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Meine Mutter schaute fragend zu mir.
»Wie soll die uns denn helfen? Bisher hat sie mir noch nie etwas gebracht. Hoffnung, mit so einem Mist kann ich nichts anfangen.«
Damit war unser Gespräch beendet. Wir kamen aus dem Aufzug. Der lange Gang der Station lag vor uns. Ich erkannte meinen Vater am Ende dessen, vor seiner Tür. Auch er sah uns. Mit schweren Schritten gingen wir aufeinander zu.
Ohne viele Worte sahen wir uns an. Mein Vater wirkte hilflos. Meine Mutter war gefasst. Einen ganzen Moment hielten wir inne. Keiner von uns hatte gewusst, was er sagen soll. Mein Vater eröffnete das Gespräch.
»Es wird schon wieder. Macht euch mal keine Gedanken.«
Meine Mutter brach in Tränen aus.
Die zwei nächsten Tage wurden verschiedene Gespräche mit Professor D. geführt. Er zeigte uns auf, welche Behandlungsalternativen gegeben sind. Die Informationen waren umfangreich. Die jeweiligen Für und Wider fanden ebenso ihren Platz darin wie die Darstellung des medizinischen Hintergrundes. Immer wieder stießen wir an die Grenzen unserer Auffassungsgabe. Doch wollten wir nie das Gefühl haben etwas nicht gesagt bekommen zu haben bzw. etwas an Wissen missen zu müssen. Wir hörten zu. Wir nahmen alles auf, was uns über die Krankheit erzählt wurde. Sie drang so plötzlich in unser Leben ein. Völlig unvorbereitet mussten wir uns mit ihr auseinander setzen. Gerne hätten wir darauf verzichtet. Doch was anderes als sie kennen lernen sollten wir tun? Je besser man sie kennt, umso besser sehen wir auch ihre Schwächen. Jede dieser wollten wir zu unserem Vorteil nutzen. Dieser Vorteil für meinen Vater und uns war nur temporär zu sehen. Darüber waren wir uns im Klaren. Auch heute noch sind wir dankbar dafür, dass mit uns in klaren Aussagen kommuniziert wurde. Diese Art des Krebses, wie sie sich bei meinem Vater darstellte, war nicht zu besiegen. Alles, was angewandt werden würde, konnte diesen Krebs und seine Auswirkungen nicht heilen. Bewusst dieser Tatsache war uns von Anfang an klar, dass wir Abschied nehmen müssen.
Zwei Tage später wurde mein Vater aus der Klinik entlassen. Diesem Tag fieberte er seit seiner Ankunft entgegen. Nun war er da. Geprägt durch die Geschehnisse der letzten Tage fiel ihm das Verlassen der Klinik nicht einfach. Ein Wandel in seiner Empfindung war eingetreten. Empfand er ein Krankenhaus doch immer als Gefängnis, wollte er diesem jetzt nicht den Rücken kehren. Was würde ihn außerhalb dieses Schutzes erwarten. Er erzählte mir aus seiner Kindheit.
Sobald die Aufklärungsflugzeuge am Himmel zu erkennen waren, mussten sie in den Keller. Einen Bunker gab es nicht in der Nähe seines Elternhauses. Bei einer Tante mussten sie Unterschlupf finden. Ihr Haus befand sich nur einige Meter über die Strasse. Jedes Mal, wenn er die Kellertreppen hinunter steigen musste, befiel ihn eine Beklemmung. Ihm wurde bewusst, dass er dort nun wieder viele Stunden verbringen musste. Abgeschlossen von der Außenwelt, seiner Welt, in der er lebte. Würde er danach noch in ihr leben können? Was würde in diesen Stunden alles geschehen? Werden sie den Bombenangriff überstehen? Konnten sich alle seiner Familie, Freunde, Klassenkameraden und Klassenkameradinnen oder die Nachbarn ebenfalls in Sicherheit bringen? Hatten alle genug Zeit dazu? Welche Veränderungen werden sich einstellen? Werden sie, wird er, damit leben können? Immer und immer wieder brannte diese Angst in seiner Seele. Sobald sie den Keller wieder verlassen konnten, wäre er gerne geblieben. Hatte er ihm doch in den letzten Stunden die Sicherheit gegeben, die ihm draußen fehlen würde. Was sollte ihn nun mit seinen dicken Wänden schützen? Die Kriegsjahre waren seine Kindheit. Jahre in denen ein Mensch lernt zu leben. Die ihn vorbereiten auf das, was seine Aufgabe ist. Unbeschwerte Jahre sollten diese sein. Seine Erinnerungen daran sind überschattet von der allgegenwärtigen Angst in dieser Zeit. Angst davor, ob es ein Morgen geben wird.
Zum ersten Mal erzählte mein Vater in so vielen Worten davon. Ich hörte aufmerksam zu. Was zog mich in den Bann? Zum ersten Mal spürte ich das Gefühl, welches in seinen Worten lag. Waren es also doch nicht nur die lustigen Geschichten, die zu Geburtstagsfeiern über diese Zeit berichteten. Waren diese Erlebnisse ganz tief in ihrer Art. Meine Anschauung dieser Zeit begann sich aufzuklaren. Der Schleier der personifizierten Tapferkeit löste sich auf. Die Hauptdarsteller der Erzählungen bekamen ein Gesicht. Sie wurden mit Empfindungen ausgestattet. Die Worte meines Vaters gaben jedem Einzelnen etwas Besonderes. Sie verliehen ihnen Leben. Ein Leben, um welches sie Angst hatten, es zu verlieren. Dafür lohnte sich die Tapferkeit der Menschen, der Alten, der Jungen und der Kinder.
Wollte mein Vater mir damit sagen, dass er Angst hat? Genau dies wollte er. Ganz in seinen eigenen Worten teilte er mir dieses mit. Und ich verstand ihn.
Wir verließen die Klinik. Mit Professor D. hatten wir uns vereinbart. Mein Vater wird ihm innerhalb der nächsten Tage seine Entscheidung über die aufgezeigten Behandlungen mitteilen. Genug Informationen über die jeweiligen Prozesse hatten wir.
Noch einmal möchte ich betonen, mit wie viel Ausdauer Professor D. meinen Vater, meine Mutter und mich in dieser Zeit begleitet hat. Immer und immer wieder stand er zur Verfügung, wenn neue Fragen auftauchten. In all den fachlichen und medizinischen Gesprächen stand er als ruhender Pol. Zu keiner Zeit hätte man je das Gefühl gehabt, sich in einem Patientenraster zu befinden. Natürlich erwartet man dies von einem behandelnden Arzt. Ganz besonders in Zeiten wie diesen. Doch sein Invest war einfach mehr. Es war Menschlichkeit.
Eben hatten wir das Stadtschild passiert. Noch wenige Minuten und wir waren wieder zu Hause. Mein Vater schaute aus dem Seitenfenster. Sein Blick suchte. Selbst wenn es nur wenige Tage waren, die man weg war, sucht man immer nach Veränderungen, die in dieser Zeit stattgefunden haben. Auf eine wortlose Frage, folgt eine wortlose Antwort.
Irgendwie wollte ich ihn erreichen.
»Und, hat sich nichts verändert. Alles noch so, wie du es verlassen hast. Es ist doch immer wieder schön, wenn man nach Hause kommt.«
»Ja, ich bin froh wieder hier zu sein. Getan hat sich nichts. Alles noch so, wie es war. Nein, nicht alles. Innerhalb weniger Tage hat sich mein Leben komplett verändert. Sehen kann man dies nicht. Zu spüren ist es umso mehr. Was soll ich nur machen? Wie werde ich mich entscheiden? Würde ich doch nur wissen, wie es richtig ist.«
Diese Fragen kamen mehr rhetorisch. Beantwortet wollten sie in diesem Moment nicht sein. Er blickte weiter aus dem Fenster. Meine Mutter schaute ohne jedes Wort zu ihm. Eine Stille trat ein. Keiner von uns hätte diese unterbrechen wollen.
Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab.
»So, da sind wir. Geht ihr schon einmal vor. Ich komme mit dem Gepäck nach.«
Kaum, dass mein Vater wieder zu Hause war, klingelte das Telefon. Wenn mein Vater eines nicht gerne machte, dann war es ans Telefon zu gehen. Warum auch immer, wenn es klingelte, rief er nach meiner Mutter. Zum einen, weil die Gespräche für sein Befinden immer für meine Mutter waren. Zum anderen wohl, weil er der Bellschen Erfindung nicht traute. Jahrelang konnte ich dies nicht nachvollziehen. Irgendwann war mein Spürsinn so geschärft, dass es mir auffiel, auch in anderen Familien ist dies so. Scheinbar eine väterliche Antihaltung zur Telekommunikation. Wie gesagt, kaum war er angekommen klingelte das Telefon. Schon der erste Anrufer wollte sich erkundigen, wie es ihm geht. Zwei Dinge trafen aufeinander. Zum einen das Telefonieren, zum anderen offen über die Geschehnisse der letzten Tage sprechen. Schon nach dem ersten Gespräch bat mein Vater meine Mutter die Gespräche entgegenzunehmen und ihn zu entschuldigen, er würde schlafen. Diese Haltung gegenüber seiner Krankheit war mir an meinem Vater bereits im Krankenhaus aufgefallen. Nur schwer kamen seine Besucher bei ihm auf das Thema Krebs. Er war zu einer Prostata-Operation im Krankenhaus und fertig. Viele Worte brauchte mein Vater ohnehin nicht über seine Krankheit. Für ihn war es mehr eine Ehrbekundung einen Menschen im Krankenhaus zu besuchen als eine Informationsveranstaltung. Langsam drängte sich mir allerdings der Verdacht auf, dass er beginnt vor der Krankheit zu fliehen. Stand für ihn fest, wenn ich mich damit nicht auseinandersetze, dann habe ich es auch nicht? Selbst in den Gesprächen mit Professor D. verhielt er sich introvertiert. Meist übergab er meiner Mutter und mir das Wort. Damit will ich nicht sagen, dass er sich der Krankheit gegenüber verschlossen hatte. Vielmehr wollte er sich nicht aktiv damit befassen. War dies seine Art sich mit etwas vertraut zu machen? Lag ihm die Rolle des reagierenden Menschen eher als die des agierenden?
Solange ich auch in meine Vergangenheit als Sohn meiner Eltern zurückschaue, ein anderes Bild gewinne ich nicht von meinem Vater. Zwar wusste er immer genau, was er will und welche Entscheidung zu treffen ist. Doch ließ er meine Mutter immer die Entscheidung treffen und die entsprechende Umsetzung vornehmen. Sein wichtigstes Empfinden dabei war seine Zufriedenheit. Hier lässt sich die Frage nicht umgehen, ob er ein egoistischer Mensch gewesen ist. Dies war er nicht. Nur seine eigenen Vorteile, hätte er nie in den absoluten Vordergrund geschoben. Der einfache Weg war für ihn der angenehmste. Vielen Dingen ging mein Vater ohne großen Aufwand aus dem Weg. Nicht nur das, er ging ihnen auch gerne aus dem Weg. Im Laufe der Jahre erkannte ich, dass mein Vater doch Entscheidungen trifft. Er entschied, nicht zu entscheiden. Bei meiner Mutter, also der Frau, mit der er sein Leben lebt, konnte er sich darauf verlassen, dass sie seine Belange in jeder Entscheidung berücksichtigt. Für mich ein Grundprinzip, welches Achtung verdient. Denn uns ist allen klar, wenn ich etwas abgebe, darf ich mich nicht darüber ärgern, dass ich es nicht mehr habe. Doch genau darin haben wir Menschen unser Problem. So lange wie möglich wollen wir nichts aus der Hand geben. So aktiv wie es nur irgend geht, wollen wir an allem teilhaben. Gehen wir nicht grundsätzlich davon aus, dass nur wir alleine alles richtig machen. Wir nur darin unsere Zufriedenheit finden. Etwas abzugeben um andere etwas zu Ende führen zu lassen, ist nicht so einfach für uns. Mein Vater gab ab und vertraute in das Ziel. Auch wenn er sich manches Mal mit dem Ergebnis arrangieren musste, wusste er doch, es war richtig entschieden. Eine doch beneidenswerte aber viel zu seltene Art, über die wir Menschen verfügen.
Abends saßen wir zusammen beim Abendessen.
»Hier schmeckt das Essen wenigstens. Im Krankenhaus hatte ich oft das Gefühl, immer das gleiche Essen zu bekommen. Nicht, dass es schlecht gewesen wäre. Es schmeckte nur immer alles gleich.«
»Kann ich mir gut vorstellen. Als ich deinen Speiseplan gesehen habe, konnte da auch nichts von schmecken.«
»Jetzt macht aber mal langsam. Keiner kocht so gut wie Mutter, das ist ja klar. Und keiner hat so sensible Geschmacksnerven wie der Vater.«, gab ich mit dementsprechend lustigen Unterton von mir.
Ich hoffte, dass dies die schwere Stimmung etwas auflockern kann, die seit Stunden herrschte. Seit wir an diesem Vormittag zurück waren, wurde das Thema »Wie geht es weiter?« nicht mehr in Angriff genommen. Unvorstellbar für mich, dass man sich so zurückziehen kann. Ich sollte wohl eines Besseren belehrt werden. Dinge treten in unser Leben. Sie wollen nicht nur registriert werden. Sie fordern nach Erledigung. Um dies zu können, muss man sich im Vorfeld mit ihnen auseinandersetzen. Nur so kann man einen Weg finden. Verschweigen ist immer eine sehr ungute Vorgehensweise und bringt einen keinen Schritt weiter.
»Vater, was hast du dir denn überlegt? Konntest du dich mit einer der vorgeschlagenen Behandlungen anfreunden? Anfreunden, ein blödes Wort, ich weiß. Du weißt aber, wie ich das meine. Natürlich sollst du Zeit haben, um zu entscheiden. Doch vergesse bitte nicht, damit anzufangen.«
»Jetzt lasse mich doch hier erst einmal wieder ankommen. Professor D. sagte doch, dass ich mir die Zeit nehmen soll, um zu überlegen. Wenn das die nächsten Tage so weitergehen wird wie heute, dann komme ich nie dazu mir Gedanken zu machen. Alle haben Tipps und Ratschläge. Jeder meint es nur gut mit dem was er sagt. Doch keiner von ihnen hat aktuell diese Krankheit.«
Meine Mutter unterlegte die Worte meines Vaters mit einem vorwurfsvollen Blick an mich.
»Du brauchst mich nicht so anzuschauen. Du weißt, dass ich Recht habe und uns nicht unbegrenzte Zeit zur Verfügung steht.«
»Wie soll dein Vater denn eine Entscheidung treffen, wenn er den ganzen Tag nicht zur Ruhe kommt? Selbst jetzt beim Essen reden wir wieder darüber.«
»Genau jetzt haben wir die Zeit dazu. Wir werden in den nächsten Tagen sehr viel darüber reden. Der Krebs ist Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir müssen ihn akzeptieren. Erst wenn wir dies getan haben, erkennen wir ihn an. Es ist nicht nur eine Krankheit. Nichts, was man mit ein paar Tabletten erledigen kann. Ich möchte nur noch einmal ganz klar sagen, es ist eine seltene, aggressive und schnell wuchernde Art des Krebses. Entweder wir beginnen ihn zu bekämpfen oder er überrennt uns. Es gehört zu den Gesetzen der Natur. Wir Menschen sind einfach zu gering um mit der Natur zu spielen. Mein Vater, dein Mann hat Krebs. Dieser Mensch gehört zu uns. Seine Krankheit ebenfalls. Sie ist keine, die nur die jeweilige Person betrifft. Krebs ist eine Familienkrankheit. Wir alle sind daran beteiligt und haben damit zu tun. Lasst uns endlich beginnen unser erworbenes Wissen umzusetzen. Wir sind stark genug.«
Meine Worte saßen. Sie schauten mich an. Meine Mutter begann zu weinen. Die Augen meines Vaters sprachen von Hilflosigkeit.
»Was soll ich denn tun? Hier komme ich nicht zur Ruhe. Schon im Krankhaus gab es nur noch dieses Thema. Jeder der anruft, fragt danach. Wenn ich mal wieder raus gehe, werden mich alle ansprechen. Wie soll ich denn da einen Gedanken finden, wenn ich immer nur über alles berichten muss?«
»Ich mache euch einen Vorschlag. Sobald keine Nachbehandlung zur Prostata-Operation stattfinden muss und Professor D. keine Bedenken hat, fliegt ihr mit mir nach Florida zurück. Dort seid ihr weit weg von hier, raus aus dem täglichen Umfeld. Wir können den ganzen Tag am Strand sitzen. Vater kann in Ruhe nachdenken. Wenn er reden will, sind wir da. Es ist dort niemand, der dir ständig reinreden wird, unaufgefordert Tipps gibt oder nur seinen Senf zu allem beitragen will. Ganz in Ruhe lassen wir es angehen. Sobald der Vater eine Entscheidung getroffen hat, sagt er es uns. Wir packen die Koffer und kommen wieder zurück. Dann haben er und wir einen klaren Weg vor Augen. Wir alle sind danach gefestigt und können uns voll auf die neuen Aufgaben konzentrieren. Das ist keine Flucht. Wir und besonders der Vater brauchen Ruhe. Dort haben wir sie.«
Die Idee war platziert. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass sie entsprechend meinen Erwartungen ankommen würde. Erst sagte keiner etwas, dann sprachen alle gleichzeitig. Meine Mutter warf ein, dass dies nicht gehen würde. Immerhin wäre der Vater krank und hätte eine Operation eben erst hinter sich. Außerdem denke sie, dass Professor D. einer solchen Reise nie zustimmen würde. Ihre letzte Aussage zeigte mir aber schon, dass sie sich bereits mit dem Gedanken angefreundet hatte. Mein Vater meinte nur, dass dort schönes Wetter sei und er gerne ins Roadhouse und zum China-Buffet gehen würde.
Ich war etwas überrascht.
Meine Mutter, da konnte ich mir sicher sein, musste erst einmal etwas dagegen haben. Bei ihr regiert immer erst eine ablehnende Haltung. Sie warf sofort ein, dass Professor D. etwas gegen diese Reise haben könnte. Ihre indirekte Zustimmung war also da. Nur noch anderes könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen. Dass mein Vater weniger über den langen Flug zu schimpfen hatte, als sich mehr auf das Steakhaus und das China-Buffet zu freuen, war seine Zustimmung schlechthin.
War ich mir der Verantwortung bewusst?
Ich erinnerte mich an ein paar Zeilen die ich kurz zuvor gelesen hatte.
Wenn unser Leben unbeschwert ist und alles reibungslos läuft, dann können wir uns leicht etwas vormachen. Wenn wir jedoch wirklich verzweifelten und ausweglosen Situationen gegenüberstehen, gibt es keine Zeit mehr für Heucheleien, und wir müssen uns mit der Wirklichkeit auseinander setzen. Schwierige Zeiten lassen uns Entschlossenheit und innere Stärke entwickeln. Durch sie können wir auch dahin gelangen, die Nutzlosigkeit von Ärger anzuerkennen. Anstatt zornig zu werden, können wir eine tiefe Fürsorge und Respekt für solche Unruhestifter in uns hegen, da sie uns, indem sie unangenehme Umstände schaffen, unschätzbare Gelegenheiten liefern, uns in Geduld und Toleranz zu üben.
Im Allgemeinen war das Leben meines Vaters bisher reibungslos verlaufen. Tief einschneidende Ereignisse hatte er erleben müssen. Die meiste Zeit seines Lebens jedoch hatte er unbeschwert verbringen können. Ohne ihm das Recht auf Empfindung jedes einzelnen Lebensabschnittes abzusprechen, war er nicht auch jemand, der den gegebenen Raum nutzte, um die Dinge etwas anders zu sehen. Sich etwas vormachen, hat immer eine etwas negative Aussage. Doch betrachten wir nicht manches Mal die Dinge so, wie wir sie vor unserem Auge gerne sehen würden? Eine ganz individuelle Eigentherapie. Dies gelingt nicht immer. Das wissen wir alle. Stehen wir Situationen gegenüber, die für uns nicht zu meistern scheinen, müssen wir aktiv werden. Verträumen können wir nichts mehr. Wir setzen uns damit auseinander. Richtig, denn nur dann haben wir eine Chance sie kennen zu lernen. Wir schaffen eine Gleichheit der Kräfte. Unsere innere Stärke wächst. In ihr finden wir Entschlossenheit. In ihr erkennen wir die Zeit, die wir für andere Empfindungen investiert haben. Wir erkennen die Nutzlosigkeit in dieses Invest. Wir erkennen aber auch etwas sehr viel Wertvolleres. Wir nehmen unsere Empfindungen an. Wir verschieben die Mächte. In der neuen Konstellation finden wir Toleranz. In der Toleranz finden wir Geduld. Eine der Stärken, über die wir Menschen verfügen.
Am nächsten Tag sprach ich mit Professor D. Nachdem ich ihm meine Sicht der Dinge aufzeigte, bat ich ihn um seine Meinung zu unserem Vorhaben. Er fragte mich, wie ich zu meiner Sicht der Dinge gekommen sei. Mit meinen ganz eigenen Worten sprach ich von meinen ganz eigenen Empfindungen. Er hörte mir aufmerksam mit. Mit nicht einem Wort oder einer Geste unterbrach er mich darin. Nach einem Moment des Überlegens stimmte er dem Vorhaben zu. Ich war zufrieden. Dies sah er mir an. Er fragte mich, ob er mir eine Frage stellen dürfte. Ich bejahte dies.
»Die Anamnese Ihres Vaters ist mir bekannt. Darin gibt es den Punkt zu Krebskrankheiten in der Familie. Außer der Information über Ihren Großvater ist dort nichts nachzulesen. Entschuldigen Sie die offene Frage. Wurde auch bei Ihnen schon einmal Krebs befunden?«
Diese Frage war offen und kam direkt an. Mit fragendem Blick antwortete ich.
»Nein, wieso fragen Sie danach? Muss ich mich der Familienhistorie fügen? Sollte ich nach meinem Großvater und meinem Vater ebenfalls damit rechnen?«
»Nein, nein, keine Angst. Das wollte ich damit nicht gesagt haben. Als Sie mir eben Ihre Sicht der Dinge geschildert haben, verwunderte mich dies in positiver Weise. Weder eine Verleumdung des Krebses noch die geringste Ablehnung dessen war zu erkennen. Mit keinem Ihrer Worte ignorierten Sie ihn. Nicht einmal die Frage nach dem Warum haben Sie gestellt. Natürlich sind Sie nicht die betroffene Person. Aus meinen bisherigen Erfahrungen in vergleichbaren Fällen, habe ich noch nie jemanden wie Sie kennen gelernt. Für Sie ist der Krebs Ihres Vaters kein Feind. Sie sehen ihn als Fakt. Als eine Sache, die keine Daseinsberechtigung hat. Sie konzentrieren sich auf Ihren Vater. Für Sie gilt es seine Stärke aufzubauen. Das alleine wird ihn in die Lage versetzen die richtige Entscheidung zu treffen. Sie geben ihm Raum.«
»Raum ist das richtige Wort. Für mich stehen die Worte Raum und Leben im Zusammenhang. Ich versuche meinem Vater zu zeigen, dass sein Lebensraum noch vorhanden ist. Nach dem Befund fühlte er sich um diesen beraubt. Dem ist nicht so. Solange wir leben, müssen wir das Leben auch erfüllen. Nur dann können wir empfinden, realistisch betrachten, abwägen und Entscheidungen treffen. Jeder von uns hat schon einmal situationsbedingt gelogen. Dazu haben wir das Recht. Sowieso, wenn es vertretbar ist. Nur in einem, können wir Menschen nicht lügen. Immer dann, wenn wir eine Entscheidung treffen. Zum Angehen einer jeden Situation treffen wir Entscheidungen. Sehr oft, merken wir das schon gar nicht mehr. Bei großen Entscheidungen brauchen wir die entsprechende Zeit, Geduld und Ruhe. Ist es uns nicht möglich, diese zu finden, müssen wir etwas verändern. Veränderungen sollten wir grundsätzlich vornehmen. Mein Vater wird momentan von allen Seiten mit dem Thema Krebs konfrontiert. Was gestern noch nur in der Nachbarschaft oder bei Bekannten von Bekannten Realität war, ist heute in sein Haus eingezogen. So nah ist es gekommen, dass man es quasi spüren und riechen kann. Er selbst hat ihn noch lange nicht angenommen. Das Wissen, er hat Krebs ist ihm noch fremd. Er braucht Zeit und Ruhe. Er muss vom täglichen Umfeld Abstand nehmen. Nur dann kann er die Geduld finden um ihn kennen zu lernen. Wie Sie sagen, der Krebs ist kein Feind. Er ist eine Tatsache, die beseitigt werden kann. Aus medizinischer Sicht haben Sie uns alles an Informationen gegeben, was möglich ist. Darüber macht mein Vater sich keine Gedanken mehr. Was er noch muss, ist den Krebs akzeptieren. Dann wird er Zufriedenheit mit sich selbst finden. Aus dieser Zufriedenheit speist sich die Kraft, die er jetzt benötigt. Oder ganz simpel gesagt, an was wir halbherzig gehen, wird uns nicht wirklich gelingen.«
»Erstaunlich. Nicht nur in ihren Worten sagen Sie das. Auch Ihr Ausdruck und Ihr Gesicht lassen erkennen, dass Sie es so meinen. Trotz der Tatsache, dass dieser Krebs nicht zu besiegen ist, geben Sie nicht auf. Wunderbar.«
»Danke. In einem unserer ersten Gespräche sagten Sie, dass wir von Fall zu Fall leben müssen. Wie lange die Zeit dazwischen sein wird, ist nicht zu bestimmen. Die Endlichkeit von Allem ist der Tod. Das war sehr ehrlich und richtig. Dies sage ich nicht nur mit meinen Worten. Ebenso empfinden dies mein Vater und meine Mutter. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Informieren Sie mich bitte, sobald Ihr Vater eine Entscheidung getroffen hat. Sollte er dazu meine Hilfe oder meinen Rat benötigen, rufen Sie mich an oder senden Sie mir eine Mail.«
»Vielen Dank. In jedem Fall werde ich Sie darüber informieren, was er entschieden hat.«
Nach diesem Gespräch fühlte ich mich sehr gut. Meine Idee war die richtige gewesen. Mein Vater wird eine Entscheidung treffen. Darin war ich mir sicher.
Die ersten Tage in Florida vergingen. Mit keiner Silbe wurde das Thema Krebs angesprochen. Wie mein Vater mir später einmal sagte, genoss er die ersten Tage. Für ihn hatte es eine befreiende Wirkung, dass so viel Zeit vor ihm lag. Zwar wusste jeder von uns genau, welcher Auftrag zu erledigen war. Doch übten wir uns in Geduld. Ganz ohne Drang sollte eine Entscheidung getroffen werden. Eine Entscheidung trifft sich vermeintlich einfacher, wenn man das Drumherum mit angenehmen Dingen gestaltet. Die Tage starteten mit einem leckeren Frühstück. Auf dem Weg zum Meer noch einen Abstecher zu Starbucks. Meist zum Kaffee noch ein Cookie, ein Muffin oder sonst eine Süßigkeit. Am Strand tankten wir nicht nur Licht und Wärme. In unseren Spaziergängen auch Ruhe und Ausgeglichenheit. Der Atlantik um diese Jahreszeit verschafft dem Körper die benötigte Abkühlung. Mit der Zufriedenheit des Tages entschieden wir nachmittags, wie wir uns abends kulinarisch verwöhnen lassen. Mal war es das Steak im Roadhouse, die Chicken Wings bei Hooters, das abwechslungsreiche Buffet beim Chinesen oder wir kochten gemeinsam zu Hause. An einem Tag in der zweiten Woche saß mein Vater gedankenversunken in seinem Stuhl am Strand und blickte auf das Meer. Meine Mutter und ich saßen am Tisch dahinter.
»Heute gefällt mir dein Vater gar nicht. Er ist so ruhig. Was hat er nur? Willst du nicht einmal zu ihm gehen und ihn fragen, was mit ihm ist?«
»Was meinst du wohl, was er haben wird? Seinen Wunsch, eine Entscheidung zu treffen, nimmt er ernst. Damit wird er heute begonnen haben. Gib ihm einfach die Zeit dazu.«