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»Jetzt mache dir mal keine Gedanken. Wir haben noch genug Zeit. Trinke doch noch eine Tasse oder eine Flasche Wasser. Je mehr du darüber nachdenkst umso mehr setzt du dich unter Druck. Mentaler Druck natürlich, nicht Blasendruck.«
Ich lächelte. Mein Vater konnte sich keines abringen. Was schien in seinem Kopf vorzugehen? Macht er sich jetzt einen solchen Stress wegen des Nichtkönnens? War er einfach zu aufgeregt wegen des Termins? Wie sollte ich ihn jetzt ablenken?
Von draußen drang Lärm durch die Fenster. Das Vorgebäude des Krankenhauses wurde abgerissen. Die hintere Außenwand war bereits weg. Zimmer in verschiedenen Größen waren zu erkennen. An manchen Wänden abgerissene Tapeten. An anderen Kacheln oder der blanke Putz. Farblich war keine Einheit zu erkennen. Scheinbar war jedes Zimmer eine eigene Parzelle gewesen.
»Furchtbar wie das aussieht. Alle Zimmer haben eine andere Farbe. Selbst die Kacheln sind unterschiedlich. Richtige Wohnungen waren das wohl nicht. Scheint irgendwie so, als ob jedes Zimmer für sich selbst war. Die gekachelten Räume müssen Bäder oder Küchen gewesen sein. Auf jeder Etage jeweils nur zwei. Vielleicht waren es Wohngemeinschaften.«
Der Blick meines Vaters verharrte auf dem Abrisshaus.
»Kann sein. An den Wänden ist aber schon lange nichts mehr gemacht worden. Diese Farben hat man schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo die nur den ganzen Bauschutt hinfahren werden? Obwohl, ich habe schon gesehen, dass dieser zerkleinert wird und später zum Auffüllen bzw. Glätten der ausgehobenen Grube benutzt wird. Ist ja auch eine gute Idee.«
Einige Minuten unterhielten wir uns über das, was wir draußen sahen. Mein Vater erzählte von seiner Zeit als Maler und Weißbinder. Diese lag nun schon dreißig Jahre zurück. In seinen Erzählungen verknüpfte er zur gegenwärtigen Zeit. Gerne sprach er von seinem erworbenen Wissen im erlernten Beruf. Ganz besonders von den Tricks und Kniffen, die er in all den Jahren gelernt hatte. Seine Gedanken entfernten sich vom Jetzt. Die Urinprobe hatte er für diesen Moment vergessen. Ich schmunzelte.
»Der Kaffee erfüllt seine Aufgabe. Gehen wir wieder hinter. Jetzt kann ich mal.«
Als er aus der Toilette kam, war der Erfolg seiner. Zufrieden stellte er den Becher auf dem Wagen ab und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Kurz danach wurde er aufgerufen. Er erhob sich und nickte mir zu. Ich stand auf und ging mit ihm.
Das Gespräch mit dem Arzt verlief sehr gut. Ein überaus sympathischer Mann. Eine sehr angenehme ruhige Stimme und Art. Nachdem er uns erklärt hatte, was die Ursache ist, welche Untersuchung er vornehmen wird und welcher weitere Verlauf kommen wird, war unser Vertrauen seines. Er bat meinen Vater sich auf eine Untersuchungsliege zu legen. Zuvor möge er bitte seine Hose und den Pulli ausziehen. Mit einem Ultraschallgerät fuhr er über den Unterbauch. Auf einem Bildschirm konnte man schwarze, dunkelgraue, hellgraue und weiße Felder sehen. Dass ein Arzt darin etwas Brauchbares erkennen kann, war für mich unmöglich nachzuvollziehen.
Nach der Untersuchung saßen wir zusammen und besprachen die weitere Vorgehensweise. Eine Operation war nötig. Einzelne Punkte wurden abgestimmt. Wie nötig? Wann? Wie lange? Wo? Welche Probleme? Erfolgchancen?
Für den Moment ergaben sich keine weiteren Fragen. Weder von meinem Vater, noch von mir. Wir bedankten uns und verließen das Arztzimmer. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, atmete mein Vater durch. Eine gewisse Zufriedenheit war darin zu erkennen.
»Gut, dass wir das gemacht haben. Ein sehr guter Arzt. Der weiß sehr viel von seinem Fach. Eine richtige Größe, sehr patent.«
»Es freut mich, dass du dies so siehst. Jetzt weißt du, wissen wir, mehr. Wenn dir noch Fragen einfallen, dann schreibe sie mal auf. Professor D. hat dir angeboten, dass du ihn auch anrufen kannst. Solltest du das nicht wollen, können wir ihm auch eine Mail schreiben. Ich denke mal, deine Entscheidung war richtig. Dem Professor kannst du vertrauen. Oder siehst du das anders?«
»Nein, das wird schon alles gut laufen. Wollen wir uns noch ein Stück Kuchen mitnehmen? Darauf hätte ich jetzt mal richtig Lust.«
Während der ganzen Fahrt zurück nach Hause sprach mein Vater kein Wort. Ich wusste nicht genau, wie ich sein Schweigen hätte brechen können. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Er nutzte diese Zeit für seine Gedanken. Dies sollte er auch. Kurz bevor wir ankamen, bat er mich, nicht zu viel von der Untersuchung meiner Mutter zu erzählen. Mein uneingeschränktes Einverständnis fand er darin nicht. Ich versprach es ihm trotzdem. Zugleich bat ich ihn, sie nicht zu lange unwissend zu lassen. Als wir zu Hause angekommen waren, hatte mein Vater wohl noch einmal über sein Vorhaben nachgedacht. Von sich aus und ganz in seinen eigenen Worten erzählte er meiner Mutter von unserem Gespräch mit Professor D. Die wenigen Fragen meiner Mutter konnten wir beantworten. Die nächsten Tage vergingen recht schnell. Fragen ergaben sich für meinen Vater nicht. Auch mir wäre nichts Weiteres eingefallen, was zu beantworten gewesen wäre. Der Termin für die Operation stand. Die entsprechenden Voruntersuchungen wurden einen Tag zuvor vorgenommen.
Nun war der Tag gekommen. Wie das eben ist, wenn man vor einem großen Schritt steht, blieb auch bei uns die Aufgeregtheit nicht aus. Mehrfach wurde nach allem gesehen. Haben wir nichts vergessen? Sind alle wichtigen Dinge eingepackt? Alle in unseren Händen befindlichen Unterlagen komplett? Als würde er in eine andere Welt reisen. Keine Möglichkeit mehr, vergessene Dinge zu besorgen. Der Moment spannte sich. Es klingelte, mein Onkel hatte angeboten uns zu fahren. Grosse Tasche, kleine Tasche und die aktuellen Zeitungen, nichts vergessen und alles im Auto verstaut. Wir stiegen ein und fuhren zum Krankenhaus. Schon alleine dieses Wort war eines, das meinen Vater fürchten ließ. In seinem bisherigen Leben musste er nur zwei Mal ins Krankenhaus. Eine Einrichtung, auf die er ohne Probleme verzichten konnte. Warum nur? Bekommen wir dort nicht in vollem Umfang das, was wir in der jeweiligen Situation brauchen? Sind wir dort nicht in den besten Händen? Mangelt es uns am Vertrauen? Ist unser individueller Fall nicht berechtigt, entsprechende Aufmerksamkeit zu bekommen? Tausendfach werden täglich die verschiedenen Operationen vorgenommen. Wir sind nicht alleine mit unserem medizinischen Problem. Ein Einzelfall sind wir ebenso wenig. Also, vertrauen wir auf die Kapazitäten. Vertrauen wir auf die medizinischen Kenntnisse der Ärzte. Vertrauen wir auf die jeweilige Kompetenz der Fachärzte. Vertrauen wir auf unser Schicksal. Es will nichts Böses mit uns. Alles, was es für uns geplant hat, durchlief die umfangreichsten Überlegungen. Jede einzelne Situation, die uns konfrontieren soll wurde durchdacht. Jede einzelne als solche selbst. Die Verbindungen zu anderen ziehen wir Menschen selbst.
Voller Optimismus betrat mein Vater das Krankenhaus. Wie hätte es auch anders sein können, Schwäche zeigte er nicht. Wer ihn gut kannte, wusste aber, dass er Angst hatte. Dritter Stock letztes Zimmer auf der linken Seite. Ein Zweibettzimmer, hell gestrichen, gelbe Vorgänge, eigenes Bad und Toilette, Telefon, Fernseher und Balkon, ein sehr angenehmer Raum. Mein Vater fühlte sich wohl. Für lange würde er sich ohnehin nicht einrichten müssen. Meine Mutter packte die Taschen aus. Mit Sorgfalt räumte sie seine Sachen in den Schrank. Dabei schüttelte sie mehrfach den Kopf und ließ ihrem Unmut über den wenigen Platz freien Lauf. Sie bemängelte die Temperatur des Zimmers, die große Glasfront zum Balkon, die beschränkte Möglichkeit sich im Bad zu bewegen und das grelle Licht im Zimmer. Sie war unzufrieden. Weder die nach ihrer Meinung zu kleinen Schränke noch einer der anderen Mängel trafen zu. Sie wollte meinen Vater einfach nicht dort lassen. Sie sah sich ihrer Fürsorge für ihn beraubt. Egal, was die nächsten Tage kommen wird, sie musste es ohne ihr Zutun geschehen lassen. Mehr noch, sie hatte Angst. Angst davor, ihren Ehemann zu bringen, ihn von fremden Menschen operieren zu lassen und dann einen anderen Mann zurück zu bekommen. Mit allem, was ihr zur Verfügung steht, hält sie fest, loslassen kann sie nicht. Hatte sie nicht schon zu viel von dem loslassen müssen, was ihre Geborgenheit in Liebe ausmacht? Seit sie denken kann, sehnte sie sich nach dieser Geborgenheit. Nach der Liebe, die ihr die Menschen einer Familie geben. Die ersten Jahre ihres Lebens prägten sie.
Ihre Mutter war eine sehr schöne junge Frau. Behütet durch ein strenges Elternhaus. Während eines Tanzabends lernte sie einen Mann kennen. Die Worte des Mannes und die empfundene Freiheit des Abends raubten ihr die Sinne. Ihr Herz stand in Flammen. Was geschehen musste, geschah. Heute sagen wir ein gelungener one night stand. Für die damalige Zeit unvorstellbar und gegen jegliche Sitte und Ordnung. Meine Großmutter trug sich neun Monate mit schwerem Herzen voller Scham. Von dem Mann hörte sie nichts mehr. Die Mutter meiner Großmutter empfand den Familiennamen ruiniert. Eine junge Frau, schwanger und ohne Mann. Das verfluchte Ergebnis der Begierde hat kein Recht zu leben. Um eine Abtreibung vorzunehmen, war die Schwangerschaft schon zu weit. Sie beschloss die Frucht der Schande sofort wegzugeben. Meine Mutter wurde geboren. Mit dem Namen Maria wurde dies in den öffentlichen Büchern registriert. Danach wurde sie sofort in ein Kloster gebracht. Nonnen sollten sich von da an um sie kümmern. Schon gleich bekam sie den Namen Gudula. Nach Ansicht der Nonnen durfte eine wie sie den Namen Maria nicht tragen. Ein trauriges Mädchen wuchs heran. In ihrem inneren Herzen sehnte sie sich nach einer Mutter und einem Vater. Nach einem warmen und herzlichen Leben in einer Familie. Sie verzehrte sich nach Geborgenheit in Liebe. Wusste sie aber doch, dass sie dies niemals haben wird. Das Leben im Kloster war hart und ohne jegliche Zuneigung. Für alles wurden die Mädchen bestraft. Mit Zucht und Ordnung, wie man das seinerzeit nannte, wurden sie immer daran erinnert, dass sie nicht gewollt waren. Man ließ sie mit dem Blut ihrer Seele dafür bezahlen, was ihre Mütter getan hatten. Viele Jahre wurde meine Mutter fremden Menschen vorgeführt und präsentiert. Keiner dieser entschied sich für sie. Für sie gab es auf der ganzen Welt niemanden, der sie liebt. Als sie acht Jahre war, kam sie zu Pflegeeltern. Wohlgemerkt Pflegeeltern, eine Adoption war ausgeschlossen. Wie man meiner Mutter viele Jahre später einmal sagte, wollte man damit ausschließen, dass sie einen Platz in der Erbfolge findet. Immerhin war sie nicht das eigene Fleisch und Blut. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr lebte sie bei ihren Pflegeeltern. Auf ein Leben voller Zwang zum christlichen Glauben schaute sie zurück. Jeder Tag war durch das Wort Gottes bestimmt. Nicht einer verging ohne Gebete und Messen. War sie nicht eine, von der man verlangte, dass sie um Vergebung zu bitten hat. Um Vergebung dafür, welchen Ursprung sie hat. Ob Gott ihr vergeben hat, ist bis heute ungeklärt. Ebenso ist ungeklärt, ob Gott die unter Zwang geforderte Demut gewollt hat. Als Handwerker hatte mein Vater einen Auftrag in der Nachbarschaft der Pflegeeltern angenommen. Meine Mutter lernte meinen Vater kennen. Das Dorf sprach über diese Unsitte. Nicht, dass mein Vater als Mann das Thema war. Viel mehr war man darüber aufgebracht, dass er eine andere, falsche Konfession hat. Mein Vater gehörte dem evangelischen Glauben an. Unvorstellbar für die Gemeinde. Die Pflegemutter meiner Mutter sah keinen anderen Ausweg als die Beichte und die damit verbundene Bitte um Vergebung vor dem Herrn. Was anderes als dem nachzugeben, hätte meine Mutter tun sollen? Meine Mutter vollzog die Beichte ohne meinen Vater zu erwähnen. Am Ende der Beichte sprach der Pfarrer meine Mutter direkt auf ihre Sünde an. Hier war wohl der richtige Moment gekommen. Meine Mutter teilte dem Pfarrer mit, dass ihn dies in keinster Weise zu interessieren hätte und sie nicht im Geringsten daran denken würde für die Liebe zu diesem Mann um Vergebung zu bitten. Sie verzichtete auf den Segen, stand auf und verließ die Kirche. Nicht nur das, noch am selben Tag verließ sie das Dorf, in welchem sie die letzten dreizehn Jahre lebte. Sie ging als die, als die sie auch gekommen war. Sie ging als Fremde.
»Mutter, nun mache mal langsam. Du musst den Vater nicht weggeben. Er wird an der Prostata operiert. Diese Operation kann nicht zu Hause vorgenommen werden.«
»Ach, es ist doch wahr. Wer soll sich denn hier um ihn kümmern?«
Ihre Worte waren voller Resignation.
»Schaue mal, wir sind in einem Krankenhaus. Hier wird sich um die Patienten gekümmert. Wer sonst, als die Menschen hier kann das besser. Sei mal ein bisschen zuversichtlicher, sonst hat der Vater auch keine Lust mehr und wir müssen ihn gleich wieder mitnehmen.«
»Das wäre mir am liebsten. Ich habe ein schlechtes Gefühl.«
»Jetzt ist aber mal Schluss. Die Operation steht an. Sie wird vorgenommen. Spätestens morgen Abend wirst du dies ebenso sehen.«
Mit dem Versprechen an meinen Vater, ihn gleich anzurufen, verabschiedete sich meine Mutter von ihm. Tränen standen in ihren Augen. Dies war einer dieser besonderen Momente. Meine Eltern überschütteten sich nie mit übertriebenen Liebesbekundungen. Für beide stand fest, dass dem nicht sein muss, wenn man sich der Liebe für den anderen und des anderen sicher sein kann. An dieser Sicherheit gab es bei meinen Eltern nie einen Moment des Zweifels. Eigentlich ein schönes Paar. Meine Mutter suchte nach einem Mann wie ihm. Mein Vater war glücklich eine Frau wie sie gefunden zu haben. Sie ergänzten sich in sehr vielen Dingen. Jeder akzeptierte den anderen wie er ist. Gegenseitig überließen sie sich die jeweilige Aufgabe. Grundsätzliches entschieden sie gemeinsam. Wenn auch einer der beiden dem anderen den Weg dazu manches Mal ebnete. Nicht immer waren sie in allen Dingen einer Meinung. Fanden aber im Ergebnis immer eine gemeinsame Basis.
Ich stand neben ihnen und lächelte. Einen leicht gereizten Blick erntete ich dafür von meiner Mutter. Als sie mich anschaute, blinzelte mein Vater mir zu, machte einen Schmollmund und schüttelte leicht den Kopf. Seine ganz eigene Art zu sagen, »Lass’ sie mal, das wird schon wieder«. Ich lachte, mein Vater lachte, meine Mutter ebenso. Wir gingen.
Die Operation verlief sehr gut. Meine Mutter und ich erkundigten uns beim diensthabenden Arzt. Genau so, wie es Professor D. befunden hatte, musste die Prostata meines Vaters geschält werden. Er erklärte uns in verständlichen Worten, was alles gemacht wurde und was für die nächsten Tage ansteht. Wir verspürten eine Zufriedenheit. Professor D. war an den nächsten zwei Tagen nicht zu erreichen. Er war zu einer Tagung gefahren. Sobald er zurück sein wird, würde er sich mit uns in Verbindung setzen. Diese Aussage verwunderte uns nicht. Nach dem Gespräch gingen wir zu meinem Vater. Er lag in seinem Bett. Seine Augen waren geschlossen. Eine Doppelkanüle war an seiner linken Hand angebracht. Eine weitere Einzelkanüle an seiner rechten. An der Seite seines Bettes hing ein Urinbeutel. Durch einen Katheter floss ein Gemisch aus Urin und Blut hinein. Nicht ungewöhnlich nach einer solchen Operation. Mein Vater vernahm uns. Er öffnete die Augen und blinzelte uns zu. Er versuchte sich ein bisschen aufzurichten. Meine Mutter half ihm. Mit seinen eigenen Worten sagte er uns, dass alles gut gelaufen sei und er jetzt nur noch ein paar Tage bleiben muss. Sobald der Katheter entfernt werden kann, würde er das Krankenhaus verlassen. Zuversicht und Freude waren bei ihm zu erkennen. Meine Mutter war erleichtert. Die nächsten zwei Tage verliefen bestens. Mein Vater erholte sich gut. Die am ersten Tag notwendigen Schläuche waren entfernt worden. Mein Vater fasste sogar den Mut aufzustehen und mit seinem Urinbeutel auf den Gang zu gehen. War es für ihn am ersten Tag noch ein Ding der Unmöglichkeit dies zu tun. Allerdings registrierte er schnell, dass nahezu alle anderen Patienten dieser Station ebenso mit einem Urinbeutel ausgestattet waren. Meine Mutter hatte Torte mitgebracht. Als mein Vater diese sah, verschwand alles um ihn herum. Weder der Urinbeutel, noch die Operation oder das Krankenhaus selbst konnten seine Stimmung jetzt trüben. Ein Stück Buttercremetorte war angesagt. Dazu eine Tasse Kaffee. Was kann es besseres geben.
Am nächsten Tag bekam meine Mutter einen Anruf von Professor D. Er bat uns, meine Mutter und mich, zu einem Gespräch in seine Praxis. Noch am selben Tag sollte das Gespräch stattfinden. Meine Mutter rief mich an.
»Professor D. hat mich angerufen. Er möchte sich mit mir und dir unterhalten. Heute Nachmittag sollen wir zu ihm kommen. Ich bin fix und fertig. Was will er von uns? Garantiert ist etwas Schlimmes passiert.«
»Moment mal. Das weißt du doch gar nicht. Was hat der Professor dir denn gesagt? Ist ein Problem während der Operation aufgetreten? Ist jetzt in der Nachbehandlung etwas eingetreten, was nicht vorhersehbar war? Überlege mal, was genau hat er dir gesagt?«
»Er rief an. Er sagte, dass die Operation gut verlaufen war. Jetzt würde er sich gerne mit uns darüber unterhalten.«
»Also, wie kommst du dann gleich auf das Schlimmste? Nach der Operation war er ein paar Tage auf einem Meeting. Zeit mit uns zu sprechen gab es noch nicht. Vielleicht ist das ganz normal. Wann sollen wir denn bei ihm sein?«
Ich wusste nicht genau, ob ich meine Mutter mit meinen Worten erreichen konnte. Viel mehr verspürte ich eine Ungewissheit in mir. Hatte sie mich mit ihren Worten der Angst mehr erreicht als ich sie mit meinen? Um was würde es in dem Gespräch mit Professor D. gehen? War es der normale Prozess nach einer OP? Wie sollte ich mich darauf vorbereiten? Die Ungewissheit ließ mich nicht mehr los. Ich holte meine Mutter pünktlich ab. Sie war aufgeregt und hätte am liebsten laut geweint. Ich wiederholte meine Worte aus unserem Telefongespräch. Andere wären mir auch nicht eingefallen. Wir betraten die Praxis, meldeten uns am Empfang und warteten bis uns der Professor abholte. Er begrüßte uns freundlich und bat uns ihm zu folgen. Voller Erwartung taten wir das. In seinem Zimmer nahmen wir Platz. Er schloss die Tür und setzte ich zu uns.
»Schön, dass unser Termin so kurzfristig möglich war. Möchten Sie etwas trinken?«
Meine Mutter und ich verneinten. Die Augen meiner Mutter klebten an ihm, folgten jeder Bewegung. Ungeduld zeichnete ihr Gesicht.
»Bitte sagen Sie uns, was los ist. Welches Problem ist aufgetreten?«
Ihre Aufregung war bei diesen Worten zu spüren.
»Wie ich Ihnen schon sagte, verlief die Operation bestens. Die Prostata Ihres Mannes war sehr verengt. Grosse Ablagerungen hatten sich gebildet. Wir mussten ein bisschen mehr abschälen als zuvor befunden. Durch die Prostata verläuft die Harnröhre. In diesem Teil der Harnröhre haben wir einen Knoten festgestellt. Nach den Untersuchungen ergab sich für uns ein abgeschlossenes Karzinom. Die Besonderheit daran ist, es ist sehr aggressiv, schnellwuchernd und bösartig.«
Karzinom und bösartig. Das waren die Worte, welche weder meine Mutter noch ich hören wollten. Mit allem hätten wir gerechnet, damit nicht. Keine, auch noch so kleine Schwingung in unseren Gedanken, wäre in diese Richtung gegangen. Mein Vater hat Krebs. Dieses Wort raste durch meinen Kopf. Und manifestierte sich irrsinnig tief in meinem Inneren. Meine Mutter saß neben mir mit einem Blick voller »Das kann nicht sein« schaute sie Professor D. an. Sie schüttelte ihren Kopf als wollte sie die Worte noch einmal sortieren, die eben zu ihr kamen.
»Sie müssen sich irren. Mein Mann ist wegen seiner Prostata hier und operiert worden.«
Tränen stiegen in ihre Augen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte in Fassungslosigkeit. Ihr Blick war voller Hoffnung mit dem Schatten der Hilflosigkeit. Beide schauten wir zu Professor D.
»Nein, es tut mir leid. Ihr Mann hat Krebs. Diese Art des Krebses ist relativ unbekannt. Über wenig Kenntnis verfügt die Medizin darin. Wie gesagt, es handelt sich um eine sehr aggressive, schnellwuchernde und bösartige Art. Es tut mir leid, Ihr Mann hat Krebs.«
Meine Mutter konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie ließ ihrer Betroffenheit freien Lauf. So, wie in diesem Moment habe ich sie bis zu diesem Tag lediglich nur einmal erlebt. Aufgelöst in Tränen der Bestürzung und Verzweiflung saß sie da. Dies war vor knapp 20 Jahren. Damals kamen meine Eltern nachts aus dem Krankenhaus zurück und kämpften mit dem, was ihnen der Arzt nur kurz zuvor mitgeteilt hatte. Mein Bruder war in dieser Nacht verstorben. Sah sie sich nun wieder konfrontiert mit dem Verlust eines Menschen? Überging sie das, was uns Professor D. eben sagte und sah sie schon in diesem Moment die Letztendlichkeit dieser Krankheit? Ihre Augen fokussierten mich. Die Tränen liefen auf Ihren Wangen herunter.
»Warum muss das sein? Dein Vater ist ein so liebevoller Mensch. Er hat noch nie etwas Böses getan. Alle kommen so gut mit ihm aus. Wieso muss er das haben?«
»Mutter, darum geht es nicht. Was du als »das« bezeichnest, heißt Krebs. Es ist eine Krankheit. Mein Vater, Dein Mann hat Krebs. Jetzt müssen wir sehen, was wir tun können. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird dir keiner beantworten. Bei einer Krankheit sollte diese Frage sowieso nicht gestellt werden«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Verzweiflung schwächte sie.
»Dein Vater, mein Ehemann wird sterben. Muss ich denn schon wieder einen Menschen verlieren? Womit habe ich das verdient?«
»Du denkst bereits jetzt über seinen Tod nach. Jetzt schon betreibst du Trauerarbeit. Du, wir haben noch nichts verloren. Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Du hast das Recht zu weinen. Du sollst weinen, das ist gut. Trauern brauchst du noch nicht. Erst müssen wir sehen, was wir tun können. Wenn es irgendwann soweit ist, dass der Vater sterben wird, dann kannst du trauern. Nicht nur du, alle werden wir dann trauern. Doch jetzt ist effektiv nicht die richtige Zeit.«
Professor D. schaute mich voller Bewunderung an. Was genau hatte ich gesagt, was ihn dies tun ließ? Hatte ich etwas Falsches aufgenommen oder wiedergegeben? War es mir nicht selbst zum weinen. Am liebsten hätte ich laut geschrieen? Meinen Tränen freien Lauf gelassen.
»Ihr Sohn hat Recht. Momentan überwältigt Sie das alles. Es ist nicht einfach einen Befund wie diesen zu bekommen. Sie müssen es annehmen. Nachdem wir das Karzinom gefunden haben, müssen wir überlegen, welche die richtige Behandlung ist. Die Art dieses Krebses ist recht selten. Viele medizinische Erkenntnisse darüber gibt es leider noch nicht. Was allerdings nicht heißt, dass wir gar nichts tun können. Mit Ihrem Mann habe ich bereits gesprochen. Ich denke, Sie sollten jetzt zu ihm gehen und wir sehen uns die nächsten Tage um alles weitere zu besprechen. Seinen Aufenthalt werde ich um zwei Tage verlängern. Diese Zeit benötigen wir, um noch eine weitere Untersuchung vorzunehmen.«
Meine Mutter schaute zu Boden. Sie schüttelte ihren Kopf. Diesen Gedanken wollte sie einfach wieder loswerden. Was ging in diesem Moment in ihr vor? Professor D. verabschiedete uns. Sein Blick war verständnisvoll und empfindend zugleich. Wir standen am Aufzug und warteten bis er kam. Noch nie war mir das Warten so lange vorgekommen wie in diesem Moment. Meine Mutter war absolut in sich gekehrt. Ich legte meinen Arm um sie.
»Was soll ich nur ohne deinen Vater machen? Wie soll das alles weitergehen?«
»Diese Gedanken brauchst du dir jetzt noch nicht machen. Wir müssen erst einmal sehen, was Professor D. an Behandlungsmethoden aufzeigen kann. Die Medizin ist heute schon recht weit auf dem Gebiet des Krebses. Ich gehe davon aus, dass er einen Weg, eine Behandlung finden wird. Mache dir jetzt nicht zu viele Gedanken.«
»Dieser Krebs ist selten, hat er gesagt. Was soll er da an Möglichkeiten finden?«
»Diese Form des Krebses ist selten, das ist richtig. Darüber hinaus aggressiv und schnellwachsend. Vom Grundsatz ist es aber Krebs. Das heißt, es kann keine Symptombehandlung geben. Es muss an der Basis etwas getan werden. Weder du noch ich verfügen über ein umfassendes Wissen in diesem Thema. Wir müssen uns auf das verlassen, was uns die Ärzte sagen. Wenn wir jetzt zum Vater kommen, schauen wir erst einmal, was er sagt, und wie er reagiert.«
»Was soll er denn sagen. Er ist ebenso geschockt wie wir auch.«
»Eben, damit hast du Recht. Auf was es jetzt ankommt, ist das Wir. Nicht nur ich, du, er oder sie. Das Wir ist die richtige Einstellung. Wir schaffen das. Habe ein bisschen Hoffnung.«