Als Gott dem Unternehmensberater R. begegnete

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Mann, oh Mann, war das eine Schau. Die Trauerhalle glich einem einzigen Blumenmeer. Kränze über Kränze mit Abschiedsgrüßen von Freunden und Klienten. Das tat schon gut, das muss ich zugeben. Der schwere dunkle Sarg mit meiner sterblichen Hülle bereitete mir allerdings ein wenig Unbehagen. Nun, ich wollte gern einen letzten Blick auf meinen Körper werfen, war mir aber nicht ganz sicher, ob ich das tun sollte. „Ach du Schreck, ich hätte nicht daran denken sollen!“ Der Anblick war ekelerregend. Dieser Körper war fertig - reif für die Mülldeponie. „Gott sei Dank, dass der Deckel bereits auf der Nase war, so dass niemand dieses unansehnliche Stück Fleisch besichtigen konnte“, dachte ich und begab mich zur Ablenkung an das Friedhofstor. Hier erblickte ich eine ganze Armada von sündhaft teuren Luxuskarossen. Die zahlreichen Trauergäste drängten mit ernst aufgesetzten Mienen durch das Friedhofstor. Es war wohl die Beerdigung des Jahres auf diesem kleinen Vorstadtfriedhof. Aber wo blieb Werner? Ich konnte ihn nirgendwo entdecken. „Das würde er doch nicht fertig bringen, meiner Beerdigung fernzubleiben“, dachte ich ziemlich aufgebracht. Aber dann, Leute, sah ich meinen Porsche, wie er um die Ecke bog. Mir blieb vor lauter Rührung das Herz stehen. So fühlte ich, obwohl ich kein Herz mehr hatte. Als hätte Werner es gewusst, dass ich noch einmal einen Blick auf mein geliebtes Auto werfen wollte. „Guter Freund!“, dachte ich voller Dankbarkeit, während ich die unwiderstehlichen Rundungen des Porsche bewunderte. Das war eine Riesenüberraschung - besser als jeder Blumenkranz - das absolute Highlight meiner Beerdigung. So weltlich verbunden war ich noch zu diesem Zeitpunkt.
Nun wollte ich aber die Trauerfeier begutachten. Mal schauen, wer sich wohl ein Tränchen abdrücken konnte. Vollkommen überfüllt war diese sakrale Örtlichkeit. Nicht jeder hatte bei diesem traurigen Ereignis das Glück gehabt, einen Sitzplatz zu erhaschen. Die erste Reihe war mit meiner Familie belegt. Ja, meine Lieben, ich hatte eine Familie, die mir allerdings während meines Erdendaseins ziemlich auf den Wecker gegangen ist. Nun saßen sie hier in der ersten Reihe und überlegten sich bereits, wie und was sie von mir erben konnten. Es ist einerseits schon ganz schön vorteilhaft, Gedanken wahrnehmen zu können, aber andererseits kann die ungeschminkte Wahrheit auch entsetzlich wehtun. Vetter Diethelm und Ehefrau Michaela mit ihren schlecht erzogenen, völlig verstrahlten Teenagern Charlotte und Marvin machten sich augenblicklich die allergrößten Sorgen darüber, ob ich wohl an ein Testament gedacht hatte. In diesem Fall, das wussten sie nur zu genau, hätten sie nichts zu erwarten. Jetzt beteten sie voller Inbrunst zu Gott, dass die gesetzliche Erbfolge eintreten möge, da sie meine einzigen noch lebenden Verwandten waren. „Oh, sie taten mir fast leid. Für wie blöde hatten die mich bloß gehalten?“
Natürlich hatte ich ein Testament hinterlassen - wenn auch nicht in allen Einzelheiten - aber doch dahingehend vorsorgend, dass die mir verhasste Mischpoke jetzt ganz umsonst betete. Ich konnte mich einer gewissen Schadenfreude nicht entziehen, zumal die berechnenden Gebete der überaus frommen Verwandtschaft nicht eine einzige Fürbitte für meine unsterbliche Seele beinhalteten.
Mein Gott, was für ein Trara. Viele Leute fühlten sich verpflichtet, hier eine kleine Rede zu halten. „Ach, was war ich doch für ein herausragender Mensch!“ wenn man ihren selbstdarstellerischen Ausführungen Glauben schenken wollte. Mir war dieser Zirkus mittlerweile egal. Ich wollte dem ganzen Geschehen schon ziemlich angewidert entfliehen, als ich plötzlich Röschen entdeckte.
Völlig in sich gekauert weinte die treue Seele still vor sich hin, und ihre Tränen wurden ausgelöst von ehrlicher tief empfundener Trauer. Es tat so gut, endlich einen Menschen gefunden zu haben, der meinen Tod aufrichtig bedauerte.
Röschen, meine langjährige Sekretärin, hatte mich insgeheim immer geliebt. Jetzt, wo ich ihre Gedanken lesen konnte, wurde mir diese aufrichtige Liebe bewusst. Nein, das stimmt nicht so ganz. Ich hatte das schon zu meinen Lebzeiten bemerkt, aber vollkommen ignoriert. Röschen passte schon rein äußerlich so gar nicht in mein Beuteschema. Sie war aber meine Verbündete, die mich niemals enttäuscht und mir immer den Rücken freigehalten hatte. Hierbei musste sie sehr oft für mich lügen und viele unangenehme Dinge erledigen, die über die Arbeit einer Sekretärin wohl weit hinausgingen. So hatte sie meine zahlreichen Damenbekanntschaften, die fast immer gleichzeitig liefen, koordinieren müssen. Für diese Dinge benötigte sie einen separaten Terminkalender, der alle Vermerke über Eigenschaften sowie Vorlieben der verwöhnten Damen enthielt, so dass Röschen oftmals für meine privaten Belange Überstunden machen musste. Sie war wohl die verständnisvollste und warmherzigste Frau, die mir jemals über den Weg gelaufen ist. Trotz all dieser wunderbaren Qualitäten lebte sie zu meinem großen Unverständnis allein. Gewiss, sie gehörte nicht gerade zu den auffallenden Schönheiten, aber ganz bestimmt war sie auch nicht hässlich - nur ein wenig zu klein geraten und auch ein bisschen zu pummelig in der Figur - und vielleicht ein kleines bisschen zu unvorteilhaft gekleidet. Jedenfalls waren mir all diese Äußerlichkeiten bei Röschen nicht wichtig. Ich wollte ja nichts von ihr. Ich sah sie lediglich als Kumpel, bei dem ich mich wohl fühlte und alle meine Probleme abladen konnte.
Dagegen ließen mich die langen Beine von Vera auch in meinem jetzigen Zustand noch in Verzückung geraten. Sie trug ein hautenges, schwarzes Kostüm mit einem sehr kurzen Rock, der nichts von dem rassigen Fahrgestell verhüllte. Vera war rein äußerlich gesehen ein Vollblutweib der Extraklasse. Aber all ihre Gedanken drehten sich selbst bei diesem traurigen Ereignis ausschließlich um ihre Schönheit. Sie weinte weder eine Träne noch verschwendete sie einen Gedanken an meine unsterbliche Seele. Ihr werdet es nicht glauben, in diesem Augenblick überlegte sie sich tatsächlich, ob sie es wohl wagen könnte, sich während der Trauerfeier die Lippen nachzuschminken. Ich trug ihr diese Oberflächlichkeit nicht nach. Die Kleine war einfach unwiderstehlich und zuckersüß, aber eben auch eine ziemliche Hohlbirne. Alle meine Verflossenen fuhren letztendlich auf dieser Schiene. Nur auf Äußerlichkeiten ausgerichtet hatten sie sich ganz schön herausgeputzt und jede von ihnen beäugte jetzt neidisch die Konkurrenz. Diese Trauerfeier bedeutete für sie nicht etwa das würdevolle Abschiednehmen von einem guten Freund, sondern sie sahen darin eher einen Event der Extraklasse - ein Sehen und Gesehenwerden. Ja, so waren sie, meine so genannten Freunde und Geliebten. Sie waren nichts anderes als Spiegel meiner selbst.
Werner allerdings verzog keine Miene. Er saß wie versteinert auf seinem Platz und starrte gedankenverloren auf den Sarg: „Mensch, Alter, was mache ich jetzt bloß ohne dich?“
Er trauerte tatsächlich um mich und machte sich die größten Sorgen darüber, wie es nun ohne mich mit der Firma weitergehen sollte - vor allem finanziell. Werner geriet hierbei geistig in Panik. Er tat mir aufrichtig leid, denn er sorgte sich völlig umsonst. Ich versuchte, mich in seine Gedanken einzuschleichen. Aber es war schwer, seinen wirren Geist zu erreichen:
„Keine Angst, mein Freund, dafür habe ich gesorgt, dass du nichts von unserer Firma an meine gierigen Verwandten abtreten musst!“
Meine Botschaft kam nicht an. Werner war vollkommen durcheinander.
Nun, dann musste er jetzt da durch. Ich konnte es nicht ändern.
So langsam hatte ich auch die Nase voll von dieser Feier. Eigentlich interessierte es mich absolut nicht mehr, was die Leute über mich sagten oder dachten. Es fiel mir schon wesentlich leichter, alles hinter mir zu lassen.
„Nun, das hört sich gut an - er macht Fortschritte“, werdet ihr jetzt denken. Aber für einen Jenseitigen sieht das alles ein wenig anders aus. Hier kann man keine Zukunftspläne schmieden und keinen neuen Weg beschreiten. Hier ist nichts, aber auch wieder alles.
Jedenfalls befand ich mich derzeit im Nichts und ich suchte das Alles.
Haltet mich nicht für verrückt. Besser kann ich es euch momentan nicht erklären. Das Nichts nahm ich als Seinsform ohne jegliche Bedürfnisse wahr. Aber ich empfand diesen Zustand nicht als Frieden oder gar Glückseligkeit, sondern eher als unerträgliche Langeweile ohne Hoffnung auf ein wenig Abwechslung. Einfach öde, das könnt ihr mir glauben.
„Rainer, was ist denn jetzt so öde an deinem jetzigen Zustand?“
Das andere Bewusstsein meldete sich wieder.
„Das fragst du noch? Was bitte soll ich jetzt tun?“
„Sei doch nicht so ungeduldig, mein Sohn. Vertraue mir!“
„Ach, lass mich doch in Ruhe. Warum hast du mich nicht noch ein wenig leben lassen? Ich habe mein Leben wirklich genossen, und jetzt hänge ich hier ab und weiß nicht, wie es mit mir weitergeht.“
„Ich verstehe dich!“
„Na, das ist ja mal was!“
„Geduld ist nicht gerade deine Stärke. Aber das lernst du schon noch. Nun sage mir erst einmal, was du an deinem Leben derart wunderbar empfunden hast, dass du es so sehr vermisst?“
„Nun, ich war beruflich ziemlich erfolgreich. Ich hatte genügend Geld, um mir alle Annehmlichkeiten des Lebens zu ermöglichen. Gut, ich gebe zu, dass ich sehr wenig Zeit hatte, um etwas für mich zu tun.“
„Um etwas für dich zu tun?“
„Ja, ich hatte nicht viel Freizeit, um mein Leben ausgiebig zu genießen. Aber ich war zufrieden - meine Arbeit füllte mich aus!“
„Ich nehme bei all deinen Aussagen immer nur die pure Ichbezogenheit wahr. Hast du jemals versucht, Licht in die Welt zu bringen?“
„Licht in die Welt bringen? Was meinst du damit?“
„Rainer, Rainer, du bist wahrlich ein harter Brocken. Nun gut, dann werde ich mich deutlicher ausdrücken. Hast du in deinem Leben auch einmal an andere gedacht? Hast du vielleicht einmal völlig selbstlos ohne Berechnung für irgendjemanden ein Opfer gebracht?“
„Nein, das habe ich nicht. Andere Menschen waren mir egal. Ich hatte eine schlechte Meinung von ihnen. Du hast es doch auf meiner Beerdigung gesehen, wie sie sind - heuchlerisch, gierig und berechnend, völlig auf sich selbst ausgerichtet und wenig liebenswert!“
„Empfindest du dich anders, mein Sohn?“
„Nein, ich bin nicht besser als sie. Jetzt kannst du mich verurteilen - ist mir auch egal!“
„Warum sollte ich?“
„Nun, weil ich ein so schlechter Typ bin!“
„Bitte, Rainer, beruhige dich. Ich bin nicht der, der anklagt und richtet. Ich bin der, der versteht - der hilft - der liebt. Ich will, dass du mich kennen lernst, damit du verstehst!“
„Du liebst mich trotzdem?“
„Ja, ich liebe dich trotzdem. Ich nehme dich an - so wie du bist und ich helfe dir, dich weiterzuentwickeln. Hierbei geschehen manchmal Dinge, die du zunächst negativ einstufst, weil sie dir unangenehm sind. Du siehst keinen Sinn darin - kein Fortkommen, sondern eher eine Blockade, eine Strafe. Aber glaube mir, sie sind wichtig für deinen Entwicklungsprozess.
„Dann ist mein viel zu frühes Ableben also wichtig für meinen Entwicklungsprozess?“
„Auf geistiger Ebene - ja!“
„Ich war also zu nichts mehr nütze in der materiellen Welt.“
„So würde ich es nicht sagen. Alles hat nun einmal seine Zeit in der vergänglichen materiellen Welt. Dass dein Herz versagte, hast du dir allerdings selbst zuzuschreiben. Es war deine eigene Dummheit, die dich aus dem Leben gerissen hat.“
„Aber du hättest mein Herz wieder zum Schlagen bringen können!“
„Es hat mich niemand darum gebeten!“
„Was sagst du da? Hätte dich jemand darum gebeten, dann hättest du mir geholfen?“
„Ja - schon möglich, wenn dich jemand sehr gebraucht hätte!“
„Ich glaube das nicht - ich bin empört!“
„Du hast deinem Leben selbst ein Ende gesetzt, weil du mit deinem alternden Körper nicht klargekommen bist. Du wolltest die ewige Jugend. Warum hast du nicht innegehalten, als dir die Luft ausging? Deine Eitelkeit hat dich so weit getrieben, dass du dein Herz überfordert hast. Meine warnende Stimme konntest du nicht hören, weil du nicht an mich geglaubt hast. Es war deine Entscheidung. Was hätte ich tun sollen?“
„Aber du hättest mich doch wieder ins Leben zurückbringen können, als es geschehen war. So eine Art Wunder - das wäre es doch gewesen!“
„Niemand hat dich wirklich gebraucht!“
„Also, das sagte ich doch, ich war zu nichts mehr nütze!“
„Ich sage dir, dein Tod war ganz einfach die natürliche Konsequenz deiner Leichtsinnigkeit. Nimm es bitte so an. Es gibt keinen Weg in dein Leben zurück. Du weißt, dass ich nicht wie ein Zauberkünstler arbeite.“
„Nun, das erwarte ich auch nicht, nachdem ich meine sterbliche Hülle im Sarg gesehen habe. Dieser Anblick hat mir schon einen gehörigen Schreck eingejagt.“
„Du siehst, Rainer, man darf der Materie nicht zu viel Bedeutung beimessen. Sie ist vergänglich. In diesem Bewusstsein solltet ihr Menschen eigentlich leben, damit ihr wirklich jede Sekunde voll auskostet. Aber ihr sträubt euch gegen den Prozess des Alterns und stemmt euch somit gegen den Fluss des Lebens. Wer gegen den Strom schwimmt, macht es sich unnötig schwer. Derjenige muss ständig gegen das Ertrinken ankämpfen. Wer sich aber mit dem Strom treiben lässt, der wird getragen.
Jetzt, mein lieber Rainer, existierst du als wahres Ich - als Bewusstsein ohne jegliche Bindung an einen Körper. Dieser hat ausgedient und löst sich auf.“
„Demnach ist er also austauschbar? Ist das richtig? Könnte ich dann bitte jetzt sofort einen neuen Körper bekommen?“
„So weit sind wir noch nicht. Du bist mal wieder viel zu ungeduldig!“
„Das verstehe ich nicht. Hier vergeude ich doch nur die Zeit. Mit einem neuen Körper könnte ich wieder von Nutzen sein. Ich will dann auch ein wenig anders leben - das verspreche ich dir. Jetzt weiß ich, wie man es besser machen kann.“
„Rainer, Rainer, du bringst mich mal wieder zum Lachen. Hier gibt es keine Zeit. Begreife, dass du in der Schule des Geistes in der ersten Klasse sitzt - und hier haben wir erst angefangen. Du hast gerade die Einschulung hinter dich gebracht.“
„Es freut mich, dass ich dir so viel Spaß bereite. Wenigstens als Hofnarr scheine ich mich zu eignen. Aber sage mir, hört das eigentlich niemals auf mit der Lernerei?“
„Nein, niemals!“
„Das sind ja schöne Aussichten!“
*
Leute, ich sage euch, ich begriff zu diesem Zeitpunkt noch sehr wenig und sehnte mich nach meinem Leben zurück. Das andere Bewusstsein ging mir - wie ihr es sicher schon bemerkt habt - ganz schön auf den Wecker. Obwohl es mir nun wirklich gut gesonnen war und mir in meiner Verlorenheit als Jenseitiger sehr liebevoll und hilfreich zur Seite stand, konnte ich nicht anders, als ihm mit Trotz zu begegnen, weil ich mit meinem Zustand irgendwie nicht zurechtkam. Es war ja auch sonst niemand da, an dem ich hätte meinen Frust ablassen können.
Ich glaube, ihr versteht mich, denn ihr werdet als Lebende die gleichen Fragen und Bedenken haben. Damit es euch nicht langweilig wird, erzähle ich euch am besten mal wieder eine Episode aus meinem irdischen Leben.
Ihr erinnert euch gewiss noch an Röschen, meine gutherzige Sekretärin, die auf meiner Beerdigung aufrechte Tränen der Trauer vergoss. Ich sage euch, es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden, wie abscheulich ich mit Röschen umgegangen bin, so dass ich mich noch als Jenseitiger dafür schämen muss. Wahrscheinlich habe ich damals den größten Fehler meines Lebens begangen, weil ich viel zu sehr auf mich selbst ausgerichtet war.
Na ja, ihr wisst ja bereits, dass ich zu meinen Lebzeiten kein Sängerknabe war, so dass ich euch wahrscheinlich mit nichts mehr schocken kann. Es ist wichtig, dass ihr aus meinen Geschichten lernt, damit ihr nicht die gleichen Fehler begeht.
Nun bin ich der Letzte, der euch belehren kann. Hierzu eigne ich mich wirklich nicht. Aber als leuchtendes Beispiel, wie man es besser nicht machen sollte, bin ich perfekt.
Unsere Weihnachtsfeier im Jahr 2011 sollte der krönende Abschluss eines äußerst erfolgreichen Jahres werden. Werner und ich hatten hierfür ein Restaurant der Extraklasse ausgewählt. Die gesamte Belegschaft hatte sich schwer in Schale geworfen, zumal nach dem Speisen noch der Besuch einer Edeldisco auf dem Programm stand. Aber Röschen übertraf sie an diesem Abend alle. Bei ihrem Erscheinen blieb uns allen die Spucke weg. Sie hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Röschen musste wohl offensichtlich bei einem Stylisten gewesen sein. Ihr Outfit war atemberaubend. Sie trug ein schlichtes kleines Schwarzes, das ihre mollige Figur fast schlank erscheinen ließ. Ihre bequemen Leisetreter, die kein Männerherz höherschlagen ließen, hatte sie treffsicher, passend zum Kleid, gegen aufregende Highheels eingetauscht, die das kleine Persönchen mindestens zehn Zentimeter größer erscheinen ließen. Ihr liebes Gesicht strahlte jetzt eine vornehme Schönheit aus. Es war raffiniert, aber dennoch dezent geschminkt. Auch das lange blonde Haar, das Röschen im Alltag stets einfallslos zusammengebunden trug, fiel ihr heute in weichen Wellen über die Schultern. Ich konnte meinen Blick gar nicht von ihr wenden und überschüttete sie mit Komplimenten, die sie einerseits sehr genoss, ihr aber andererseits auch sichtlich peinlich waren, so dass sie hierbei öfter errötete und verschämt zur Seite blickte.
Röschen war nun einmal ein sehr bescheidener, zurückhaltender Mensch, der nicht gern im Mittelpunkt stand. Jedenfalls wich ich an diesem Abend nicht von ihrer Seite. Für mich stand fest, dass ich mit diesem scheuen Aschenputtel die Nacht verbringen würde. Hierzu musste ich meine Beute erst einmal enthemmen. In der Disco flößte ich Röschen dann einen Cocktail nach dem anderen ein. Nachdem sie schon ziemlich angeheitert war, ging ich über zum Balztanz. Das war so meine Vorgehensweise, die eigentlich immer zum Erfolg führte. Eng umschlungen schwebte ich nun mit Röschen zu schwülstiger Schmusemusik über die Tanzfläche und flüsterte ihr Worte meiner Begierde ins Ohr. Ich sage euch, das haut die standfesteste Maid aus den Schuhen. Es dauerte auch nicht lange, bis ich spürte, dass Röschen am ganzen Körper vor Erregung zitterte und zu Wachs in meinen Händen wurde. Jetzt wurde es höchste Zeit, die Örtlichkeit zu verlassen, damit mir mein Opfer letztendlich nicht noch entwischte, weil es nach dem reichlichen Alkoholgenuss von plötzlicher Müdigkeit übermannt wurde. Das konnte alles passieren und mir einen Strich durch die Rechnung machen.
Werner schüttelte den Kopf, als ich mit Röschen verschwinden wollte. „Du wirst doch wohl nicht mit Röschen!“
„Halte dich da gefälligst raus, mein Alter, schließlich ist sie meine Sekretärin“, entgegnete ich genervt.
Ziemlich empört rief er mir nach: „Du gehst über Leichen, Rainer, das ist wirklich zum Kotzen!“
Werners Moralpredigten waren mir völlig egal. Er war nun einmal der Bessere, aber auch der Langweiligere von uns beiden. „Kein Wunder, dass er sich so schwer tut mit den Frauen“, dachte ich im Hinausgehen.
Jedenfalls verbrachte ich eine heiße Liebesnacht mit Röschen und kam hierbei voll auf meine Kosten. Ihr mit reizvollen Rundungen gesegneter Körper war weich und anschmiegsam. Ich muss es zugeben, es war mit Abstand das Beste, was ich je erlebt hatte. Röschen war sehr sinnlich. Sie gab mir das Gefühl der absoluten Überlegenheit. Ihr zitternder Körper drängte sich dem meinen verlangend entgegen. Jede ihrer Bewegungen erschien mir wie eine Bitte um eine sofortige Erlösung der süßen lustvollen Qual. Ich genoss ihr großes Verlangen nach der Vereinigung und fand es wunderbar, dass sie hierbei nicht fordernd wurde, sondern mir die Alleinherrschaft des reizvollen Spiels übertrug. So ließ ich sie so lange unter mir zappeln, bis ich selbst vor lauter Lust kurz vorm Explodieren war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je ein Vorspiel derart lang hinausgezögert zu haben. Aber mit Röschen war es für mich ein Riesengenuss.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, schlief Röschen noch tief und fest. Sie sah aus wie ein Engel, unschuldig und verletzbar. Ich erwischte mich dabei, dass ich es schön fand, neben ihr aufzuwachen. Es war das erste Mal, dass es mich nicht nervte, eine Frau, mit der ich die Nacht verbracht hatte, am nächsten Morgen noch um mich zu haben. Jetzt freute ich mich sogar auf ein gemeinsames Frühstück.
Ich ging gut gelaunt in die Küche, kochte Kaffee und deckte den Frühstückstisch. Aber plötzlich wurde ich vom Teufel geritten. In meinem Kopf wüteten Attacken der bösesten Vorwürfe, die jenes zart aufkeimende Pflänzchen von Liebe auf der Stelle töteten: „Jetzt reicht es aber - höre sofort mit dieser Gefühlsduselei auf - du hast dich nicht mehr im Griff! Was ist mit deinen guten Vorsätzen? Eine feste Bindung ist nichts für dich - sie macht dich unfrei!“
Ich gehorchte dem bösen Geist und räumte den Frühstückstisch wieder ab. Der Höflichkeit wegen brachte ich Röschen lediglich einen Kaffee ans Bett und erklärte ihr hierbei ziemlich förmlich, dass ich jetzt schnellstens zu einem Termin aufbrechen müsste.
Röschen schluckte und ich bemerkte, dass es ihr schwer fiel, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber sie hatte sofort begriffen. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie kein großes Trara darum machte und der vergangenen Nacht offensichtlich nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Während ich ihr ein Taxi bestellte, zog sie sich rasch an und begegnete mir ebenso förmlich, wie ich es ihr gegenüber tat. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um, sah mit ihren großen blauen Augen direkt in die meinen und erwähnte abschließend: „Ich möchte Sie noch um eines bitten, Rainer.“ Sie siezte mich wieder. „Das Mädchen lernt schnell“, dachte ich voller Erleichterung, nicht ahnend, was jetzt kam.
„Nennen Sie mich bitte nicht immer Röschen, das klingt einfach respektlos. Mein Name ist Rosemarie!“
Bums - das hatte gesessen. „Röschen“ klang für mich ganz und gar nicht respektlos, sondern eher liebevoll. Mir war schon klar, dass sie mit ihrer diesbezüglichen Entscheidung künftig jegliche Vertrautheit, die über unsere Arbeit hinausging, ausschließen wollte. Nun, ich war gekränkt und wusste nichts zu erwidern. An diesem Tag plagte mich wirklich das schlechte Gewissen. Ich schämte mich für meine Verantwortungslosigkeit. Aber letztendlich war ich davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Alles andere hätte zu einer tieferen Beziehung geführt - und das wollte ich nicht.
Nie wieder erwähnten Röschen und ich ein Wort über die besagte Nacht. Wir verbannten sie einfach aus unserem Gedächtnis und machten arbeitsmäßig weiter wie bisher, allerdings mit einer sich hieraus ergebenden Konsequenz - aus dem naiven „Röschen“ wurde „Rosemarie“, die Respektperson.
*
„Bereust du dein Vorgehen?“
„Ach, du schon wieder!“
„Ja, ich schon wieder. Bereust du nun dein Vorgehen?“
„Irgendwie schon! Mit Röschen hätte ich wohl einen guten Fang gemacht. Ich glaube, mit ihr wäre ich glücklich geworden. Aber ich hatte Angst, mich zu binden und hierdurch unfrei zu werden.“
„Wer Angst vor Bindung hat, der ist unfrei!“
„Das kann ich so nicht sehen. Ich konnte schließlich machen, was ich wollte - war niemandem Rechenschaft schuldig.“
„Warst du glücklich dabei?“
„Es kommt darauf an, was man unter Glück versteht. Ich wollte allein leben und frei sein. Das habe ich getan. Ergo war ich wohl glücklich.“
„Ich sage dir, du warst es nicht!“
„Woher willst du wissen, was mich glücklich macht?“
„Weil du ein Teil von mir bist - weil ich alles über dich weiß - weil ich Dinge weiß, die du nicht weißt!“
„Ja, dann nenne mir die Allheilformel und lasse mich hier nicht so dumm dastehen!“
„Hier wären wir wieder bei deiner Ungeduld. Du willst die Lösung, aber verstehst den Rechenweg nicht. Ein Bergsteiger muss auch Schritt für Schritt alle Hindernisse an der steilen Wand überwinden, um den Gipfel zu erreichen. Du aber willst die schöne Aussicht genießen, ohne den Berg zu erklimmen. Wir sind also wieder auf dem Jahrmarkt, im Land der Zauberei, mein Lieber!“
„Warum muss denn immer alles mit derart viel Mühe verbunden sein? Wer sich nicht müht, hat demnach nichts zu erwarten. Manchmal hat man aber die Schnauze voll von all dem Mühen. Warum bekommt man dann nicht auch einmal etwas geschenkt, ein kleines Wunder - so ganz ohne Mühe? Das könntest du doch auch einmal tun in all deiner großen Barmherzigkeit!“