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Es war nun kurz vor Mitternacht, also nahe genug am Geschäftsschluss, um die Bude für heute dichtzumachen. Ich verriegelte den Eingang und schaltete die Videokabinen aus. Anschließend rechnete ich die Kasse ab, was wie meistens sehr schnell ging. Die Tageseinnahmen in den dafür vorgesehenen Tresor zu legen, lohnte den Aufwand nicht, denn sie beliefen sich auf nicht einmal 200 Euro.
Ich ließ sie einfach in der Kassenschublade liegen und schrieb meinem Kollegen einen Zettel, dass er sich morgen früh nicht auf den Weg machen musste, das Geld zur Bank zu bringen. Anschließend fuhr ich den Rechner herunter, schaltete das Licht aus und ging um den riesigen Schrank herum zum Hinterausgang. Dort nahm ich meine Jacke vom Haken und tippte den Code ein, um die Alarmanlage scharf zu stellen. Schließlich verließ ich den Laden durch den Hausflur des Nachbarhauses. Wieder draußen ging ich einige Schritte bis zu meinem Wagen, lehnte mich an den Kotflügel und streckte mich. Mein Rücken krachte regelrecht. Es wäre ein absolutes Wunder, wenn ich durch die pausenlose Hockersitzerei nicht längst einen Haltungsschaden bekommen hatte. Ich legte den Kopf in den Nacken und beobachtete den Himmel.
Obwohl es bereits finsterste Nacht war, hatten der Himmel und die Wolken eher eine gräuliche Färbung. Eine der Wolken strahlte besonders auffällig. Anscheinend verbarg sich hinter ihr der Vollmond oder ein zumindest sehr großer Mond. Die Abende waren noch angenehm warm, aber man konnte bereits riechen, dass es Herbst war. Und ich meinte nicht den Geruch von feuchtem Laub, Regen oder Nebel. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrungen.
Mein Herbst roch nach Urin, Zigarettenqualm und anderem Pennergestank. Aber streng genommen rochen die anderen Jahreszeiten auch nicht anders. Ich überlegte, was ich jetzt noch unternehmen konnte, denn einer der Nachteile meines Jobs war, dass er zwar jede Lebensfreude aus einem heraussaugte, einen aber nicht ermüdete. Jedenfalls nicht so, dass man am liebsten sofort ins Bett fallen wollte.
Ich gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die sich jetzt auf den Weg zu einer After-Work-Party machte, um dann mit Freunden noch ein bisschen zu tanzen und dabei vielleicht noch zwei oder drei Cocktails zu trinken. Im Gegenteil ekelte ich mich vor diesem oberflächlichen, dummen Getue. Und mich widerten diese Menschen an, wenn sie zusammenstanden und kicherten, ihr Draft-Beer oder ihren Mojito tranken und sich für das Zentrum des Universums hielten, bloß, weil es genug andere Idioten gab, die sie in dieser Annahme bestätigten in der Hoffnung, sie vielleicht eines Tages ficken zu dürfen. Nein, da war ich mir mehr wert.
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr los. Nach Hause wollte ich noch nicht, denn dort wartete niemand auf mich. Abgesehen davon fand ich, dass ich mir nach einem langen und ereignisarmen Arbeitstag einen kleinen Ausgleich verdient hatte. Work-Life-Balance und so. Nach wenigen Minuten erreichte ich die kleine Seitenstraße, in die ich wahrscheinlich bereits eine Million Mal abgebogen war. Die gesamte Gegend wurde vermutlich schon in heruntergekommenen Zustand erbaut, so wirkte es jedenfalls. Nur etwa jede zweite Straßenlaterne funktionierte, und um die wenigen Abfalleimer herum verteilt lagen Plastikbeutel mit dem Müll der Bewohner der umliegenden Häuser. Diese rekrutierten sich zu etwa gleichen Teilen aus Zigeunern, Punkern und irgendwelchen Rumänen und Ungarn, die man hier zusammengepfercht hatte, damit sie das Kindergeld für nicht existente Kinder kassieren und dem örtlichen Paten in Bukarest, Budapest oder hier überweisen konnten.
Die Straße, in der ich mich nun befand, tat sich allerdings dadurch hervor, dass in ihr das Wort Service schon immer großgeschrieben wurde. Begonnen hatte es mit dem Babystrich, der weit über die Stadtgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt hatte. Als man die Minderjährigen schließlich vertrieben hatte, kamen die Junkies und mit ihnen die Dealer. Die Straße entwickelte sich schnell zu einem bekannten Hotspot für Drogen aller Art.
Als dann ein neuer Bürgermeister gewählt wurde und dieser zeigen wollte, was für ein harter Kerl er war, verscheuchten die Bullen hier jeden einzelnen Drogenhändler. Die ließen sich anstandslos vertreiben und machten so Platz für den ganz normalen Straßenstrich.
Normal in dem Sinne, dass man es nicht mit zahnlosen, verdreckten Junkienutten zu tun hatte. Nein, es waren Junkienutten, die aber etwas auf sich gaben und auch noch duschten. Abteilung ›Gutes günstig‹.
Unser aktueller Bürgermeister hatte wohl andere Dinge zu tun, denn man ließ die Frauen hier nahezu unbehelligt gewähren, sodass ich mich schnell zu einem Stammkunden entwickeln konnte, ohne mich mit der Polizei oder dem Ordnungsamt herumschlagen zu müssen. Zeit also, das aktuelle Angebot zu begutachten. Ich schaltete einen Gang herunter und passierte langsam die Auslage.
Die meisten der Frauen kannte ich bereits, zumindest vom Sehen her, weswegen sie mich nicht interessierten. Nach einigen Sekunden blieb mein Blick aber an einer kleinen Brünetten hängen, die ich noch nicht kannte. Sie trug ein bauchfreies Top, über das sich quer der Riemen ihrer kleinen Handtasche spannte.
Unter ihrem Minirock trug sie eine billige Netzstrumpfhose in einem seltsamen Gelbton, dazu weiße Stiefeletten, wie man sie aus Filmen kannte, die 1980 in New York spielten.
Nein, sie war weder schön noch sexy, aber mir gefiel, wie einsam und verloren sie wirkte. Ich hielt an und fuhr das Fenster der Beifahrertür hinunter.
Wie auf Kommando trat das Mädchen an das Auto und schob ihren Kopf in den Wagen. Sie war vielleicht Anfang, Mitte zwanzig, hatte sich aber für Straßenstrichverhältnisse gut gehalten. Wahrscheinlich war sie noch nicht allzu lange abhängig.
Ihr glasiger Blick und ihr nervöses Herumgekaue auf ihrer Unterlippe ließ jedoch ahnen, dass ihr letzter Schuss schon einige Zeit zurücklag. Wunderbar, ich konnte mich also auf entspannte Verhandlungen freuen.
»Hallo«, lachte ich freundlich. »Nicht viel los heute Abend, was?«
»Hm, na ja, geht so.«
»Tja, was will man machen. Liegt vielleicht an der Tageszeit. Oder am Tag selbst. Ist ja noch ein bisschen hin bis zum Wochenende. Kommen auch wieder bessere Zeiten, sage ich immer.«
»Ja, kann schon sein«, sagte das Mädchen und zog etwas Rotz die Nase hoch.
Sie trat bereits ungeduldig von einem Bein aufs andere.
»Wie viel soll denn ein kleines Nümmerchen im Auto kosten?«, fragte ich.
»Zwanzig.«
»Zwanzig? Euro?«, fragte ich. »Hui, das ist aber teuer«, sagte ich dann und wedelte dramatisch mit der Hand.
Die Kleine zuckte nur mit den Schultern und sah mich an. Vermutlich sollte mir dieser Blick so etwas wie Entschlossenheit vorgaukeln.
»Also mehr als einen flotten Zehner wollte ich ja eigentlich nicht investieren.«
»Das kannst du direkt vergessen. Zwanzig oder fahr weiter.«
Ich lächelte gütig und beugte mich ein Stück vor.
»Pass mal auf, Mäuschen. Entweder gebe ich dir einen Zehner oder ich fahre noch ein paar Mal um den Block, bis du deinen Affen kriegst und ich dich für ein Päckchen Ibuprofen vögeln kann.«
Die Kleine blickte mich mit versteinertem Gesichtsausdruck an. Dann öffnete sie wortlos die Wagentür und stieg ein.
»Hurensohn«, murmelte sie dabei leise.
»Ich weiß«, lachte ich und gab Gas.
Wie üblich fuhr ich zu einem Parkplatz, der mit dem Auto keine zwei Minuten weit entfernt lag. Vor einigen Monaten war dies noch der Parkplatz eines größeren Elektrohandels gewesen, jetzt aber hatte er keine Verwendung mehr für den Parkraum, was sicher auch mit dem Bankrott des Unternehmens zusammenhing. Irgendwer hatte nach der Schließung des Ladens halbherzig irgendwelche Zäune errichtet, die jedoch keinem Eindringling standhielten.
Wenn man Platz benötigt, dann nimmt man ihn sich früher oder später einfach, und da der örtliche Straßenstrich anscheinend den größten Bedarf hatte, konnte man die Dame seines Herzens hierher kutschieren, damit sie im gemütlichen Licht verdreckter Straßenlaternen ihr Werk verrichten konnte. Ich fand das ungemein praktisch.
Langsam fuhr ich auf den Parkplatz auf und stellte fest, dass es bereits einige Fahrzeuge nebst Insassen hierher verschlagen hatte, und von der eleganten Limousine bis zum Kleinwagen war wieder einmal alles vertreten.
Ich steuerte meinen Wagen an die Backsteinwand des verlassenen Gebäudes und parkte.
Die Hure rutschte im Sitz herum und sah mich abwartend an.
»So, dann steig mal aus«, sagte ich und deutete mit dem Kinn in ihre Richtung.
»Was? Warum? Du kannst mich auch hier drin ficken.«
»Da hast du natürlich recht. Und dennoch: Raus mit dir, verdammt noch mal.«
Das Mädchen maulte etwas Unverständliches, machte aber schließlich doch keinerlei Anstalten, sich aus dem Wagen zu bewegen. Ich stieg ebenfalls aus. Auf dem Parkplatz zog ich meine Stiefel, sowie Hose und Unterhose aus und warf alles auf den Fahrersitz. Dann ging ich um den Wagen herum und setzte mich breitbeinig auf den Rand des Beifahrersitzes. Die Lichtverhältnisse waren wirklich nicht gut, aber den ungläubigen Blick der Frau hätte man mit Händen greifen können.
»Was soll das jetzt werden?«, fragte sie nach einer Sekunde.
»Ich hab’s mir überlegt«, antwortete ich. »Blas mir einen. Ich hab keine Lust zum Vögeln.«
»Aber der Boden ist steinhart und versifft.«
»Ist mir scheißegal. Mach hin.«
Die Hure hockte sich vor mir auf den Asphalt, und nachdem sie eine halbwegs bequeme Position zwischen meinen Knien gefunden hatte, begann sie damit, an meinem Schwanz herumzufummeln. Zuerst ein bisschen lieblos, aber als sie ihn schließlich im Mund hatte, gewann ihre berufliche Routine die Oberhand über ihre Abneigung. Ich hielt mich am Rahmen des Autos fest, um stabiler zu sitzen.
Dabei schaute ich in den Sternenhimmel, der, obwohl sich einige der Wolken bereits aufgelöst hatten, noch immer keine Romantik verströmen wollte. Der Kopf der Frau wippte nun gleichmäßig vor und zurück, gelegentlich war ein Schmatzen zu hören. Ich schaute wieder aufwärts. Das All war so gigantisch groß, und auch wenn die Erde gemessen daran eher winzig und unbedeutend war, so war auch dieser Planet nicht zu unterschätzen und eigentlich voller Möglichkeiten. Aber welche davon boten sich mir?
Ich war 35 Jahre alt und hatte eigentlich noch mein ganzes Leben vor mir. Das wollte ich ganz sicher nicht in einem heruntergekommenen Sexshop verbringen. Ganz abgesehen davon würde es diese Bude in einigen Monaten oder Jahren sowieso nicht mehr geben. Aber was sollte ich tun? Ich hatte einen Schulabschluss, sogar einen ganz guten, aber weder eine Ausbildung noch sonst irgendetwas, dass mich zumindest auf dem Papier zu irgendeiner besonderen Tätigkeit qualifizierte. Und selbst wenn ich so einen Wisch hätte, bedeutete das noch gar nichts.
Ich gehörte nicht unbedingt zu den anpassungsfreudigsten Menschen, weswegen es meiner Umwelt meist sehr schwerfiel, sich mit mir anzufreunden. Es nützte nichts: So lange die Welt größtenteils von Vollidioten und Arschlöchern bevölkert wurde, war es für mich ziemlich schwierig, einen angemessenen Platz auf ihr zu finden. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Meine Zeit würde schon noch kommen.
Die Nutte unter mir schnaufte nun deutlich hörbar. Mein Schwanz steckte noch immer in ihrem Mund, und ihre Hand massierte mich nun schneller.
Ich schloss die Augen und versuchte, nicht weiter an meine aktuelle Lebenssituation zu denken, was mir irgendwann auch gelang. Auch mein Puls ging nun schneller, und schließlich griff ich der Frau ins Haar und hielt so ihren Kopf fest, während ich mich in ihren Mund ergoss. Sie versuchte kurz, ihren Kopf wegzudrehen, aber ich ließ sie nicht los, sodass sie sich schließlich mit der Situation abfand. Nach wenigen Sekunden ließ ich sie los.
Sie nutzte die Gelegenheit, um mein Sperma laut fluchend auf den Asphalt zu spucken, während sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
»Fein, fein«, sagte ich und rutschte etwas weiter nach hinten auf den Sitz.
»Du Arschloch hättest wenigstens was sagen können. Das kostet eigentlich extra.«
»Halt dein dummes Maul«, sagte ich zu der Frau, die ein wenig aufgebracht schien.
Ich nahm mir die Hose vom Fahrersitz und fummelte mein Portemonnaie heraus. Aus dem Münzfach nahm ich fünf Zwei-Euro-Münzen und hielt sie der Frau entgegen. Die öffnete die Hand und nahm das Geld, nur um sekundenlang ungläubig darauf zu starren.
»Aber nicht für Rauschgift ausgeben«, sagte ich in ermahnendem Ton.
Die Hure blickte mich mit eiskaltem Blick an und spuckte noch einmal aus. Dann drehte sie sich demonstrativ herum und verschwand mit wenigen Schritten in der Nacht. Ich zog mich wieder an und schloss die Beifahrertür, bevor ich hinter dem Steuer Platz nahm. Mein Blick fiel auf die kleinen, rot aufflackernden Lichter in manchen der Autos um mich herum. Die Zigarette danach oder davor. Vielleicht auch dabei. Wahrscheinlich würden sich auch die anderen Jungs, die gleich nach Hause fuhren, kein Stück besser fühlen als vor ihrem kleinen Ausflug hierher. Genau so wenig wie ich. Mein Leben war irgendwie sehr eintönig.
Ich startete den Wagen und fuhr los.
Mittwoch, 08. Oktober
Nach einem traumlosen Schlaf erwachte ich irgendwann gegen Vormittag auf meiner Couch. Ich hatte mir gestern, oder besser gesagt heute Nacht, einfach die Stiefel von den Füßen gezogen, mich auf das Sofa gelegt und im Fernsehen irgendeinen Müllfilm angesehen, vor dem ich dann nach wenigen Minuten bereits eingeschlafen war.
Ich richtete mich auf und streckte mich ausgiebig, wobei mir auffiel, dass ich leichte Kopfschmerzen hatte. Überhaupt fühlte ich mich unausgeruht und verkatert, als hätte ich die ganze Nacht gezecht, dabei hatte ich nicht einen Tropfen Alkohol getrunken. Aus der Küche holte ich mir einen Kaffee, griff mir mein Handy und las desinteressiert die Nachrichten. Während ich geschlafen hatte, waren rund um die Welt Menschen belogen, betrogen, verprügelt, vergewaltigt und ermordet worden. Dazu Naturkatastrophen, Korruption, Börse, Wetter, Sport. Alles wie immer. Ich legte das Gerät aus der Hand und sah mich im Raum um, den ich zwar als Wohnzimmer bezeichnete, ihn aber mehr als Multifunktionsraum nutzte. Ich lebte hier, ich schlief hier, ich aß hier.
Die Küche diente nur dem Zweck, Besteck und Geschirr zu beherbergen und sich an sporadischen Besuchen meinerseits zu erfreuen.
Dem Schlafzimmer erging es ähnlich. Dort befanden sich zwar ein Bett und ein Kleiderschrank, aber beide Möbel nutzte ich nur sehr selten. Dementsprechend sah mein Wohnzimmer auch aus. Überall verteilt lagen Kleidungsstücke und irgendwelcher Krempel herum, den ich abgestellt und anschließend vergessen hatte.
Man konnte sagen, dass die Wohnung meine Persönlichkeit recht gut repräsentierte: charmant, ein bisschen chaotisch, aber mit jeder Menge ungenutztem Potential.
Im Laden musste ich erst in etwa zwei Stunden sein, also hatte ich noch Zeit für ein Frühstück. Ich leerte meine Tasse und ging in die Diele, um mir die Schuhe anzuziehen. Anschließend verließ ich die Wohnung und ging im Treppenhaus zu Fuß die beiden Etagen abwärts bis ins Erdgeschoss.
Dort angekommen sah ich durch die Glasscheibe, dass der Postbote draußen gerade dabei war, einige der Schreiben in die Briefkästen einzusortieren. Ich öffnete den meinen und nahm die beiden Umschläge in Empfang, die mir entgegengerutscht waren. Der erste Brief war tatsächlich für mich und enthielt irgendeinen Quatsch von meiner Bank.
Der zweite Brief war an einen Martin Koch adressiert, der womöglich einer meiner Nachbarn war, was ich aber bei diesem Bunker mit seinen 30 Mietparteien unmöglich sagen konnte. Ich riss die Tür auf und stand vor einem kleinen, dürren Männlein, das mich augenblicklich breit angrinste.
»Guten Tag.«
»Guten Tag am Arsch«, sagte ich und hielt dem Mann die beiden Briefumschläge ins Gesicht. »Kannst du das lesen? Für wen sind die Briefe?«
Der Typ kniff kurz die Augen zusammen und las.
»Ein Brief geht an Marco Haas, der andere an Martin Koch.«
»Entzückend. Und was machen die Dinger in ein und demselben Briefkasten? Soweit ich weiß, habe ich keinen Mitbewohner.«
Der Postbote lächelte verlegen.
»Das muss ein Irrtum sein, entschuldigen Sie.«
Ich lächelte und klopfte dem Mann auf die Schulter.
»Ach was, gar kein Problem. Wir sind doch alle nur Menschen.«
Ich machte einen Schritt vorwärts und trat gegen das klapprige, grüne Postfahrrad, das keinen halben Meter entfernt neben uns stand. Das Fahrrad kippte taumelnd seitwärts, hielt sich einen Moment in Schräglage und fiel schließlich um. Die Briefe, die sich in den großen Taschen vor dem Lenker und am Gepäckträger befanden, breiteten sich wie Fächer auf dem Bürgersteig aus.
»So, da hast du eine kleine Sortierübung. Keine Bange, lesen ist nicht erforderlich.«
Der Postbote blickte entsetzt auf das Chaos, das sich vor ihm aufgetan hatte. Die Zornesröte schoss ihm augenblicklich ins Gesicht, und der Mann ballte die Fäuste, als er wieder zu mir sah. Im ersten Moment glaubte ich wirklich, dass er den Mumm haben würde, um tatsächlich auszuholen.
»Na komm, komm«, lachte ich.
Der Mann entspannte sich sofort wieder.
»Ich … ich werde Sie anzeigen!«
Was für ein Waschlappen. Ich wand mich ohne ein weiteres Wort ab und überquerte die Straße. Ich war bereits einige Meter entfernt, als ich den Briefträger noch immer fluchen hörte. Als ich mich noch einmal zu ihm herumdrehte, war er auf den Knien und sammelte die verstreuten Briefe ein. Ich konnte es nicht fassen.
Natürlich durfte man nicht zu viel von diesen Analphabeten erwarten, die sich für den Mindestlohn abstrampelten, um bei Wind und Wetter Post zu verteilen, die niemand mehr brauchte, da der wirklich wichtige Kram ohnehin per E-Mail verschickt wurde. Aber ich hatte angenommen, dass wenigstens so viel Würde und Stolz in diesem Typen steckte, dass er mehr herausbrachte, als eine kleine angedrohte Anzeige wegen … wegen was? Umschubsen eines Fahrrades? Lächerlich.
Ich erreichte die kleine Bäckerei und besorgte mir dort zwei belegte Brötchen, mit denen ich mich wieder auf den Rückweg nach Hause machte. Vor dem Haus angekommen sah ich, dass der Postbote inzwischen seinen Krempel zusammengeklaubt hatte und zwei Häuser weitergezogen war. In der Wohnung machte ich mir noch eine Tasse Kaffee, mit der ich schließlich mein Frühstück herunterspülte. Als ich den Vorhang beiseitezog und das Fenster öffnete, um zumindest ein wenig frische Luft hineinzulassen, blickte ich in die mir gegenüberliegende Wohnung auf der anderen Seite der schmalen Nebenstraße. Die Wohnung war zurzeit leer, da das Paar, das dort lebte, sich auf der Arbeit befand, wie ich vermutete. Was genau die beiden machten, wusste ich nicht, aber sie führten offensichtlich das, was man ein normales Leben nannte.
Morgens verließen sie das Haus und kehrten in aller Regel am Nachmittag zurück. Manchmal gab es auch freie Tage oder welche, an denen sie bereits nach wenigen Stunden wieder zu Hause waren. Dann saßen beide auf dem Sofa, aßen in der Küche zu Abend und sahen anschließend gemeinsam auf dem Sofa kuschelnd fern. Sehr idyllisch, wenn es nicht so widerlich eintönig und spießig wäre. Mein eigenes Leben, das mehr dem einer Fledermaus glich, war zwar nicht wesentlich aufregender, aber zumindest durfte ich mich rühmen, kein Anhänger der spießigen, deutschen Mittelschicht zu sein.
Ich legte mich zurück aufs Sofa. Minutenlang wälzte ich mich hin und her, konnte aber nicht in den Schlaf finden. Schließlich setzte ich mich genervt wieder auf und sah auf die Uhr: Im Sexshop musste ich erst in einer knappen Stunde sein. Wenn ich jetzt losfuhr, war ich etwas zu früh dran. Ich beschloss, mich trotzdem auf den Weg zu machen, denn weder konnte ich schlafen noch hatte ich Lust, mir irgendwelche Dokumentationen im Fernsehen anzusehen.
Im Flur zog ich mir Schuhe und Jacke an und verließ die Wohnung.

»Tag, Hasi«, begrüßte mich Rainer freundlich, als ich den Laden betrat. »Bist heute aber wieder früh dran.«
Mein Kollege saß auf dem Hocker hinter der Theke und war gerade damit beschäftigt, sich auf unserem tragbaren Blu-ray-Player einen Porno reinzuziehen. Ursprünglich war das Gerät beschafft worden, um reklamierte Scheiben überprüfen zu können, seit aber keine Blu-Rays oder DVDs mehr verliehen und so gut wie keine mehr verkauft wurden, hatte das Gerät seinen Zweck praktisch verloren. Abgesehen natürlich von dem, meinen debilen Arbeitskollegen zu erfreuen.
»Mach die Scheiße da aus. Und nenn mich nicht Hasi, zum tausendsten Mal«, sagte ich, ging um den Tresen herum und hing meine Jacke an den Haken.
»Ja, ja, ja …«, maulte Rainer und schaltete das Gerät ab. »Mir war halt langweilig, außerdem hatte ich noch nicht mit dir gerechnet.«
»Ich schwöre dir, wenn ich hier irgendwann einmal reinspaziert komme und dich dabei erwische, wie du dir einen runterholst, reiß ich dir den Schwanz ab.«
Mein Kollege lachte ein bisschen zu laut.
»Als ob ich mir hier … also echt nicht«, sagte er dann mit deutlich geröteten Wangen.
Ich ließ es dabei bewenden.
Natürlich hatte ich absolut keine Lust darauf, Rainer hier mit heruntergelassener Hose zu erwischen, auf der anderen Seite fand ich die Idee, sich in einem Sexshop vor Langeweile einen runterzuholen, alles andere als abwegig. Ich selbst hatte auch schon sehr oft mit dem Gedanken gespielt, auch wenn es nie so weit gekommen war. Aber wahrscheinlich würde ich auch nichts sagen, wenn ich Rainer zu Schichtbeginn aus einer der Wichskabinen ziehen müsste, denn er war nur ein kleiner Idiot, der zufällig im selben Laden arbeitete wie ich. Technisch gesehen war ich noch nicht einmal sein Vorgesetzter, wir waren zumindest auf dem Papier gleichberechtigte Kollegen. Aber Leute wie Rainer ließen sich leicht dominieren und verlangten geradezu nach jemandem, der ihnen Anweisungen gab. Und den Gefallen tat ich meinem Kollegen nur allzu gern.
»War wohl nicht viel los heute, was?«, fragte ich nach einem Blick in die Kasse, in der sich nicht viel mehr befand als noch gestern Abend.
Mein Kollege schüttelte den Kopf.
»Nein, überhaupt nicht. Zwei Mädels waren hier und haben diese essbaren Slips gekauft für einen Junggesellinnen-Abschied. Und irgendwer hat ein paar alte DVDs gekauft. Ich hab dem nen Rabatt gegeben.«
»Was denn für einen Rabatt?«
»Der hat zehn Scheiben genommen, da hab ich gedacht, 30 Euro wären okay.«
Ich nickte. Wahrscheinlich konnten wir uns glücklich schätzen, dass es überhaupt noch einen Blöden gab, der 30 Euro für DVDs ausgab.
»Ich hab auch heute mit dem Chef telefoniert«, sagte Rainer dann, und ich horchte auf.
»Oha, wie kam er denn zu der Ehre?«
»Ich wollte ihn noch einmal fragen, wie es denn mit meiner Gehaltserhöhung aussieht. Es wird ja alles teurer, habe ich gesagt. Und das sollte sich ja irgendwo auch in meinem Einkommen niederschlagen.«
»Und?«, fragte ich. »Hat Kurt dir gesagt, wohin du dir die Schnapsidee schieben kannst?«
Rainer schaute betreten zu Boden.
»So ungefähr. Er sagte, dass die Zahlen aktuell nicht so gut seien und er sich keine Gehaltserhöhung leisten könne, so lange die nicht besser werden.«
Ich grinste. Wäre Rainer nicht so ein Idiot, könnte man ihn glatt als putzig bezeichnen. Als ein Besatzungsmitglied der Titanic hätte man ihm erzählen können, dass sofort eine Gehaltserhöhung für ihn drin wäre, wenn das Schiff aufhörte zu sinken. Und er würde in dem Fall brav an Deck warten, bis es so weit war.
Dieser Laden konnte praktisch jeden Tag geschlossen werden, da gab es keine besseren Zahlen, auf die zu warten es sich lohnte. Es gab hier seit Monaten nur noch schlechte sowie grauenhafte Tage. Im Grunde war meinem Kollegen dies auch vollkommen klar, aber er hatte einfach nicht den Mumm, sich entweder einen neuen, besser bezahlten Job zu suchen oder Kurt die Pistole auf die Brust zu setzen und ihm zu sagen, dass er kündigte, wenn er nicht sofort mehr Geld bekam.