeren Erscheinung der Vortragenden über den Stil der Lesung bis hin zu den ausgewählten Handlungsinhalten ihres Buchs, war also sehr authentisch und traf voll den Geschmack des Publikums - nicht nur des weiblichen, darf ich als einziger Mann hinzufügen. Der euphorische Beifall für Frau Weiß-Riebendorf war dafür ein guter Beleg und ein herzlicher Dank an die Autorin.
Ob es sich bei der Frau auf der Trompete tatsächlich um Literatur nur für Frauen handelt, kann der Berichterstatter noch nicht beurteilen. Darüber wird in einer Rezension alsbald zu schreiben sein. Die vorhandenen Exemplare des neuen Werks waren im Nu vergriffen und konnten von den Interessentinnen mit Widmungen der Autorin stolz nach Hause getragen und sicher schnell verschlungen werden. Ein besonderer Dank für diese gelungene Veranstaltung gebührt aber auch nochmals unserer geschätzten Frau Brunner, die wieder einmal ihr gutes Händchen für die richtige Wahl einer Autorin für unsere beliebten Nachmittagslesungen bewiesen hat.
Der Zeitungsbericht machte sofort die Runde: Die Stadtbibliothekarin Lies war zufrieden, besonders auch mit der wirklich schnellen Berichterstattung. Sie schickte den Artikel an die Verlegerin der Schriftstellerin mit herzlichen Grüßen. Diese wiederum informierte ihre engste Freundin Milena, die noch viel gespannter darauf wartete als die Verlegerin. Milena informierte ihre Tochter Vera, dass bereits in der Montagsausgabe der Lokalzeitung ein Bericht stünde. Vera Weiß-Riebendorf hätte diesen Hinweis ihrer Mutter nicht gebraucht. Überhaupt hasste sie es, wenn ihre Verlegerin die Neugier ihrer Mutter immer so bediente. Und immer noch glaubte sie, dass sie seinerzeit von diesem Verlag wohl nur deshalb angenommen worden war, weil die Mutter mit der Verlegerin so „speziell“ war. Schon mehrmals in den letzten Monaten hatte sie der Frauenklub in dieses Provinznest schicken wollen und immer hatte sie dieses Ansinnen mit irgendwelchen Ausreden abgelehnt. Sie wehrte sich nicht gegen die Provinz, gegen Kleinstädte oder gegen „viel Landschaft“, sondern sie wehrte sich gegen die Klüngeleien zwischen Mutter, Verlegerin und dieser Stadtbibliothekstante, ja eigentlich wehrte sie sich gegen das Drängen der Damen, weil es ihr unverständlich war. Dieses Mal hatte es die Mutter als einen besonderen Wunsch formuliert und hinzugefügt, dass sie in dieser Stadtbibliothek in jungen Jahren schon einmal gewesen sei und sie deshalb die Verlegerin gebeten habe, mit der ihnen beiden bekannten Bibliothekarin eine Lesung zu vereinbaren. Nostalgie nannte sie das, worauf ihre Tochter Vera meinte, dann solle sie doch selbst mal wieder hinfahren. Es blieb letztlich ein Rätsel, warum der Mutter so daran lag, dass sie dort ihr Buch vorstellte. Erstaunlich war auch, dass ihre Verlegerin so schnell einen Termin vereinbaren konnte. Frauenklüngel macht vieles möglich ...
Vera las den Zeitungsartikel beim Frühstück und es gab ihr zu denken, dass es dieser Presse-Mann aus der ersten Reihe gewagt hatte, Vergleiche ihrer Romanfigur mit ihr als Autorin anzustellen. Mit seiner positiven Berichterstattung und dem Foto von ihr war sie aber sehr einverstanden. Sie fühlte sich gut getroffen. Der „Berichterstatter“ hieß Hans Wunderfeld und war kein Mitglied der Zeitungs-Redaktion, sondern schrieb Kulturberichte auf Honorarbasis. Das hatte sie auch schon seinem Visitenkärtchen entnommen, für dessen Übergabe er sich im Lesesaal extra angestellt hatte. Gerade als sie den Bericht ein zweites Mal lesen wollte, meldete sich erneut das Telefon. Sie schaute, wer es sein könnte, aber sie kannte die Nummer nicht. Ihre Handynummer war nur wenigen Menschen bekannt, deshalb wurde sie neugierig. Sie verließ den Frühstücksraum und nahm das Gespräch an. Der Gesprächspartner entschuldigte sich, er wolle auch nicht groß stören, rufe sowieso von seiner Arbeitsstelle an, habe ihre Nummer von ihrer Verlegerin, also der langen Rede kurzer Sinn: Er würde sie gerne noch einmal treffen, um ein Interview für die Zeitung mit ihr zu führen. Ach ja, er sei der Hans Wunderfeld, der Mann aus der ersten Reihe. Sie wüsste schon: der Mann bei ihrer Lesung am Samstagnachmittag … Er selbst habe aber heute leider erst ab 17 Uhr frei, ob es ihr denn passe und ob es ihr überhaupt angenehm sei, mit ihm kurz über ihr Buch, das er inzwischen gelesen habe, und über sie als Autorin zu sprechen. Sie stutzte, überlegte kurz und sagte ihm, dass sie zurückrufe. Sie überlegte nun länger, hin und her. War es so ein Interviewtermin wert, dass sie noch einen Tag bliebe? Der Frauenklub schien es zu befürworten, ihre Schwester sowieso. Und sie hatte Zeit. Sie rief zurück und vereinbarte mit dem Zeitungsmenschen einen Abendtermin im Restaurant ihres Hotels. Den Tisch – und es würde diesmal kein Katzentisch sein – wollte sie vorbestellen.
Hans Wunderfeld, der Mann von der Führerscheinstelle, führte selten Interviews. Der Zeitung war diese Ausnahme sehr willkommen, Abwechslung war immer willkommen, und Lies schien es ein größeres Bedürfnis zu sein als bei all den anderen Gelegenheiten zuvor. Hans führte es darauf zurück, dass die anderen Lesungen in der Regel von Autoren aus der Region gehalten wurden, die ihre Bücher vorstellen und verkaufen wollten. Diese Autoren wurden ohnehin im Vorfeld schon für ihre neuesten Werke in der Zeitung gelobt und Lies befürchtete ein wenig, dass Hans deshalb eher einen Tick zu kritisch sein würde, wenn er sich mit dem Werk eines regionalen Autors beschäftigte. So war sie, nachdem sie es mit Hans ein Mal probiert hatte, nicht mehr auf Interviews von ihm scharf, auch nicht auf seine Berichterstattung von den Lesungen. Hans schmeichelte es, dass er gerade bei dieser prominenten Schriftstellerin von Lies angefragt wurde – er kam nicht auf die Idee, dass ganz etwas anderes dahinterstecken könnte.