1. „ Menschen mit schwersten Entwicklungsbeeinträchtigungen benötigen eine besondere Pflege und eine spezielle Förderung. Diese sollen ihnen erlauben, möglichst wenig Schmerzen zu erleiden, Angst zu vermeiden und Zufriedenheit zu empfinden.
2. Unmittelbarer Kontakt zu beruflichen und persönlichen Bezugspersonen soll aufgebaut und ermöglicht werden.
3. Sie sind in ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit als Individuen zu berücksichtigen.
4. Die eigene Geschichte, die Berücksichtigung von Vorleben und Abneigungen fördern den Respekt der Bezugspersonen; ihr Bedürfnis nach Intimität und Rückzug verlangt Anerkennung.
5. Sie müssen in ihrer eigenen ‚Sprache‘ angesprochen werden, d. h. Nähe und Berührung finden Eingang in den Pflege- und Förderprozeß.
6. Krankheitsbilder und Behinderungsarten stehen nicht mehr im Vordergrund; ebenso wenig darf eine Orientierung am Durchschnitt bzw. an festgelegten Normen das Handeln der Pflegenden und Fördernden primär bestimmen“ (Fröhlich et al. 1997, 12f.)
„Von Menschen mit Komplexer Behinderung spricht man, wenn deren Lebenswirklichkeit durch einen Großteil der folgenden Kriterien bestimmt ist: Sie
• bringen ihre eigenen Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse wie ihre Ansprüche unzureichend zum Ausdruck.
• verfügen meist über keine Verbalsprache.
• sind in besonderem Maße von der Zuwendung der Bezugsperson abhängig.
• sind in der Einrichtung häufig mit unqualifiziertem Personal und unprofessionellem Verhalten konfrontiert.
• zeigen abweichendes, aggressives oder selbstverletzendes Verhalten, was zum Ausschlusskriterium wird.
• werden der Rolle des Störers zugewiesen, die die eigene Identität beeinflusst.
• machen im Laufe ihres Lebens verstärkt Erfahrungen des ‚Scheiterns‘ sowie des Abbruchs sozialer Beziehungen.
• sind häufig wechselnden und nicht koordinierten medizinischtherapeutischen und pädagogisch-psychologischen Interventionen ausgesetzt.
• sind in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, als Pflegefälle abgestempelt und aus der Behindertenhilfe (Eingliederungshilfe) ausgeschlossen zu werden.
• sind in Einrichtungen häufig Gewalterfahrungen ausgesetzt.
• bilden eine heterogene Gruppe mit gleichen Exklusionserfahrungen“ (Fornefeld 2008, 58).
Zusammenfassung
Zusammenfassend kann gesagt werden: Menschen mit schwersten Behinderungen unterscheiden sich von Menschen mit geistiger Behinderung dadurch, dass sie – neben der geistigen Beeinträchtigung – weitere Beeinträchtigungen in Bereichen wie Motorik, Kommunikation etc. aufweisen. Diese Komplexität der Beeinträchtigung lässt langfristige umfassende Begleitung und Unterstützung notwendig werden und erschwert die gesellschaftliche Partizipation erheblich.
3.2.2 Aktuelle Förderkonzepte
In Tabelle 8 werden aktuelle Förderkonzepte für Menschen mit schwersten Behinderungen vorgestellt. Dabei werden jeweils die von den Autoren genannte Zielgruppe, die Ziele (falls spezifisch genannt), die theoretische Grundlagen und die praktische Anwendung skizziert.
Tab. 8: Förderkonzepte für Menschen mit schwersten Behinderungen
Basale StimulationEntstehung:Andreas Fröhlich (1977) / Sonderpädagoge; erstes Konzept zur Arbeit im Unterricht mit schwersten BehinderungenZielgruppe:ursprünglich: SchülerInnen mit schwersten Behinderungenheute: Personen, die in den Bereichen Eigenerfahrung, Eigenbewegung und Auseinandersetzung mit der Umwelt auf Hilfe angewiesen sind; wird in Frühförderung, Schulen, Altenund Krankenpflege eingesetzt(Burkhart 2004, 121)Ziele:Vermittlung primärer Körper-, Bewegungs- und Alltagserfahrungen; Aufbau von sozialen Beziehungen; Förderung der Kommunikation in AlltagssituationenTheoretische Grundlagen:3 P-Modell: Neurophysiologie Pechstein; Physiotherapie nach Bobath; Piagets Entwicklungstheorie(Fröhlich 2004, 149)Praktische Anwendung:Stimulation als Aktivität des / der PädagogIn / TherapeutIn, die dem Kind Anreize geben soll, sich mit sich und der Umwelt zu beschäftigen(Fröhlich 2004, 149);Anwendung zunächst in drei Grundbereichen, die an pränatale Erfahrungen anknüpft:

somatische Stimulation: Wahrnehmung der Haut als Begrenzung des Körpers zur Umwelt
vibratorische Stimulation: Wahrnehmung von Schwingungen
vestibuläre Stimulation: Wahrnehmung von Gleichgewichtdarauf aufbauend:
visuelle Stimulation
auditive Stimulation
gustatorische Stimulation
olfaktorische Stimulation

Kommunikation und Selbstorganisation – mimisch-stimmliche Zuwendung, Lautimitation etc. Basale KommunikationEntstehung:Winfried Mall (1978) / HeilpädagogeZielgruppe:Menschen mit schwersten Behinderungen, autistischem Verhalten, Demenz, WachkomaZiele:Herstellung einer kommunikativen Situation bei Personen mit eingeschränkter KommunikationTheoretische Grundlagen:Kommunikationstheorie Watzlawick; Funktionelle Entspannung nach Fuchs; Integrative Gestalttherapie nach van Vugt / Beesens Praktische Anwendung:Aufbau eines gemeinsamen Atemrhythmus, indem PädagogIn hinter dem Kind sitzt, sich in Atemrhythmus einfühlt, nachahmt und variiert (Mall 2008) Basale AktivierungEntstehung:Manfred Breitinger / Dieter Fischer (1980) / PädagogenZielgruppe:SchülerInnen mit schwersten Behinderungen, die sich „noch in einem Vorfeld, sowohl zur funktionalen Ertüchtigung als auch zur Umwelterschließung“ befinden(Breitinger / Fischer 1993, 285)Ziele:Herstellung einer Basis, von der aus für jede / n SchülerIn individuelle, weiterführende Ziele umgesetzt werden können(Breitinger / Fischer 1993, 160f.);Verbesserung der individuellen Lebenssituation und Identitätsstiftung durch AktivierungTheoretische Grundlagen:Lerntheorie: Aktivität als Voraussetzung für LernenPraktische Anwendung:Orientierung des Unterrichtsgeschehens an lebensbedeutsamen Inhalten und Zielen; Berücksichtigung der Prinzipien: Komplexität und Mehrschichtigkeit der Ziele, Wiederholung und Stetigkeit des Lernangebots, Offenheit der Lernwege, Vielfalt der Interaktionsmöglichkeiten Sensorische IntegrationEntstehung:Jean Ayres (1972), Ergotherapeutin / Psychologin (USA)Zielgruppe:ursprünglich: Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsverzögerungen und Lernstörungen, mit Lese- und Rechtschreibschwäche, Aufmerksamkeitsstörungen, Teilleistungs-, Lern- und Verhaltensstörungen;heute auch: Kinder und Jugendliche mit geistiger und mehrfacher BehinderungZiele:Modifizierung von neurologischen Dysfunktionen; Entwicklung von Bewegungskompetenz; Förderung der Freude an BewegungTheoretische Grundlagen:sensomotorische Entwicklung nach Piaget; psychologische LerntheorienPraktische Anwendung:Schaffen und Dosieren von Sinnesreizen, um spontane Anpassungsreaktionen des Kindes zu erlangen;

Basistherapie: Vestibuläre Wahrnehmung, Propriozeptive Wahrnehmung, Taktile Wahrnehmung

Individualtherapie: Ansetzen an entwicklungsmäßig frühester Störung Sensorische KooperationEntstehung:Wolfgang Praschak (1975) / SonderpädagogeZielgruppe:SchülerInnen mit schwersten BehinderungenZiele:Optimierung der sensomotorischen Handlungsfähigkeit; Finden von Handlungsmöglichkeiten, um SchülerInnen ein Leben in eigener Verantwortung und sozialer Wertschätzung zu ermöglichen Theoretische Grundlagen:sensomotorische Entwicklung nach Piaget; kooperative PädagogikPraktische Anwendung:Anleitung der / des Schülers / in zur Eigenaktivität, z. B. bei Beteiligung an Schulritualen, Essen, Trinken, Ankleiden FörderpflegeEntstehung:Uta und Jürgen Trogisch (1971), KinderärztInnen (DDR)Zielgruppe:nichtschulpflichtige, sogenannte förderungsunfähige Kinder in der ehemaligen DDRZiele:Erreichung der Förderungs(schul)fähigkeit; selbstständiges Essen und Trinken; Körperhygiene; soziale Regeln; Herstellen emotionaler Kontakte; BeziehungsaufbauTheoretische Grundlagen:Säuglings- und Kleinkindpädagogik; DeprivationsforschungPraktische Anwendung:Ermöglichung der aktiven Mitarbeit der / des Schülers / in bei Alltagsaktivitäten, z. B. Toilettengang, Ernährung, An- und Ausziehen Bobath-KonzeptEntstehung:Berta und Karel Bobath (1940) / PhysiotherapeutenZielgruppe:ursprünglich: PatientenInnen mit cerebralen Bewegungsstörungen;heute auch: PatientenInnen mit neurologischen Störungen, Schlaganfall, neurologischen Erkrankungen, sensomotorischen Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Beeinträchtigungen Ziele:Normalisierung von Haltungs- und Bewegungsmustern; Vermitteln normaler Tonusverhältnisse zur Erweiterung funktioneller Fähigkeiten und SelbstständigkeitTheoretische Grundlagen:neurophysiologische BewegungstherapiePraktische Anwendung:Aktivierung von Wachheit und Aufmerksamkeit; Wahrnehmungsübungen in funktionellen Situationen Vojta-KonzeptEntstehung:Vaclav Vojta (1950) / NeurologeZielgruppe:ursprünglich: Kinder mit Cerebralparese; heute auch: Störungen der Koordination, Haltung und BewegungZiele:Behandlung von Spastiken als funktionelle Blockaden; Beeinflussung von motorischen AbläufenTheoretische Grundlagen:physiotherapeutische Behandlung auf neurophysiologischer GrundlagePraktische Anwendung:Auslösung von Bewegungsmustern an Zonen am Körper, Armen und Beinen durch Druckausübung auf diese Körperstellen; Reizungen führen zu Bewegungskomplexen SnoezelenEntstehung:Jan Hulsegge / Ad Verheul (1970), Zivildienstleistende (Niederlande)Begriff: Kombination aus „snuffelen“ und „doezelen“ (dösen / schlummern) Zielgruppe:ursprünglich: Menschen mit schwersten Behinderungen, insbesondere HeimbewohnerInnen; heute auch: Menschen mit und ohne BeeinträchtigungenZiele:Schaffung eines Freizeitangebotes; Erleben anderer Räumlichkeiten; Sammeln von ErfahrungenTheoretische Grundlagen:zweckfreie/ungebundene Freizeitgestaltung ohne grundlegende TheoriePraktische Anwendung:Einrichtung eines Snoezelen-Raumes Materialien: Wasserbett, Bällchenbad, Tastobjekte, Vibrationseinrichtungen, Riechobjekte, Klang- und Geräuschobjekte etc. Geführte InteraktionEntstehung:Félice Affolter (1980) / PsychologinZielgruppe:ursprünglich: Menschen mit schwersten Behinderungen;heute: Menschen mit taktil-kinästhetischen Wahrnehmungsstörungen; Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen sowie Schwierigkeiten im Lesen und RechnenZiele:Vermittlung und Verinnerlichung von Spürerfahrungen im Umgang mit realen Gegenständen; Einüben und Erlernen von BewegungsabläufenTheoretische Grundlagen:Entwicklungspsychologie PiagetsPraktische Anwendung:Führen von Händen und Körperteilen in Alltagssituationen Taktile GebärdenEntstehung:Blinden- und Taubblindenpädagogik (Pittroff 2005)Zielgruppe:Menschen mit Taubblindheit, Menschen mit komplexer BehinderungZiele:Aufbau von gemeinsamen Vokabular von fühlbaren Symbolen zur Ermöglichung von KommunikationTheoretische Grundlagen:keinePraktische Anwendung:Beobachten des schwerbehinderten Kindes zur Feststellung von Reaktionen auf bestimmte Situationen; Zurückspiegelung der Bewegung durch gemeinsame Bewegungen; Suchen von Bewegungen, die als Aufforderung, z. B. nach Essen, Trinken verstanden werden können, Bewegung wird zum Symbol Der „Kleine Raum“Entstehung:Lilli Nielsen (2001)Zielgruppe:Kinder mit komplexer BehinderungZiele:Erfahrbarmachung von SelbstwirksamkeitTheoretische Grundlagen:keinePraktische Anwendung:Kinder werden für ca. 15 Minuten in eine Holzkiste gelegt; diese ist so konstruiert, dass an deren Decke Gegenstände befestigt werden, die das Kind heranziehen kann, z. B. angenehme, interessante, essbare Objekte. Da sie immer an der gleichen Stelle zu finden sind, wird gelernt, sie willkürlich zu berühren, zu bewegen, zu vergleichen etc.

Bernasconi, T., Böing, U. (2015): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Kohlhammer, Stuttgart
Fornefeld, B. (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung: Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. Ernst Reinhardt, München / Basel
Fröhlich, A., Heinen, N., Klauß, T., Lamers, W. (Hrsg.) (2011): Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Impulse: Schwere und mehrfache Behinderung. Band 1. Athena, Oberhausen
Neuhäuser, G. (2016): Syndrome bei Menschen mit geistiger Behinderung: Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen. 4. Aufl. Lebenshilfe-Verlag, Marburg
Übungsaufgaben zu Kapitel 3
Aufgabe 1
Skizzieren Sie relevante Aspekte eines der dargestellten Syndrome. Vertiefen Sie die Kenntnisse durch weiterführende Literatur.
Aufgabe 2
Recherchieren Sie im Internet, für welche der dargestellten Syndrome es Selbsthilfegruppen gibt.
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