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»Is alles recht?«, erkundigte sich Tobi, während er dem Mittfünfziger, der gegenüber saß, freundlich zunickte. »Du bisch so allein.«
André schwieg und kaute. Schluckte. »Tja, da kannsch ja mal überlegen, warum das so ist«, versetzte er endlich, und ein schmales Lächeln trat auf seine Lippen. Eines, bei dem die Augen nicht mitlächelten.
Tobi seufzte. »Immer noch beleidigt«, vermutete er. »Aber weisch was, du bisch mir mal noch dankbar, eines Tages.«
»Möglich«, gab André zurück, es klang nicht wirklich überzeugt.
»Das wär eh nicht gut gegangen, glaub mir. Die ist …«
»Ich will nicht darüber reden, Tobi, ja?«, unterbrach André.
»Ja, und die hat wirklich den Belagerern ihren nackigen Arsch gezeigt?«, schaltete sich der Ehinger ein, dem die schlechte Stimmung offensichtlich unangenehm war.
»Ja, hat sie. Und dann sind die Belagerer abgezogen und Crailsheim war gerettet«, erzählte André weiter und löffelte wieder Gulasch.
Tobi erhob sich und tätschelte die Schulter seines Eigentlich-Freundes. »Waasch was, wenn dii abgsponna hasch, noa trink mer nochher an Asbach-Cola zsamm«, raunte er ihm ins Ohr, bevor er zurück zu seiner überaus heißen Ehefrau Ezgi ging.
»Jetzt habe ich aber wirklich Hunger«, erklärte Heiko und blickte Lisa auffordernd an.
Die verdrehte die Augen und sah auf die Uhr. »Noch nicht mal sechs!«, klagte sie.
»Das Gulasch ist soooooo gut!« Heiko grinste derart entwaffnend, dass Lisa ihm ein Lächeln schenkte und mit ihm seufzend zu jenem Stand ging, der schlicht »Gulasch« hieß.
Ein Pärchen stand vor ihnen, die Frau, die rotblonde Locken hatte und ein orangefarbenes Crinkle-Kleid trug, wandte sich gerade an ihren Mann, einen schütterhaarigen Endfünfziger im Karohemd.
»Also, Karl-Heinz, mir ist das Ganze hier eigentlich viel zu martialisch, du weißt doch, dass ich Pazifistin bin!«
Karl-Heinz lächelte sie leutselig an. »Margit! Das ist nur die Bürgerwache! Entspann dich! Kein Grund für linkspolitische oder radikale Diskussionen!«
»Nur weil ich Pazifistin bin, muss ich noch lange nicht linksradikal sein! Du weißt, dass ich nicht linksradikal bin, jede Form von Gewalt ist mir zuwider! Ich löse meine Probleme verbal, durch Diskussion.«
»Entschuldigung«, mischte sich Heiko ein, »des glaab ii glei. Aber vielleicht däda Sie etz bstella? Mir warta nämlich.«
Die Angesprochene drehte sich überrascht zu ihm um, beschloss dann jedoch anscheinend, ihn mit Missachtung zu strafen, und wandte sich endlich den beiden Herren zu, die für die Gulaschausgabe zuständig waren. »Also, dann bitte zweimal Gulasch …«, begann sie, erstarrte aber mitten im Satz und rief: »Halt!«
Die beiden jungen Männer hinter dem Stand, die sich schon in Bewegung gesetzt hatten – der eine hielt bereits einen Teller in der Hand, der andere ein Brötchen –, erstarrten, irritiert ob des scharfen Befehlstons.
»Sagen Sie mal, ist das Ihr Ernst?«, fragte Margit und pikte mit spitzem Zeigefinger auf das Schild, das »Gulasch aus der Gulasch-Kanone« anpries. »Wieso muss das denn immer was mit Krieg zu tun haben?«, wandte sie sich an den jüngeren der beiden Männer, den mit dem tiefen Teller, und stemmte die Hände in die Seiten.
»Das heißt halt so«, stammelte der.
»Nennen Sie das Gericht doch Gulasch-Töpfchen«, schlug Margit honigsüß vor. »Was ist daran so schwierig?«
Karl-Heinz verdrehte die Augen, murmelte etwas von Bier holen und ließ seine Frau stehen, was die allerdings gar nicht bemerkte, weil sie dermaßen in Fahrt war.
»Des is ja woll kaum a ›Töpfchen‹, guadi Fraa«, wandte der mit dem Brötchen ein und wies auf den Kochtopf, der sicherlich 30 Liter fasste.
»Wir könnten auch ›Feldküche‹ dazu sagen!«, schaltete sich der Jüngere ein, der den Teller inzwischen wieder abgestellt hatte.
Margit schnappte nach Luft. »Wie bitte? Feldküche? Ist das Ihr Ernst, junger Mann? Wollen Sie wirklich in den Krieg ziehen? Wissen Sie, wie das damals war, als Napoleon, der Erfinder der Feldküche, Europa verwüstet hat? War Ihr Uropa nicht auch im Krieg? Schämen Sie sich!«
»Wella Sie jetz a Gulasch odder net?«, traute sich endlich der Ältere nachzufragen.
Die Dame straffte sich, strich sich die rotblonden Locken aus dem Gesicht und rauschte mit einem »Mir ist der Appetit vergangen. Ich kaufe mir eine Wurst!« davon.
»Sie awwer«, wandte sich der Mann an Heiko, absolut unberührt.
»Zweimal, mit Weckle«, bestellte Heiko, und er sah sehr glücklich aus dabei.
Christian Blumenstock betrachtete den weißen Federhelm, der neben ihm auf der Bank ruhte. Er hatte ihn seit diesem Jahr. Schneeweiß waren die Federn, reinweiß, blütenweiß. Bewundernd ließ er seine Finger durch den Busch gleiten, zart, um sie nur ja nicht zu zerzausen. Normalerweise hätte er einen roten Federbusch getragen, aber jetzt war er Oberst, Oberst der Bürgerwache, ein Ehrentitel. Er freute sich darüber, trug die Epauletten mit den goldenen Fransen mit Stolz. Er fuhr sich durch das schüttere Haar, das das magere Gesicht krönte. Es war nicht leicht gewesen, den Rang verliehen zu bekommen, und der Tobi war ein scharfer Konkurrent gewesen, der es durchaus auch mit unlauteren Mitteln versucht hatte. Aber Christian Blumenstocks Ruf war untadelig, würde es immer sein. Und so waren die fiesen Attacken des Musik-Gefreiten an ihm abgeperlt wie Wasser von einem Waschbecken mit Lotuseffekt. Nichts war kleben geblieben, und das war gut so. Allerdings wusste er nicht, ob es bei der nächsten Wahl auch so sein würde. Er würde sich bis dahin beweisen müssen, als Offizier. Und keinesfalls würde er weitere ungerechte Attacken dulden.
Später am Abend standen Tobi und Ezgi am Weinstand. Ezgi trank zwar selbst keinen Alkohol, hatte aber kein Problem damit, wenn sich Tobi mal einen genehmigte. Und er besoff sich selten bis zur Besinnungslosigkeit, da gab es andere.
»Der Tobi!«, erklang es plötzlich von rechts, und Ezgi sah Lars auf ihren Freund zuwanken. Der war eindeutig einer von denen, die nie wussten, wann es genug war. Er hatte seine Jacke ausgezogen und den Helm abgelegt, in der Hand hielt er ein Longdrinkglas, das verdächtig nach Jacky-Cola aussah.
»Hey, Lars!«, grüßte Tobias zurück und prostete ihm mit seiner Weißherbstschorle zu.
Lars lehnte sich theatralisch nach hinten. »Auf dich, mein Freund!«, prostete er, leerte das Glas in einem Zug, stellte es auf der Theke ab und ließ sich dann beinah unkontrolliert nach vorne fallen, wohl in der Absicht, Tobias Baumann zu umarmen. »Weißt du, ich habe dir längst verziehen, die Sache von damals, hat ja noch alles geklappt«, lallte er.
Ezgi trat einen Schritt zurück und vergewisserte sich mit einem Blick, dass ihr Freund klarkam.
»Scho recht, bisch mei Kumbel«, versicherte Tobi und tätschelte Lars die Wange.
»Des wor scho scheiße von dir, weisch, aber ich hab’s dir verziehen!«, versicherte Lars.
»Was meint er denn?«, wollte Ezgi wissen.
Tobi winkte ab. »Ach. Alte Geschichte. Vergiss es.«
»Willsch a Kippe?«, bot Lars an und nestelte in seiner Hosentasche herum. Es waren die guten, selbst gedrehten, ganz speziellen, das wusste Tobi.
»Heut net, Lars. Und du lässt das besser auch.«
»Jaja, net, dass mir des noch amol bassiert, gell!«, grinste Lars und hob gespielt mahnend den Zeigefinger. Er steckte die Zigarette wieder ein und wankte davon.
»Was war denn da los?«, erkundigte sich Ezgi noch einmal.
»Wie meinsch?«, fragte Tobi zurück.
»Was hat er denn gemeint?«, insistierte sie. »Komm, sag!«
Aber Tobias winkte in einer Art ab, die klarmachte, dass er nicht darüber reden würde.
Und Ezgi kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das unumstößlich war.
Parkfestsonntag
André Hellmer stand vor dem Spiegel. Er hatte sich extra einen lebensgroßen gekauft, damit er sich ganz betrachten konnte. So einen hatte er schon immer gehabt, auch vorher. Es gab vorher und nachher, ganz klar, das würde es immer geben. Seit einem halben Jahr war er jetzt ein ganzer Mann, auch körperlich. Es war eine harte Zeit gewesen.
Schon immer hatte Andrea, wie er früher geheißen hatte, gewusst, dass etwas mit »ihr« nicht gestimmt hatte. Dass »sie« anders gewesen war als die anderen Mädchen. »Sie« war nie eine von ihnen gewesen, gefühlt. »Sie« hatte sich schon immer besser mit den Jungs verstanden, sich »Cars« und »Transformers« statt Disneys »Eiskönigin« angeschaut. In der Pubertät hatte »sie« sich die Haare raspelkurz geschnitten und war in Schlabberpullis und weiten Hosen herumgelaufen. Schnell hatte »sie« in der Schule »ihren« Stand gehabt, und erstaunlicherweise hatten die meisten »sie« so akzeptiert, wie »sie« eben war. Der Tobi war ihr da immer eine große Hilfe gewesen, schon damals auf der Realschule, und er hatte denjenigen, die »sie« dumm angemacht hatten, Schläge angedroht oder ihnen wirklich mal die Fresse poliert. Denn dazu war »sie« tatsächlich selbst zu schwach gewesen – körperlich hatte »sie« nicht mithalten können mit den Jungs. Und deshalb war »sie« dem Tobi immer dankbar gewesen, nur einmal, neulich, da hatte er sich echt was geleistet, das ging gar nicht. Aber egal.
André war eher klein, mit nicht allzu breiten Schultern. Aber das würde sich jetzt ändern, er nahm fleißig seine Hormone. Nach und nach, seit seinem endgültigen Entschluss vor drei Jahren. Er hatte beobachtet, wie seine Stimme tiefer geworden war, wie ein Bart zu sprossen begonnen hatte, den er hegte und pflegte, bis er ein perfekt getrimmter Vollbart war. Die Brüste waren kleiner geworden, und dann hatte er die finalen Operationen machen lassen. Und er war froh darum, denn seither war er, was »sie« schon immer hatte sein wollen – ein Mann. Nicht mehr Andrea, sondern André. André drehte sich zur Seite und strich über die Uniform, die perfekt saß und wirklich, wirklich gut aussah. Männlich! Er setzte den Federhelm auf, die roten Federn wallten in einem fließenden Busch über sein dunkles Haar, bildeten einen hübschen Kontrast. Wieder drehte er sich frontal. Gut sah er aus, so konnte er gehen, so konnte er sich mit den anderen treffen, mit ihnen mithalten.
Simone Reißig war noch im Bett. Sie liebte es, sonntags ewig lang liegen zu bleiben. Tobi schlief immer bei ihr. Auf ihren Füßen, um genau zu sein. Und er schlief immer so lange, bis sie aufwachte und sich bewegte. Dann erhob er sich, streckte sich und wanderte die Bettdecke nach oben, um ihr Ohr abzulecken. Simone kicherte meistens ein bisschen und streichelte dem Kater, der eigentlich Felix hieß, über den Kopf. Das Tier schmiegte sich in ihre Hand, der Schädel passte genau in die Höhlung. Simone hatte Felix nach der Trennung umbenannt in »Tobi«, denn auf diese Weise konnte sie immer noch seinen Namen sagen.
Tobi sprang mit einem Satz vom Bett, um in der Küche etwas zu trinken. Etwas enttäuscht drehte sich Simone wieder um, angelte nach ihrem Handy und tat, was sie jeden Morgen tat: ihre letzte Nachricht erneut schicken und nachsehen, ob sie diesmal ankam. Denn die Nachrichten kamen nicht mehr an, seitdem er sie blockiert hatte. Das machte sie wütend, ein bisschen. Ach was, unglaublich wütend. Was fiel dem ein! Er hatte sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hatte, das war nur fair. Er hatte ihr jedes Gespräch verweigert. Das war nicht in Ordnung. Es fraß sie auf. Sie konnte nichts anderes mehr denken als … ach. Sie wechselte zu Clix-Mix und scrollte die Belanglosigkeiten durch, die ihre »Freunde« gepostet hatten. Schönen Sonntag, dazu ein Bild von einem knuffigen, debil treudoof dreinblickenden Bärchen mit Herzchen. Habe soeben einen Kuchen gebacken, lautete ein Post, der 67 Likes bekommen hatte. Bin total glücklich mit meinem … – schnell scrollte sie weiter. Like, wenn du mich magst, bat eine Freundin, und sie scrollte weiter, ohne zu liken. Lecker Low-Carb-Frühstück, warb ein Kerl, den sie seit Neuestem auf der Freundesliste hatte, den sie aber im Verdacht hatte, dass er ihr nur irgendwelche Abnehmpülverchen andrehen wollte. Nächster Post: Klicke auf deine Geburtsnuss, und wir verraten dir, was für ein Liebestyp du bist. Simones Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen. Aha, die Geburtsnuss! Das wurde ja immer abstruser. Sie betrachtete das Bild: Es gab die Haselnuss, die Macadamianuss, die Erdnuss, die Pekannuss, die Cashewnuss, die Walnuss, die Edelkastanie, die Hanfnuss, die Steinnuss, die Wassernuss, die Eichel und die Buchecker. Als im März Geborene war sie die Erdnuss, die sie nicht einmal mochte, war ja klar. Simone klickte trotzdem auf die Erdnuss. Loggte sich wie gewohnt auf der Seite ein, und es war ihr egal, dass dabei womöglich dubiose Marktforscher all ihre Daten abzogen. Simone, du bist ein liebevoller und gütiger Mensch. Allerdings kann es vorkommen, dass du deinen Partner mit deiner Liebe erdrückst. Die Menschen kommen nicht mit der Gewalt deiner Liebe klar. Lerne deshalb, loszulassen, wenn dich jemand zurückstößt. Es wird bald jemand kommen, der deine Liebe will und auch verdient. Simone schluckte. Verdient! Und will! Sie warf das Handy mit einer schnellen Bewegung in das Wasserglas, das auf ihrem Nachttischchen stand. Es machte eigentlich nichts aus, denn das Gerät war wasserdicht. Und trotzdem verschaffte es ihr Genugtuung. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf, um Tobi zu füttern.
Die Johanneskirche war eines der ältesten Gebäude Crailsheims. Das große, für eine mehrheitlich gotische Kirche sehr schwer wirkende Bauwerk stand wirklich mitten in der Stadt und war nachgerade unspektakulär in ein Grundstück der Fußgängerzone eingebettet. Vielmehr musste man eigentlich sagen, dass die Fußgängerzone um die Kirche herumgebaut worden war, denn der erste Bauabschnitt des Gotteshauses war bereits 1398 begonnen worden. Stand man vor der Kirche, so empfand man sie als würdiges, mächtiges Gebäude. Durch schwere Holztüren waren an diesem Sonntag die Gläubigen hereingeströmt, deutlich mehr als sonst. Denn es handelte sich am Parkfestsonntag nicht nur um die übliche Gemeinde, sondern auch noch um die Mitglieder der Bürgerwache und ihre Familien, zudem um die Mitglieder der jeweiligen Abordnungen befreundeter Bürgerwehren. All diese Menschen füllten die hölzernen Bänke der drei Kirchenschiffe, sodass eine durchaus beachtliche Gemeinde zusammenkam. Neben dem Altar hatten sich die Fahnenträger aller Bürgerwachen aufgestellt. Der Fahnenträger wurde jeweils von zwei Fahnenbegleitern und teilweise von einem Kommandanten flankiert.
Pfarrer Langsam, ein großer, hagerer Mann mit grauer Stoppelfrisur und Brille, stand in seinem Talar auf der Kanzel und hatte zunächst die Abordnungen der Bürgergarde Esslingen, der Haller Sieder, der Bürgerwache Ehingen, der Bürgerwehr Schwabach, der Bürgerwehr Lauchheim, des Historischen Schützencorps Bad Mergentheim, der Bürgergarde Ellwangen und der Bürgergarde Hüttlingen begrüßt. Proppenvoll war der Altarraum, was für die meisten Gläubigen ungewohnt war. Dann hatte Pfarrer Langsam eine Bibelstelle verlesen. »Johannes der Täufer hörte im Gefängnis vom Wirken des Messias und schickte einige seiner Jünger zu ihm. Er ließ ihn fragen: ›Bist du wirklich der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?‹«, zitierte er gerade noch einmal. »Liebe Gemeinde«, machte er weiter, und seine Stimme hallte von der hohen Kirchendecke wider. »Lasst Jesus sein, wie er sein möchte! Er ist ein lieber, ein gütiger Jesus, der die Menschen liebt! Er ist womöglich moderner, als wir denken. Er lässt sich nicht in spießige Muster pressen. Er war ein Vorreiter, ein Pionier! Jesus …«
»Es reicht!«, kam eine Stimme aus der Gemeinde.
Der Pfarrer suchte irritiert nach dem Störenfried, sein Blick schweifte unsicher umher, streifte den einen oder anderen. Dann beschloss er offensichtlich, einfach weiterzupredigen.
»Jesus ist …«
»Jesus!«, rief es wieder aus der Gemeinde, und diesmal sprang der Rufer auf.
Alle Augen wandten sich ihm zu, es war ein kleiner, schmächtiger Mann mit dunklem, strähnigem Haupthaar. Einige verdrehten die Augen, denn den Zwischenrufer kannte man schon.
»Paul. Bitte!«, tadelte der Pfarrer mit mildem Lächeln.
»Hogg dii nou und halt dei Gosch«, befahl der Banknachbar des Angesprochenen und fasste ihn am Arm.
Paul machte sich brüsk los und trat aus der Bank heraus. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, proklamierte er.
Pfarrer Langsam verdrehte nur innerlich die Augen, noch hatte er sich gut im Griff. Auch Paul war eines seiner Schäfchen, auch der.
»Jesus hätte euch Kriegsgeschmeiß aus dem Tempel geworfen! So, wie er die Händler rausgeworfen hat. Denn mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht!«
»Hier wird keiner ermordet, mein lieber Paul«, berichtigte der Pfarrer von der Kanzel herab, »und jetzt setz dich bitte wieder.«
Paul dachte kurz nach, schüttelte dann trotzig den Kopf und marschierte nach vorne, wo er Anstalten machte, die Fahnen und Standarten der Abordnungen umzurangeln. Er visierte den Schellenbaumträger der Bürgerwache an, der während des ganzen Gottesdienstes schon unbeweglich hinter seinem riesenhaften Instrument stand, die weiß behandschuhten Hände auf den silbernen Metallhörnern abgelegt.
Tobias Baumann fixierte den Angriffslustigen, überlegte wohl gerade, wie ihm beizukommen sei, und die Mitglieder der entsprechenden Bürgerwehren tauschten unsichere Blicke, denn man konnte ja in der Kirche kaum eine handfeste Schlägerei anfangen.
»Paul!«, gellte es in diesem Moment von der Kanzel. »Bitte benimm dich. Wir sind alle Brüder im Geiste!« Pfarrer Langsam eilte die Stufen der Kanzel hinunter, lief zu dem Übereifrigen und baute sich zwischen ihm und den Standarten auf. »Setz dich wieder hin, Bruder. Bitte! Störe den heiligen Gottesdienst nicht.«
Paul schluckte, die Autorität des Pfarrers schien zu wirken, zumindest im ersten Moment. Nach einer Schrecksekunde jedoch breitete er die Arme aus, als wären es Engelsflügel, und mit in Richtung der Fahnen ausgestreckten Zeigefingern rief er: »Eine Mördergrube! Habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis!« Er drehte sich um, schritt durch die Reihen und verließ hocherhobenen Hauptes das Gotteshaus, begleitet vom zischenden Gemurmel der Gemeinde.
Und Pfarrer Langsam erklomm wieder die Kanzel und ließ in die Predigt einfließen, dass der gute Bruder Paul das noch lernen müsse, dass die Dinge manchmal anders lägen, als er geglaubt habe, und dass auch Jesus manchmal eben ein anderer sei. Aber er fügte noch hinzu, dass der Paul in vielen Dingen auch ein Vorbild sei. »Und nun, lasset uns beten«, schloss er seine Predigt, und Christian Blumenstock ließ ein zackiges »Helm ab zum Gebet!« durch den Kirchenraum schallen, dem alle Mitglieder der anwesenden Bürgerwehren augenblicklich Folge leisteten.
Helles Sonnenlicht fiel durch die Wipfel der Bäume und malte gelbgrüne Flecken auf die Wiese des Spitalparks. Die Luft hatte noch Spuren jener morgendlichen Restkühle, die verhießen, dass es ein schöner, klarer Sommertag werden würde.
»Ein ganz tolles Kleid hast du da an, Lisa!«, lobte Doris, Heikos Mutter.
Lisa lächelte und bedankte sich.
»Gell, Werner?«, fuhr Doris fort und versetzte ihrem Mann einen kleinen Klaps auf den Oberarm.
Heikos Vater brummte. »Ja, gut!«, meinte er dann, was wohl höchstes Lob oder auch Gleichgültigkeit beziehungsweise irgendwas dazwischen ausdrücken sollte.
»Heiko, du kannst wirklich froh sein, dass du so eine hübsche Freundin hast! Sicherlich sind ganz viele andere Kerle hinter ihr her, pass bloß auf, dass die dir nicht ausgespannt wird!«, frotzelte Doris, und Heiko sparte sich eine Antwort. Seine Mutter lag ihm beständig in den Ohren, dass er der Lisa endlich einen Antrag machen sollte. Dabei war er erstens noch nicht einmal vierzig. Zweitens war Heiraten grundsätzlich ungut. Und drittens brauchte man doch keinen Trauschein, um glücklich zu sein. Aber Lisa sah heute schon besonders gut aus, das musste Heiko zugeben. Sie trug ein Kleid, das obenrum eng war und unten weiter. Rot mit weißen Punkten. Ihre Haare waren offen, und sie hatte einen roten Lippenstift aufgetragen.
»Du weißt, dass ich in diesem Leben noch Enkel will!«, maulte Doris und wurde damit konkreter.
»Ruhe jetzt!«, befahl Werner, »Nicht schon wieder dieses Thema!«
Er und Heiko grinsten sich verschwörerisch zu, und Lisa tat, als hätte sie nichts gehört.
»So, jetzt holen wir uns erst mal ein Bier«, beschloss Heiko.
»Für mich eine Apfelschorle, bitte«, bestellte Lisa, und Doris schloss sich ihr an.
»So frühmorgens muss man sich nicht besaufen«, tadelte sie.
Heiko grinste entwaffnend. »Ach. Ist ja nicht andauernd. Nur am Parkfest.«
»Wie süß«, fand Doris und wies auf die Bühne, wo kleine Mädchen in rosafarbenen Tutus elegant auf Zehenspitzen Ballett tanzten. »Da, so eine hätte ich auch gern, eine Enkelin, oder einen Jungen, mir egal«, fuhr Doris fort.
»Bisch etz ruich«, zischte Werner.
Lisa folgte Doris’ Blick zur Bühne. Soeben verbeugten sich die kleinen Tänzerinnen elegant und senkten dabei ihre Köpfchen, auf denen große und kleinere Dutts wie Kronen saßen.
»Wirklich niedlich«, pflichtete sie bei und schenkte Doris ein undeutbares Lächeln.
Svetlana Blumenstock stand in der Schlange vor dem Eisstand und entdeckte Ezgi hinter sich, die Frau von Tobi Baumann.
»Na, auch Lust auf ein Eis?«, begann sie im Small-Talk-Modus und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden Haares aus dem Gesicht. Ezgi sah gut aus in ihrer Uniform. Die Frau des Kommandanten musterte die junge Türkin, die eine der wenigen Frauen in der Kompanie war. Das dunkle, perfekt glatte Haar. Das hübsche Gesicht mit den braunen Augen und den vollen Lippen. Die schöne Figur, den ziemlich flachen Bauch. »Kein Wunder, bei dem Wetter«, fuhr sie fort.
Ezgi lächelte. »Ja, es ist verdammt heiß, ich tu nach dem Auftritt auch die Jacke runter.«
»Da bin ich froh, dass ich heute nicht so rumlaufen muss«, versetzte Svetlana.
»Für Sie?«, erklang eine Stimme vor ihr aus dem Wagen des »Bauernhofeises« von Familie Lang.
»Erdbeer und Vanille, bitte«, bestellte Svetlana mit einem strahlenden Lächeln. Darauf hatte sie wirklich, wirklich Lust, und das war wunderbar sommerlich.
»Hi, Tobi«, grüßte Barbara und schnalzte anerkennend mit der Zunge.
»Hey, Babsi!«, grinste Tobias und zwinkerte ihr schelmisch zu.
»Na, alles okay?«, fragte sie und ließ sich neben ihn auf die Bierbank fallen, sehr nahe, unnötig nahe, denn eigentlich war die Bank ansonsten leer. Das war nicht so schlimm, denn Ezgi war gerade ein Eis kaufen gegangen und würde davon nichts merken.
Babsi brachte ihre vollen Lippen an Tobis Ohr und wisperte: »Du siehst heute so scharf aus, ich steh total auf dich!«
Tobi schluckte, wobei sein Adamsapfel energisch hüpfte. »Sou«, machte er, das konnte ja Gott sei Dank alles bedeuten.
Babsi blickte sich verstohlen um und ließ dann ihre rechte Hand wie zufällig seinen Oberschenkel entlanggleiten. »Ich steh voll auf deine Uniform … Herr Wachtmeister«, fuhr sie grinsend fort und setzte gurrend hinzu: »Ich hätte so Bock drauf, jetzt mit dir im Musikkämmerle eine Nummer zu schieben.«
»Babsi!«, entfuhr es Tobias Baumann. Nun, die Idee war ja grundsätzlich gut, denn die Babsi mit ihrem frechen roten Bob, ihrer milchweißen Haut, ihren katzengrünen Augen und der perfekten Figur war definitiv eine Erscheinung. Aber da hätte wohl die Ezgi was dagegen, und er ja eigentlich auch, denn er liebte die Ezgi schon, und die Babsi war ja …
»Da bist du, Babsi! Ich hab dich gesucht!«, tönte es in diesem Augenblick von hinten.
Tobi Baumann brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, um wen es sich handelte – es war Max Steller, Babsis Freund. Unauffällig zog die Babsi ihre Hand zurück, und Tobi hoffte inständig, dass der Max das nicht gesehen hatte.
Ein Grinsen stahl sich auf ihre pinkfarben geschminkten Lippen, bevor sie sich umdrehte und flötete: »Max, mein Held!« Sie stand auf, schlang die Arme um seinen massigen, muskulösen Körper und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Tobi fasste sich salutierend an die Stirn, und Max erwiderte den Gruß, allerdings ohne ein Lächeln.
Bernd Seiler hielt sich an seinem Hefeweizen fest. Es war Crailsheimer Engel-Bräu, absolut widerlich und kein Vergleich zum Haller Löwenbräu. Immerhin war es Bier, technisch gesehen, und das hatte er heute bitter nötig. Denn er war ausgewählt worden für die Parkfest-Abordnung der Haller Sieder. Das konnte man sich bloß schönsaufen. Wenigstens war Timo mitgekommen, sein Kumpel, der gar nicht bei den Siedern war und jetzt bei der Siedersabordnung am Tisch saß. Aus Solidarität. Er musste jedoch in einer Stunde wieder gehen, Familientreffen in Hessental. Also total lieb von dem, eigentlich. Solidarisch. Und er wäre ihm wirklich dankbar gewesen, wenn es nicht seit einigen Wochen ein Problem zwischen ihnen gegeben hätte. Ein Problem, von dem der Timo womöglich gar nichts wusste, weil er so unsensibel wie ein Mammut war. Der Timo war nämlich seit Anfang Juli mit der Tina zusammen, und die saß jetzt auch dabei. Bei den insgesamt drei Siedern, auf der Bierbank vor dieser seltsamen improvisierten Bühne, von wo aus gleich das ganztägig ablaufende und überaus nervtötende Uff-tata losgehen würde. Bernd nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Ärmel der Siederskleidung über den Mund, weil ihm Schaum an der Oberlippe kleben geblieben war.





