- -
- 100%
- +
»Tom?« Zum ersten Mal, seit sie aufgewacht war, schaffte Laura es, bestimmt zu klingen.
»Ja, mein Schatz?«
Sie konnte in seinem Gesicht sehen, dass er seinen Ärger nur mühsam unterdrückte und dass er es rein ihr zuliebe tat. Deswegen war es noch schwerer für sie, die nächsten Worte auszusprechen. Sie tat es trotzdem: »Halt den Mund!«
»Wenn deine Verletzungen dadurch schlimmer werden …«, setzte er an, doch Laura unterbrach ihn: »Ich will mein Baby sehen! Jetzt!«
Die Schwester nickte. »Ich helfe Ihnen in den Rollstuhl!«
»Ich halte das für keine gute Idee. Was, wenn die Nähte aufreißen?« Tom redete mehr mit der Krankenschwester als mit Laura.
»Herr Weiß, wäre ich Ihre Frau, würde ich mein Baby auch sehen wollen.«
»Ich werde gehen«, sagte Laura entschlossen. Sie setzte sich auf. Die Gerätschaften piepten. Grauenhafte Kopfschmerzen zogen wie Blitze durch ihre Schläfen.
»Laura?!«
Sie wollte etwas erwidern, aber die Pein war zu groß. Dunkelheit hüllte sie ein.
Als Laura zu sich kam, saß sie in einem Rollstuhl. Auf dem Weg zur Neo-Intensiv-Station. Sie sah die Tür vor sich. Las das Schild. Wie kam sie hierher? Verwirrt sah sie sich um. Tom stand hinter ihr und schob den Rolli. Die Unebenheiten am Boden schüttelten Lauras Körper und verursachten Schmerzen. Schweiß tropfte von ihrer Schläfe, obwohl sie nur saß und ihr nicht heiß war.
Beinahe bereute Laura ihre Entscheidung herzukommen. Allerdings nur beinahe. Sie würde jetzt bestimmt nicht jammern. Die Worte der Ärztin hallten in ihren Ohren nach. Vielleicht würde Mia es nicht schaffen. Wenn das tatsächlich so war, dann wollte Laura ihre Tochter wenigstens ein einziges Mal gesehen haben.
Toms Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie standen vor der Tür, warum machte er sie nicht auf? Worauf wartete er? Er sagte irgendetwas, doch sie konnte ihn nicht verstehen. Seine Stimme klang gedämpft, als spräche er durch eine Wand zu ihr.
Ein Schleier legte sich vor ihre Augen. Schwindel setzte ein und schwarze Punkte tanzten vor ihr. Vernebelten ihre Sicht. Nicht schon wieder! Hatte sie von dem Unfall etwa Kopfverletzungen davongetragen, von denen ihr niemand erzählt hatte? Laura wollte etwas sagen. Sie konnte nicht.
Tom redete weiter. Seine Lippen bewegten sich, doch sie verstand ihn nicht. Es könnte genauso gut Chinesisch sein, das er von sich gab. Schritte. Getrampel. Eine Person legte ihren Arm frei. Tom schrie irgendjemanden an. Alles wurde schwarz. Und dann war Toms Stimme verstummt.
Kapitel 2
Scheinbar gelangweilt saß die Frau in Rot auf der Parkbank und blätterte durch die Zeitung ohne ein einziges Wort darin zu lesen. Die modernen Sonnenbrillen mit ihren riesigen Gläsern halfen zu verbergen, worauf ihr Fokus in Wahrheit lag. Verloren lief Toms Frau vor der Stationstür auf und ab und wirkte dabei wie ein streunendes Kätzchen, das verzweifelt darauf hofft, in die warme Stube gelassen zu werden. Niemand schenkte ihr Beachtung. Natürlich nicht. Mit ihrem zerzausten Haar, den weiten Klamotten und ihrem verwirrten Blick war sie eine weitere gescheiterte Existenz, die Menschen gerne übersahen. Wer nicht funktioniert, existiert nicht. Es gab viele Geister da draußen. Für einen Augenblick verspürte die Frau in Rot Mitleid. Sofort verdrängte sie es. Kein Platz dafür. Kein Platz für irgendwelche Emotionen. Sie hatte eine Mission zu erledigen. Alles andere war unwichtig.
War es zu früh, sich Laura zu nähern? Wann war der richtige Zeitpunkt? Es gab ihn praktisch nie. Meistens verpasste man ihn.
Blut. So viel Blut vor ihren Augen.
Warum hast du das getan?
Die Frau in Rot blinzelte die unliebsamen Bilder weg. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Rettung war ausgeschlossen. Für sie gab es nur noch Rache. Er würde bezahlen. Für alles. Ihre rot lackierten Fingernägel bohrten sich in ihren Handrücken. Der Schmerz half, bei Verstand zu bleiben. Sie lächelte und legte die Zeitung weg. Ihr Blick traf den eines dunkelhaarigen Mannes. Seit sie sich auf die Bank gesetzt hatte, beobachtete er sie schon und schenkte seiner Begleitung kaum Aufmerksamkeit. Dem Alten mit dem Hut schien es jedoch nichts auszumachen. Unverhohlen glotzte der Fremde ihr auf die Brüste.
Mit einer immensen Wut im Bauch stand sie auf. Sie war ihr ständiger Begleiter, den sie hasste und liebte. Die Wut zerfraß sie innerlich wie ein Krebsgeschwür und war zugleich ihr Antrieb. Die Frau in Rot passierte den widerlichen Kerl und den alten Mann. Bestimmt wanderte der Blick von Ersterem zu ihrem Hintern, sobald sie an ihnen vorbei gegangen war. Ein Schnauben entkam ihren Lippen. Sie waren wirklich überall. Diese Kotzbrocken, die Leben zerstörten, weil sie ihre Gier nicht im Griff hatten. Die Stöckelschuhe klackerten geräuschvoll über den Asphalt. Der Wind blies dunkle Haarsträhnen in ihr Gesicht. Sie wischte sie zur Seite. Es war Zeit, mit Laura zu sprechen.
Kapitel 3
Laura blinzelte. Verwirrt sah sie sich um. Sie stand vor einer Tür und trug normale Kleider. Was war passiert? War sie nicht eben noch im Rollstuhl gesessen? Die schweißtreibenden Schmerzen waren wie weggeblasen. Als hätte sie jemand einfach so von ihr genommen. Hatte Jesus etwa seine heilende Hand aufgelegt? Der Gedanke war genauso unrealistisch wie die Tatsache, dass sie auf einmal schmerzfrei war. Kein Schmerzmittel der Welt konnte so gut sein. Oder? Irritiert sah sie an sich herab. Wie war das möglich? Eben erst war sie doch noch intubiert gewesen und jetzt konnte sie völlig ohne Hilfe stehen?!
Wie war sie überhaupt hierhergekommen?
Die Krankenschwester und Tom hatten sie auf die Neo-Intensiv begleiten wollen, doch Laura konnte sich nicht an den Weg nach unten erinnern. Ratlos starrte sie die weiße Stationstür vor sich an. Weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Wo war Tom hin? Eben war er doch noch hier gewesen. Bis die Dunkelheit Laura eingesogen hatte. Was ging hier nur vor sich?
Wo war Schwester Charlotte, die ihr in den Rollstuhl geholfen hatte? Laura erschrak. Woher kannte sie plötzlich den Namen der Schwester? Hatte sie sich Laura vorgestellt? Und woher wusste sie auf einmal, dass sie ihr beim Rolli
assistiert hatte? Nichts machte Sinn.
Sie runzelte die Stirn. Die weiße Tür lag direkt vor ihr. Der Eingang zur Intensivstation der Neonatologie? Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher. Wo waren die Schilder? Lag hinter dieser Tür tatsächlich ihre Tochter? Könnte sie einfach so reingehen? Laura sah sich um. Sie war ganz allein. Sie zögerte. Sollte sie es wagen und die Station einfach betreten? Vielleicht traf sie jemanden, der Antworten für sie hatte. Einen Arzt. Offensichtlich stimmte mit ihrem Kopf irgendetwas nicht. Vielleicht hatte sie ein Schädel-Hirn-Trauma bei dem Unfall erlitten.
Blödsinn! Dann müsste es ihr doch schlechter gehen. Körperlich fühlte sie sich völlig fit. Das musste aber nichts bedeuten. Sie dachte an ihre Tante Lissi, die letztes Jahr an Krebs gestorben war. Lissi war es lange gut gegangen. Die Schmerzen waren erst mit der Chemo gekommen.
»Willst du nicht reingehen?« Eine junge Frau war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Das Erste, das Laura an ihr auffiel, war die dunkelbraune, lockige Mähne. Laura wischte ihr eigenes rotes Haar, das in wirren Strähnen von ihrem Kopf stand, aus dem Gesicht. Neben der hübschen Brünetten fühlte sie sich hässlich. Die Fremde erinnerte Laura ein wenig an Nina Dobrev, die Hauptdarstellerin aus »The Vampire Diaries«. Eine ihrer Lieblingsserien. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie die Vampir-Saga praktisch in sich aufgesogen.
Katherine, wie Laura die Fremde im Stillen taufte, wirkte im Krankenhaus völlig fehl am Platz. Jemand mit ihrem Aussehen gehörte in einen Katalog oder auf den Laufsteg. Sie trug einen roten Hosenanzug in Kombination mit einer schwarzen Bluse. Vorsichtig streckte sie ihre feingliedrigen Finger nach Laura aus und berührte diese zaghaft am Arm. Sie war schlank. Zart. Wirkte zerbrechlich. Ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre rot geschminkten Lippen. »Du hast mich wohl vergessen. Es kommt immer wieder vor, dass wir übersehen werden.«
»Wieso wir?« Laura konnte sich kaum vorstellen, dass jemand wie Katherine nicht wahrgenommen wurde. Ganz bestimmt wurde sie das. Vor allem von der Männerwelt. Und wieso sprach sie in der Mehrzahl? Wieso sollte Laura sie vergessen haben? Sie war sich ziemlich sicher, der Fremden noch niemals zuvor begegnet zu sein.
Katherine zuckte als Antwort nur mit den Schultern. »Darüber reden wir ein anderes Mal. Aber jetzt geh schon!« Sie nickte in Richtung Tür.
Laura hatte noch so viele Fragen, aber als sie den Mund öffnete und sie stellen wollte, sagte Katherine: »Du hast nicht mehr lange Zeit.«
»Wieso nicht?«
»Weil sie dein Baby gleich wegbringen werden.«
»Was? Wer sollte sie wegbringen? Wohin überhaupt?«
Katherine sah sich um. »Hier ist es nicht sicher. Geh rein und rette dein Kind. Ich lenke in der Zwischenzeit alle ab.«
Der Dialog klang verrückt, aber Lauras Kopf begann zu schmerzen und sie wollte nicht länger darüber nachdenken und vor allem wollte sie zu ihrem Kind. Also drückte sie die Tür auf. Ihre Spannung stieg, gleichzeitig mit ihrem Puls. Gleich würde sie ihr Baby sehen! Vielleicht. Erwartungsvoll und zugleich freudig betrat sie den Gang. Da war nur ein Gedanke in ihrem Kopf: Ich will zu meiner Kleinen!
Tom war noch immer verschwunden, genau wie Schwester Charlotte. Sollte sie nach ihnen suchen? Immerhin wusste Laura nicht, in welchem Zimmer ihr Baby lag und ohne die Krankenschwester wäre es schwer, das richtige zu finden. Egal. Sie würde es schon schaffen.
Verwirrt nahm Laura die Umgebung wahr. Sollten hier nicht alle steril gekleidet sein? Eine ihrer Freundinnen hatte ein Frühchen geboren und von daher wusste Laura, dass die Eltern stets einen Kittel überstreifen mussten. Auf dieser Station trug jedoch fast jeder zivile Kleidung. Eine weißhaarige Frau taumelte und stützte sich an der grauen Wand ab. Sie wirkte, als wäre sie betrunken. Ein Mann mit einem Hut kam ihr entgegen, den er zum Gruß hob. Er war viel zu alt, um der Vater eines Neugeborenen zu sein. Oder?
Ein Arzt steuerte auf Laura zu. Würde er sie rügen, weil sie unpassende Kleidung trug? Aber die Frau mit dem friedhofsblonden Haar und der Hutträger waren doch auch nicht vorschriftsgemäß gekleidet.
»Frau Weiß! Was tun Sie denn hier?« Der Mediziner stoppte vor ihr und sah sie fragend an.
»Woher kennen Sie meinen Namen?« Laura machte einen Schritt nach hinten. Irgendetwas stimmte hier ganz eindeutig nicht. Sie wünschte, sie hätte Katherine mehr Fragen gestellt.
Der Arzt runzelte die Stirn. Fast schien es, als wolle er seufzen und hielt sich lediglich im letzten Moment zurück. »Kommen Sie! Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer!«
»Nein! Ich hab‘ meine Tochter noch nicht gesehen! Ich will zu ihr!«, protestierte Laura lautstark. Ihre Verletzungen kamen ihr in den Sinn. Wie konnte ihre Stimme schon so kräftig sein? Wie war es möglich, dass sie hier vor dem Arzt stand – ohne Rollstuhl – und keinerlei Schmerz verspürte? War der Wunsch einer Mutter ihr Kind zu sehen wirklich so stark, dass er alles andere verdrängen konnte?
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Hutträger sich mit einem jungen, dunkelhaarigen Mann unterhielt, welcher seine Aufmerksamkeit jedoch mehr ihr schenkte, als seinem Gesprächspartner. Ein finsterer, berechnender Blick traf sie. Der Mann beobachtete sie. Eindeutig. Zu sehr abgelenkt, bekam Laura fast nicht mit, dass der Arzt wieder mit ihr sprach. Dieses Mal in einem bestimmenden Tonfall: »Frau Weiß, Ihre Tochter ist nicht hier!«
Laura wendete sich von dem mysteriösen Kerl ab, der sie an einen Mafioso erinnerte und sah stattdessen den Arzt vor sich an. Sein Namensschild wies ihn als Dr. Roth aus. Instinktiv wich Laura vor dem furchteinflößenden Mediziner zurück, dabei wankte sie leicht. Noch immer keine Schmerzen. Warum nicht? Wie lange war der Unfall her? War sie womöglich im Koma gelegen? Warum hatte Tom nichts gesagt? Verdammt, wo war er überhaupt? Wieso ließ er sie allein? Hatte er sie längst abgeschrieben? War er bei einer anderen Frau? Hatte Katherine recht und irgendjemand wollte ihr Baby stehlen? Nein, das wäre doch gar nicht möglich. Allerdings war alles so verwirrend und ihr Kopf schmerzte so unerträglich.
»Frau Weiß, bitte beruhigen Sie sich doch!« Der Arzt streckte eine Hand aus, wie um ein scheues Tier zu besänftigen.
»Wo ist mein Baby?!« Sie wollte die Frage gar nicht stellen, doch die Worte verließen ihre Lippen, ohne dass sie sie aufhalten konnte.
Mehrere Blicke richteten sich auf sie, darunter der des Mafia-Kerls. Aber nicht nur er, auch viele andere Fremde starrten sie an. Wo kamen auf einmal all die Leute her?
Irgendwo schrie ein Baby. Also doch! Hier gab es Babys! Warum behauptete dieser Dr. Roth etwas anderes?
»Ich will zu meinem Baby! Ich will einfach nur mein Baby!«, versuchte Laura es erneut. Mia war der Schlüssel zu ihrem Glück. Sie musste gesund sein. Nach ein paar Wochen oder Monaten im Krankenhaus würde sie mit nach Hause kommen und dann würde alles gut werden. Tom würde Laura nicht mehr betrügen und sie nicht verlassen. Und Katherine … Katherine war bloß eine Einbildung gewesen. Richtig? Richtig! Warum bekam sie dann kaum noch Luft?
»Sie müssen sich beruhigen, Frau Weiß!«
»Sagen Sie mir nicht, was ich muss!« Wut flammte in ihr auf.
»Ich bringe Sie zurück auf Ihr Zimmer! Kommen Sie!« Entschlossen fasste Dr. Roth sie am Arm. Laura wollte sich seinem Griff entwinden. Wo war Tom? Wieso half er ihr nicht?
Er hat wohl etwas Besseres zu tun. Vermutlich ist er im Moment mit einer anderen zusammen. Er wird dich eintauschen. Das hat er doch schon fast gemacht. Mia war wahrscheinlich das Einzige, das ihn noch bei dir gehalten hat.
Aber er hatte sich doch so verändert in den letzten Monaten. Er ging nicht mehr aus. Er konnte bei keiner anderen gewesen sein. Da war kein Lippenstift mehr. Kein fremder Geruch. Keine Nachrichten. Er hatte damit aufgehört.
Laura wollte es so sehr glauben. Tom würde sie doch bestimmt nicht im Stich lassen. Nicht jetzt. Nicht in dieser furchtbaren Situation.
»Wo ist mein Mann?« Sie versuchte, den Arzt abzuschütteln.
»Er ist nicht hier!«
»Er ist doch mit mir hierhergekommen!« Laura verstand nichts mehr. Was wurde hier gespielt? Und wieso half Katherine ihr nicht? Sie hatte doch gesagt, sie würde für Ablenkung sorgen? Warum tat sie das nicht?
»Frau Weiß, Sie …«
»Wenn Sie mir noch einmal sagen, dass ich mich beruhigen muss, dann schlage ich Sie nieder und suche selbst nach meinem Baby!« Eine lächerliche Drohung. Sogar in ihren eigenen Ohren. Natürlich nahm der Arzt sie nicht ernst. Stattdessen atmete er schon wieder hörbar aus und zog eine Spritze aus seinem Kittel hervor.
»Was tun Sie da?!« Verwirrt und zugleich panisch stolperte Laura rückwärts.
»Ich helfe Ihnen.«
Sie wollte ausweichen, doch auf einmal tauchten zwei kräftige Pfleger wie aus dem Nichts auf und hielten sie fest. Sie dachte an Katherines Worte. Ihr Baby würde weggebracht werden. Von wem? Wohin? Sie durfte das nicht zulassen.
Laura begann sich heftiger zu wehren. Die Pfleger waren grob. Ihre Griffe schmerzten. Wie eine Kriminelle fühlte sie sich.
Wann war die Situation so eskaliert?
Sie wollte doch nur ihr Kind beschützen.
Warum taten diese Männer ihr das an?
Was wurde hier gespielt?
Hatte das vielleicht irgendwas mit ihrem Unfall zu tun?
Vielleicht war das gar kein Unfall gewesen! Was sonst? Ein Komplott?
Aber warum? Wer sollte etwas gegen sie haben?
Sie war Angestellte in einer Notariatskanzlei. Ihr Mann Radiomoderator. Eine stinknormale Familie. Warum sollte ihnen jemand schaden wollen? Hatte Tom etwa Schulden bei jemandem, dem man lieber nichts schuldete? Nein, das machte keinen Sinn. Was sollte das mit ihrer Tochter zu tun haben?
Warum ließ der Arzt sie nicht zu ihrem Baby? Wo war Mia? Das war Lauras letzter Gedanke, bevor alles um sie herum schwarz wurde.
Kapitel 4
»Heute bin ich Sailor Mars!« Das kleine Mädchen stemmte die Hände in seine Seiten und starrte seine Schwester herausfordernd an.
»Nein! Bist du nicht!«, gab diese unbeeindruckt zurück und schaukelte friedlich weiter.
»Bin ich wohl!«
»Kinder!« Ihr Vater blickte über den Rand seiner Zeitung hinweg auf sie beide hinunter. Er hatte es sich auf ihrer Terrasse gemütlich gemacht und saß im Schatten des Sonnenschirms. Ihre Katze Luna lag auf seinem Schoß und schnurrte laut. »Wieso seid ihr nicht beide Sailor Mars!«, schlug er vor.
»Nein!«, kam es einstimmig von den Mädchen.
Ein Grinsen erschien auf den Lippen ihres Vaters. Was fand er nur lustig daran?
»Das geht nicht!«, fauchte die Jüngere und stampfte wütend mit dem Fuß ins Gras.
»Wieso nicht?«, fragte ihr Papa unbeeindruckt.
»Weil es nicht zwei Mal die gleiche Person geben kann! Und sie ist immer Sailor Mars!«, beharrte die Siebenjährige.
»Eben! IMMER!«, wiederholte die Ältere.
Ihr Vater seufzte.
»Wieso seid ihr nicht einfach die eineiigen Zwillinge Sailor-Mars!«, schlug er vor und fügte hinzu: »Und Tuxedo Mask schenkt euch dann die Rosen!« Ihr Vater nickte in Richtung des roten Rosenstrauches.
»Tuxedo Mask schenkt keine Rosen«, belehrte ihn das ältere Mädchen.
»Genau! Er besiegt die Bösewichter mit den Rosen. Mit den scharfen Dornen!«, fügte die Jüngere wichtig hinzu.
»Vielleicht macht Tuxedo Mask heute eine Ausnahme!« Ihr Vater stand auf, griff nach der Gartenschere, die zu seinen Füßen lag und steuerte die Rosen an. Vier Blumen schnitt er ab, dann holte er theatralisch Luft und rief: »Im Namen des Mondes werde … ich euch bestrafen!« Dabei verstellte er seine Stimme, holte aus und warf die Blumen von der erhöhten Terrasse auf seine beiden Töchter. Laut lachend sprang die Ältere von der Schaukel, während das jüngere Mädchen kreischend auf die Rosen zulief.
Gemeinsam sangen alle drei die Titelmusik. »Sag das Zauberwort und du hast die Macht …«, während sie im Garten herumtollten. Vergessen war der kleine Streit.
Kapitel 5
Tom saß neben Laura. Sein Kopf ruhte in seinen Händen, die Ellenbogen hatte er auf ihr Bett gestützt. Grässliches Weiß. Überall. Die Bettwäsche. Die Wände. Toms Gesicht. Ihre eigenen Hände. Befremdlich betrachtete Laura ihre Finger. Sie waren blutleer. Wie die einer Leiche.
»Du bist wach.« Toms Stimme klang rau. Ein dunkler Bartschatten zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er sah aus, als hätte er sich tagelang nicht rasiert. Vermutlich nicht seit dem Unfall. Wie lange lag der nun zurück? Drei Tage? Oder länger? Wie lange hatte sie geschlafen?
Plötzlich fiel ihr wieder alles ein. Die Neonatologie. Der Arzt, der sie einfach niedergespritzt hatte, als wäre sie verrückt. Nur, weil sie ihr Baby hatte sehen wollen. Ihr Baby …
»Wo ist Mia?« Laura räusperte sich.
Toms Adamsapfel hüpfte. In einer fahrigen Bewegung strich er durch sein dunkles Haar. Es könnte eine Wäsche vertragen. Strähnig hing es hinab. Ihr Mann trug es etwas länger, allerdings in keinem Langhaarschnitt. Es reichte ja noch nicht mal ganz bis zu den Schultern. Aber es war wuschelig. Laura liebte es für gewöhnlich, durch Toms Haar zu fahren. Sich daran festzuhalten, wenn sie ihn küsste. Heute graute ihr allein bei dem Gedanken an seine Nähe. Beinahe wie an jenem Tag, als sie die Nachrichten auf seinem Handy gelesen hatte.
»Letzte Nacht war schön. Ich freue mich schon auf das nächste Mal. S.«
Laura war stutzig geworden, hatte es aber zuerst auf ihre Paranoia geschoben. Ihr Ex-Freund hatte sie betrogen, also vielleicht reagierte sie über. Immerhin war die Mitteilung von einem »Sven« gekommen. Vermutlich bloß einer von Toms Kumpels, der außergewöhnliche Formulierungen verwendete. Vielleicht war das auch ein Scherz unter Männern. Immerhin hatte Tom doch gesagt, er wäre mit seinen Billard-Freunden unterwegs gewesen. Bei der nächsten Nachricht sah Laura dann aber rot:
»Wann sagst du es endlich deiner Frau?«
Wenn ihr Mann nicht plötzlich schwul geworden war, dann steckte hinter diesem »S« ganz bestimmt nicht Sven. Und welchen Grund sollte Tom haben, einen falschen Namen einzuspeichern, wenn er nicht etwas zu verbergen hatte?
Offenbar stand Laura auf einen ganz speziellen Typ, was Männer anbelangte: den Fremdgeher.
Sie betrachtete Toms Gesicht. Die braunen Augen unter den buschigen Brauen. Seine etwas zu breite Stupsnase. Die schmalen Lippen. Seine Gesichtsform war oval. Er war hübsch, aber kein Schönling. Nicht so wie ihre erste große Liebe Ronny. Er hätte als Model arbeiten können. Leider wusste er das auch. Die Mädchen liefen ihm scharenweise hinterher und Laura war bloß eine von vielen. Sie war die Letzte, die begriff, dass er mit der halben Stadt geschlafen hatte und sie auch nicht seine einzige »Freundin« war. Aus dieser Erfahrung hatte sie gelernt und seither keinen Mann mehr gewollt, der schöner war als sie selbst. Sie wusste, das hörte sich dumm an, aber wenn der Kerl zu hübsch war, hatte man ihn doch nie für sich allein. Abgesehen davon waren fast alle Schönlinge Mistkerle. Vielleicht waren ihre Überzeugungen diesbezüglich sehr klischeegeladen, aber das war nun mal ihre Meinung. Wie naiv. Tom war kein Model und trotzdem hatte er sie betrogen. Wahrscheinlich war die andere seinem Lächeln erlegen. Den Grübchen, die sich dann an seinen Wangen bildeten. Heute lächelte er nicht. Im Moment starrte er sie an.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«
Sie konnte nicht in ihm lesen. Wusste nicht, ob er verärgert war. Wann hatten sie sich derartig entfremdet? Wie hatte sie nur denken können, ein gemeinsames Kind würde alles kitten?
»Laura? Ich rede mit dir.«
»Ja, tut mir leid. Ich war gerade abgelenkt.« Ich habe überlegt, mit wem du geschlafen hast. Natürlich sprach sie die Worte nicht aus. Was sagte es über sie als Mutter aus, dass sie ihrem verlogenen Mann mehr Gedanken widmete als ihrem kleinen Mädchen?
Das schlechte Gewissen überrollte sie und hinterließ ein drückendes Gefühl in ihrer Brust. Um Tom nicht anzuschreien, presste Laura ihre Lippen fest aufeinander. Wie unpassend, dass er enttäuscht wirkte. Beinahe resigniert, so wie er die Schultern hängen ließ.
»Was ist mit Mia?« Der Gesundheitszustand ihrer Tochter war im Moment das Einzige, das zählte und auf das sie sich konzentrieren sollte. Sie dachte an Dr. Roth, der sie nicht zu ihr gelassen hatte. An Katherines Worte. »Wo ist sie?«
Keine Antwort.
Eine düstere Ahnung beschlich Laura. Ein Wispern verließ ihre Lippen: »Ist sie … tot?«
Noch immer antwortete Tom nicht. Sah sie nur an. Unmöglich zu erahnen, was er dachte.
»Sie ist tot, oder?« Warum gab er keine Antwort, verdammt?
Mit einem Ruck stand Tom auf. Seine Bewegungen wirkten steif und er kreiste seine Schultern. Er drehte ihr den Rücken zu, während er in dem Krankenzimmer auf- und ablief.
»Tom! Rede mit mir!« Ihre Stimme überschlug sich, ohne dass sie es wollte. Sie wollte nicht so hysterisch sein, aber … War es zu viel, eine Auskunft zu verlangen? Wieso brachte er den Mund nicht auf? Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt und die Antwort aus ihm rausgeprügelt. »Wo warst du vorhin? Du hast den Rollstuhl geschoben und auf einmal warst du weg. Du hast mich allein gelassen!« Sie konnte die Anschuldigung in ihrer Stimme nicht verstecken.
»Das hab‘ ich nicht!« Schwungvoll wandte er sich ihr wieder zu. So viel Schmerz und gleichzeitig Ärger, den Laura nicht nachvollziehen konnte, standen in seinem Gesicht geschrieben. »Ich hab‘ dich nie allein gelassen!«, fügte er dann leiser hinzu, so als wäre seine ganze Wut plötzlich verpufft.






