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Die Tina. Die Tina hatte so getan, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass er sie auch gut gefunden hatte, und sich für den Timo entschieden. Der hatte noch alle Haare und wirkte in allen Dingen deutlich dynamischer. Außerdem arbeitete er nicht bloß als kleiner Beamter bei der Stadt, sondern war aufstrebender Junior-Chef in einer Haller Firma. Der Timo kann nichts dafür, sagte Bernd sich, es ist unfair, wenn du einen Hass auf ihn hast. Immerhin sind sie mitgekommen aufs Parkfest. Und wir sind Freunde seit der Grundschule. Er würde sich damit abfinden müssen, dass die beiden zusammen waren. Tina und Timo, hörte sich doch super an, fast wie Tina und Tini. Würde sich ausnehmend gut machen auf Hochzeitseinladungen.
»Die Horaffen haben’s echt nicht drauf«, meinte Tina gerade, wohl, um ihn irgendwie aufzuheitern. Womöglich merkte sie doch, was Sache war, klar merkte sie das. Alle Frauen wussten, wer hinter ihnen her war, insgeheim. Und die meisten hielten sich ihre Verehrer warm, denn die waren gut fürs Ego. Eine Gemeinheit eigentlich. Aber die war auch nicht wirklich schuld, die Tina.
Bernd zwang sich zu einem Grinsen, nickte und trank noch einen Schluck.
In Bernds Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass irgendwie das dumme Geschwätz von dem Horaffen auf dem Kuchen- und Brunnenfest eine Rolle gespielt hatte. Dort saß der Gedanke, blieb da, ging nicht mehr weg. Niemals würde er vergessen, wie die Tina damals fein gelächelt hatte, so unmerklich irgendwie. Aber dennoch – das Lächeln war da gewesen. Sie hatte das alles ganz witzig gefunden. Zumindest unbewusst. Und vielleicht darüber nachgedacht und das dann vielleicht genauso gesehen. Dass er ein bedauernswerter, dicklicher Kerl war, der noch bei seiner Mutter wohnte und es im Bett nicht draufhatte.
Längst hatte er ihn entdeckt in der Menge. Er trug Uniform, und an seinem Arm hing gerade eine hübsche uniformierte Schwarzhaarige, die der Tina gar nicht so unähnlich war, rein von der Optik her. Bernd Seiler hob das Bierglas und trank die Hälfte, die noch übrig war, in einem Zug aus. Der Baumanns Tobi hatte sich den Falschen zum Verarschen ausgesucht. Der würde das noch bereuen.
Ezgi blickte sich suchend um, ihre Eiswaffel in der Hand. Der Tobi hatte sich schon mal hinsetzen wollen, um einen Platz für sie beide zu suchen. Wo war er denn jetzt? Ach, dahinten, da saß er, in der Nähe des »Weinstandes«, landläufig als »Bar« bezeichnet, an dem außer Wein Spirituosen aller Art ausgeschenkt wurden. Sie rückte ihre Uniformjacke zurecht, es war unglaublich heiß. Sobald es ginge, würde sie das Teil ausziehen. Den Helm mit den grün gefärbten Gänsefedern hatte sie bereits abgenommen und trug ihn lässig unter dem linken Arm, in der Rechten hielt sie ihre Eiswaffel. Sie steuerte auf ihren Tobi zu, bei dem Freddy mit seiner Freundin Kathrin Platz genommen hatte – soweit Ezgi wusste, waren die beiden noch nicht allzu lange zusammen. Ezgi musste sich zu einem Grinsen zwingen, Kathrin war eine blöde, überkandidelte Tussi. Aber was soll’s, für Small Talk würde es ausreichen. Sie ließ sich auf der Bank nieder, küsste ihren Tobias flüchtig und lächelte den beiden anderen so freundlich wie möglich zu.
»Traumhaftes Wetter, nicht?«, begann sie und leckte an ihrem Eis – Schokolade und Pfirsich.
»Ja, total«, freute sich die goldblonde, blauäugige Kathrin und wunderte sich augenblicklich: »Ach, du bist in der Kompanie?«
Ezgis Lächeln verkrampfte. »Ja. Warum nicht?«
Kathrin druckste herum, bevor sie hervorbrachte: »Dürfen Frauen das auch?«
Fred lachte dröhnend und ließ eine seiner Pranken auf Ezgis linke Schulter niedersausen. »Die Ezgi war eines unserer ersten Flintenweiber. Und eine Trefferquote hat die, das sag ich dir, besser als jeder Kerl!«
Ezgi schnalzte mit der Zunge und sandte Fred einen tadelnden, aber augenzwinkernden Blick, bevor sie Kathrin aufklärte: »Frauen dürfen auch zur Kompanie. Wieso denn auch nicht?«
»Und das macht dir Spaß, diese Ballerei? Und wie heißt du noch mal?«, fragte Kathrin zurück und nippte elegant an einem Glas Weißwein, das vor ihr stand und schon beinahe leer war.
Ezgi leckte Eis, bevor sie antwortete. »Ezgi. Das ist ein türkischer Name. Und weißt du was? Klar macht mir das Spaß, wir Dschihadisten bringen gern Leute um die Ecke, das weißt du doch!«
»So hab ich das doch gar nicht …«, begann Kathrin.
Ezgi besann sich. »Entschuldige. Ich bin da ein bisschen ein gebranntes Kind, das musst du verstehen. Und ziemlich empfindlich. Crailsheim ist meine Heimatstadt, und ich finde es wichtig, die Traditionen zu erhalten. Und da ich leider total unmusikalisch bin und auch zu ungeschickt für die Majoretten, bin ich eben in die Kompanie eingetreten.«
Tobias Baumann erhob sich. Er spürte die Halbe. Verdammt, er wurde alt. Früher hätte er die locker weggesteckt. Er war vernünftig, eine, nicht mehr, und dazu ein Gulasch, das brachte ja auch was beim Nüchternbleiben. Eine war die Obergrenze, denn immerhin musste er noch den Schellenbaum tragen. In 20 Minuten war sein Zug dran, es war an der Zeit, sein Instrument zu holen. Ganz schön schwer war das Teil, aber er war ja kräftig.
»Bis nachher«, raunte er, drückte seiner Ezgi einen Kuss auf die Wange und nickte den anderen grüßend zu.
Dann kletterte er aus der Bank und wandte sich links von der Bühne am Bauernhofeisstand vorbei zu den Gebäuden der VHS. Hier, in einer kleinen Kammer, lagerte der Schellenbaum, wohlverschlossen. Tobias ging die paar Schritte zum Gebäude, steckte den Schlüssel ins Schloss und wunderte sich kurz, dass das Aufschließen nicht wie gewohnt funktionierte, irgendwas blockierte das Schloss. Schließlich wurde ihm klar, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war – komisch. Mit gerunzelter Stirn drückte er die Klinke herunter und tastete nach dem Lichtschalter. Ein elektrisches Summen ertönte, die Leuchtstoffröhren flackerten und das Licht ging an. Puh, gut, es sah nicht so aus, als würde etwas fehlen. Glück gehabt. Er würde nachher dem Kommandanten melden, dass nicht abgeschlossen gewesen war, so was war nachlässig und durfte sich nicht wiederholen. Dahinten an der Wand stand der zwei Meter hohe Schellenbaum, in einem kühlen Silberton leuchtete er im Licht der Glühlampen. Perfekt poliert war das Metall. Ein goldener Adler breitete schützend die Flügel über die gelb-schwarze Schellenbaumfahne mit der Aufschrift »Bürgerwache Crailsheim« und dem Wappen der Stadt aus. Vier goldene Adlerköpfe waren an den Enden der beiden metallenen Schwingen befestigt, an denen die Glöckchen und silbernen sechszackigen Sterne befestigt waren. In der Mitte prangte ein sonnenartiges Emblem, das von den Mitgliedern der Bürgerwache scherzhaft »Monstranz« genannt wurde. Und von den Schnäbeln der Adler hingen vier Rosshaarschweife in den Stadtfarben Gelb und Schwarz herunter. Tobias Baumann trat zu seinem Instrument. Er zog sich die Uniformjacke zurecht, entfernte ein Stäubchen auf seinem Revers und bewunderte kurz das Rosshaar. Sanft ließ er die feinen Haare durch seine Finger gleiten. Dann fasste er den Schellenbaum mit beiden Händen am Stab.
Im selben Moment durchfuhr Starkstrom seinen Körper. Der Schellenbaumträger war außerstande, den Schellenbaum loszulassen, auch wenn das der einzige, verzweifelte Gedanke war, der sein Hirn durchzuckte, immer und immer wieder, erfolglos. Seine Muskeln waren verkrampft, er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Stattdessen wurde sein Körper in unkontrollierten Zuckungen geschüttelt. Ihm war so heiß, so unglaublich heiß, er fürchtete, dass er kochte. Womöglich kochte er auch, sein Blut, sein Hirn siedete, ach was, konnte das sein? War das möglich? Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Sein Blick wurde trüb. Die Augäpfel traten hervor, geweitet, entsetzt. Ein letztes Mal setzte er all seine Willenskraft ein, um das verdammte Ding loszulassen, vergeblich. Es war das Letzte, was er in seinem Leben in Angriff nahm. Sein Kreislauf kapitulierte, und sein Herz hörte von einer Sekunde auf die andere auf zu schlagen. Noch kurz verharrte sein Körper in aufrechter Haltung, dann fiel er zusammen mit dem Schellenbaum, der ihn getötet hatte, wie ein Brett nach hinten um, und das Klingeln der Glöckchen wäre ohrenbetäubend gewesen, wenn draußen nicht gerade der Musikzug die Himmelfahrts-Polka gespielt hätte.
»Seid ihr komplett?«, fragte Christian in die Runde und ließ den Blick über den Spielmannszug schweifen. Gleich würde nach dem Kinder-Nachwuchsballett der Musikzug fertig gespielt haben, dann wäre der Spielmannszug dran.
»Der Schellenbaum fehlt«, stellte der Tambourmajor fest, und Christian starrte entgeistert auf das vordere Ende des Zuges. Natürlich! Wie hatte ihm das entgehen können!
»Wo ist denn der Tobi? Ich hab ihn doch vorhin gesehen?«
Allgemeines Achselzucken, dann meinte einer: »Der ist vorhin in Richtung Kämmerle gelaufen.«
Applaus brandete auf für den Musikzug.
»Wir sind jetzt dran!«, zischte irgendjemand, und Christian hörte erstarrt, wie Walter Lilienfelder, der in diesem Jahr noch einmal als Moderator fungierte, den Spielmannszug ankündigte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Truppe ohne den Schellenbaum auftreten zu lassen. Aber nein, das ging nicht. Das brächte alles durcheinander.
»Das geht nicht«, sagte er laut zu Philipp, dem Zugführer, der wie ein Mondkalb dastand und offenbar nicht vorhatte, irgendwie tätig zu werden. Christian Blumenstock setzte sich in Bewegung, in Richtung des VHS-Kämmerles. Köpfe drehten sich nach ihm um, kaum dass er die Kameraden passiert hatte. Gleichzeitig zeichnete sich Sorge auf dem hageren Gesicht ab. Dem Tobi würde doch nichts passiert sein?
»Vielleicht ist ihm schlecht geworden«, vermutete jemand, an dem er vorbeikam.
Ja. Vielleicht. Christian beschleunigte seinen Schritt. Das sah dem Tobi nicht ähnlich, so gar nicht! Der war nervig, intrigant, oft einfach nur doof und manchmal ein Hallodri, aber in solchen Dingen absolut zuverlässig. Auf der Bühne war es ruhig geworden, das Publikum, das oft sowieso nur mit halbem Ohr zuhörte, würde noch für kurze Zeit mit sich selbst und seinen Gesprächen zufrieden sein.
»Der Spielmannszug!«, wiederholte Walter nun durch das Mikrofon, das war nicht so schlau, wäre er doch bloß ruhig.
Christian stand vor der Tür und fand sie halb offen stehend vor.
»Wenn der Spielmannszug jetzt aufmarschieren könnte … Hallo, Christian?«, beharrte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Christian schluckte und öffnete die Tür vollends. Das Licht war an. Und er sah im selben Moment, was los war. Er schlug die Hand vor den Mund und trat einen Schritt auf die stocksteif daliegende Leiche zu, die unter dem Schellenbaum begraben war. Er streckte die Hand aus, wurde aber von einem »Nicht anfassen!« von der Tür her zurückgehalten.
Er drehte sich um, es war Freddy. »Der hat sei Beetle nausgschort«, konstatierte der Kamerad trocken und nahm seine Kopfbedeckung ab.
»Hä?«, machte Christian vollkommen perplex.
»Der is hie«, übersetzte Freddy seine Metapher. »Doa kousch nix mehr macha. Ii hobb im Publikum an Bulla gseecha, ii holl en amol.«
Einige Minuten später standen Lisa und Heiko im Kämmerle der VHS, vor der Leiche von Tobias Baumann. Heiko zückte sein Handy und rief Uwe an, den Crailsheimer Spurensicherer. Der würde womöglich nur wenige Minuten bis zum Tatort brauchen, denn das Crailsheimer Polizeirevier war nur einen buchstäblichen Steinwurf weit entfernt. Hinter Heiko tauchte plötzlich Werner auf, sein Vater, und blickte mit verschränkten Armen interessiert auf die Leiche hinunter. Heiko war gottfroh, dass er nicht sein Smartphone zückte, um Bilder zu machen, wie er es bei so mancher Leiche im Familienkreis schon getan hatte, rein zur Dokumentation, wie er behauptete, als Erinnerungsfoto. In Wahrheit war er überzeugt davon, dass sein Vater Leichen irgendwie faszinierend fand, zumindest interessant.
»Vatter, etz musch du doa amole weg«, zischte Heiko, besann sich dann aber und bat: »Kousch du amol an Sanitäter holla?«
Denn dieser dürre Kerl, der das Opfer gefunden hatte, hatte wohl dringend einen nötig, so schockiert, wie der war. Er saß auf dem Boden, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Knie geschlungen.
»Tobi!«, gellte ein Schrei durch die Szene, und eine junge, schwarzhaarige Frau kam atemlos auf die Kammer zugerannt.
Lisa stellte sich ihr in den Weg. »Tun Sie sich das nicht an, Frau …«
»Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«, verlangte die Frau zu wissen. Ihre dunklen Augen waren panisch geweitet. »Was ist los, Chris, los, sag!«, forderte sie, als sie bemerkte, dass sie nicht weiterkommen würde.
»Bitte beruhigen Sie sich, Frau …«, begann Lisa.
»Wer sind Sie denn? Lassen Sie mich zu ihm, ich will …«
»Setzen Sie sich, bitte!«, beharrte Lisa und berührte die Frau mit sanfter Bestimmtheit am Arm. »Wie heißen Sie denn?«
Die Dame, die ebenfalls eine Bürgerwachen-Uniform trug, schien etwas ruhiger zu werden. »Gündogan, Ezgi. Ich bin seine Frau«, meinte sie tonlos und betrachtete Christian, der das mit dem Hinsetzen ja einfach gelöst hatte.
»Frau Gündogan«, wiederholte Lisa und schenkte der Frau ein Lächeln.
Heiko war bei solchen Sachen immer froh, wenn Lisa das übernahm, sie konnte so was viel besser als er. Erleichtert nahm er wahr, dass hinter der jungen Frau jetzt zwei Sanitäter erschienen, und Heiko bedeutete ihnen mit Blicken, sich um die beiden unter Schock Stehenden zu kümmern.
»Er ist tot, stimmt’s?«, begriff Ezgi, als sie den Mann in der Rotkreuz-Montur sah, und brach in unkontrolliertes Schluchzen aus.
Heiko entdeckte den Pfarrer, den sein Vater wohl ebenfalls informiert hatte und der sich in hellblau geblümtem Freizeithemd und beigefarbenen Cargoshorts ebenfalls aus dem Hintergrund heranschob. Er winkte ihm und deutete auf die Sanitäter, die würden ihm schon sagen, was jetzt am besten wäre.
»Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten, Herr …«, wandte sich Lisa dann an den jungen Mann, der die Leiche gefunden hatte. Der schien sie erst gar nicht wahrzunehmen, bis der Sanitäter ihn ansprach.
»Christian? Hast du die Frage gehört?«
»Beim Spielmannszug gibt es scheint’s Verzögerungen«, kam nun eine Stimme durch den Lautsprecher. »Deshalb spielt jetzt der Musikzug eine wunderschöne Polka – den ›Böhmischen Traum‹!«
Endlich hob der Mann seinen Blick, und Lisa schaute in bernsteinfarbene, irgendwie kluge Augen. »Blumenstock. Ich heiße Christian Blumenstock. Und ich denke, ja. Wenn Sie mich noch kurz …« Er brach ab, weil die ersten Takte des »Böhmischen Traums« erklangen.
Lisa nickte verständnisvoll, das passte sowieso gut, weil in diesem Moment Uwe anmarschierte, bereits im weißen Spurensicherer-Outfit.
»Hi, Uwe«, grüßte Heiko, und der Spurensicherer nickte ernst.
»Der sei zu Tode geschockt worden?«, begann er, und Heikos Blick wanderte zu Frau Gündogan und Herrn Blumenstock, die Gott sei Dank außer Hörweite waren.
»Sieht wie ein Stromunfall aus, beziehungsweise ein ›Strommord‹«, sinnierte Heiko und zündete sich eine Zigarette an.
Uwe schob sich an den Ermittlern vorbei und öffnete die Tür. »Ist die Sicherung jetzt draußen?«, fragte er misstrauisch.
»Fliegt die nicht automatisch raus bei so was?«, gab Heiko zurück.
»Scheint’s net«, konstatierte Uwe trocken und wies auf die Leiche. »Hollsch du amol da Fassiliti Mänädscher?«, bat er Heiko.
Der blinzelte und hakte nach. »Wen?«
»Da Hausmeischder!«
»Ach so, ja.«
Der »Böhmische Traum« hatte geendet, und der Moderator kündigte eine »weitere wunderschöne Polka, nämlich die Herbstabend-Polka« an, die deutlich dynamischer war.
»Soll ich denen Bescheid sagen, dass sie zu spielen aufhören?«, bot Lisa an.
Uwe schüttelte den Kopf. »Des is grad recht, wenn das Programm weitergeht. Auf die Weise kommen die neugierigen Leut nicht her.«
Fünf Minuten später war der Strom abgestellt, zumindest der auf den Steckdosen. Das Licht war noch an.
»Ihr bleibt draußen«, befahl Uwe und machte sich drinnen zu schaffen.
»Waasch du, warum der Spielmannszuach net spielt?«, fragte Gerda.
»Koa Ahnung«, erklärte Ernst.
»Rood amol!«
»Also waasch! Wie soll ii doa rooda! Waaß ii doch net!«
»Etz rood halt amol!«, beharrte Gerda und verschränkte die Arme vor ihrem voluminösen Busen.
»Nooh, ii rood net, des is mir z’ bleed!«
»Noa rädsch halt net!« Gerda wirkte beleidigt.
Ernst schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen.
»Etz sooch! Waasch du ebbes?«, verlangte er zu wissen.
Gerda blickte um sich, um sich dann so nah wie möglich zu ihrem Mann zu beugen und mit gesenkter, monotoner Stimme zu berichten: »Bei der Broodwurschd henn’s grood verzeilt, dass der Schellanboamdreecher gschdorwa sei.«
»Wie! Jetz? Grood?«
Gerda nickte bedeutungsvoll, wobei die Locken ihrer blondierten Dauerwelle unterstreichend mitschwangen. »Lichd doad im Kämmerle doa diwwa«, fuhr sie fort.
»Jetzt kommt eine weitere wunderschöne Polka, nämlich die Regenbogenbrücken-Polka!«, verkündete die Stimme aus dem Lautsprecher begeistert, und erneut setzte die Musik ein.
»Also, Gerda, hasch du eigentlich scho amol des Teichle gseecha an dr Volkshochschul? Des soll reechd schää sei«, meinte Ernst und grinste.
»Sou«, lautete die lakonische Antwort. »Haja, noa gugg mer des amole ou!«
Uwe tauchte zum Beginn der Regenbogenbrücken-Polka zum ersten Mal wieder auf.
»Also?«, fragte Heiko.
Uwe senkte die Lider und öffnete sie langsam wieder, bevor er den Kopf hob und antwortete: »Da hat jemand eine fiese Starkstromfalle gebaut.«
»Huch!«, lautete Heikos Kommentar. »Ja, wie geht des?«
Uwe machte die Tür weiter auf. »Aber nicht reingehen!«, mahnte er, dann zeigte er Lisa und Heiko die Kabel, die vom Mittelstab aus blank, aber zugleich unauffällig mit dem unteren Ende des Schellenbaums verbunden waren.
»Was mich immer wundert«, dachte Lisa laut nach, »wieso lassen die Leute nicht einfach los, wenn wo Strom drauf ist?«
»Weil es nicht geht«, antwortete Uwe. »Deine Muskeln verkrampfen, und du kannst dich nicht mehr bewegen.«
»Wie schrecklich«, fand Lisa.
»Ja, kein schöner Tod. Man wird dann entweder innerlich gebraten oder stirbt an Kreislaufkollaps. Bei dem da tippe ich auf Letzteres.«
»Oh Gott«, kommentierte Heiko. »Aber fliegt da normalerweise nicht die Sicherung raus?«
»Hier nicht passiert«, lautete Uwes Antwort. »Warum auch immer.« Der Spurensicherer seufzte schwer, als er ein älteres Pärchen entdeckte, das unendlich langsam am Kämmerle vorbeischlenderte und mit langen Hälsen durch die Tür schauen wollte.
»Sie, gehen Sie bitte weiter!«, forderte Heiko auf.
»Is ebbes bassiert?«, fragte der Mann und schob ungefragt nach: »Ii wollt meinera Fraa bloß gschwind den Teich zeicha.«
»Gehen Sie bitte einfach weiter, der Teich ist da drüben!«, wies Lisa ohne ein Lächeln an.
Heiko seufzte, als das Pärchen sie passiert hatte. »Noch zehn Minuten, dann weiß es der ganze Festplatz«, dachte er laut.
Jetzt näherte sich auch noch Walter Lilienfelder, der alte Kommandant und Moderator. »Ist das wahr, das mit dem Tobi?«, fragte er und wirkte ehrlich bestürzt.
Heiko nickte.
»Ja, dann kann man keine Musik mehr spielen«, fand der Ex-Kommandant, nahm betroffen den Helm ab und drehte ihn in den Händen.
»Tatsächlich wäre es uns nicht unrecht, wenn ihr weiterhin eine … wunderschöne Polka nach der anderen spielen würdet, denn das hält die Schaulustigen ab«, gab Heiko zu bedenken.
»Aber das geht doch nicht!«, fand Lilienfelder.
»Ich verstehe, dass Sie das pietätlos finden, wir ja eigentlich auch. Aber es ist wirklich vernünftig, denn ein Menschenauflauf wäre hier absolut kontraproduktiv«, erläuterte Lisa. »Außerdem wäre es gut, wenn wir die Kontaktdaten von allen Besuchern hätten!«
Die hellblauen Augen des Mannes drückten Hilflosigkeit aus. »Von allen?«, vergewisserte er sich. »Aber wie soll das …?«
Heiko zückte als Antwort sein Handy, rief auf dem Revier an und bat um einige Kollegen, die die Daten der Besucher abfragen sollten. Und die die Leute darum bitten sollten, der Polizei via E-Mail Bilder vom Parkfest zukommen zu lassen. Vielleicht gab es ja ein Bild, auf dem der Mörder in flagranti zu sehen war. Auch wenn ein solcher Treffer die Nadel im Heuhaufen wäre. »Wenn wir schon nicht alle erwischen, dann sicherlich doch die meisten«, murmelte er, als er das Gespräch beendete.
Die Ablenkungsstrategie funktionierte so lange, bis der Leichenwagen vorfuhr und zwei Träger einen Metallsarg zur Abendrot-Polka quer über das Gelände trugen. Spätestens dann wusste jeder Besucher, was los war, und anschließend reagierten die Leute auf drei verschiedene Arten. Als der Kommandant durchsagte, dass sie bitte alle an ihren Plätzen bleiben sollten, weil sie eventuell wichtige Zeugen seien, stand ungefähr ein Drittel auf und ging einfach. Es fiel im Trubel nicht auf, dass auch drei Sieder darunter waren. Der große Teil der Leute blieb sitzen, und einige schlenderten in Richtung der VHS davon, wurden aber von einem inzwischen gespannten Absperrband aufgehalten. Vor diesem blieben sie einfach stehen, als wären sie Lemminge aus dem Computerspiel und unfähig, sich selbst einen alternativen Weg zu suchen.
»Woora des die Linka?«, gellte es plötzlich aus der Menge.
Heiko suchte mit Blicken den Mann mit dem spärlichen Haupthaar.
Der zog die Augenbrauen hoch und wies mit spitzem Finger auf ein »ACAB«-Graffiti, das mit krakeligen, schnellen Strichen hingesprayt worden war.
»Ist das neu, das Graffiti?«, fragte Heiko den Hausmeister, Herrn Schneider, der immer noch in Tatortnähe herumstand.
Der bestätigte: »Seit gestern Nacht ist es da.«
»Aha«, machte Heiko und informierte Uwe, der immer noch im Kämmerle werkelte, dass er sich den Schriftzug mal genauer anschauen sollte. Auch wenn er bezweifelte, dass der Mörder für das Graffiti verantwortlich war.
Aus dem Hintergrund nahten die Kollegen von der Haller Spurensicherung heran, nickten allen am Tatort grüßend zu und verschwanden alsbald zu Uwe ins Kämmerle.
Heiko wandte sich reichlich genervt zur gaffenden Menge um. »Hat jemand von Ihnen was gesehen?«, verlangte er zu wissen. Eisiges Schweigen, Handys wurden gehoben, drei schienen zu filmen oder ein Foto von ihm zu schießen. Er sandte den betreffenden Herrschaften einen so warnenden Blick unter seinen dunklen Augenbrauen, dass die verschämt ihre Handys sinken ließen.
»Haben die Kollegen schon Ihre Daten?«, machte Heiko weiter.
Die Ränder der Menge lösten sich auf, Leute schlenderten beiläufig davon. Einige nickten. »Dann gehen Sie jetzt bitte. Es ist pietätlos, hier zu gaffen.«
Es dauerte trotzdem noch eine ganze Weile, bis sich die Umstehenden so weit zerstreut hatten, dass Lisa und Heiko mit dem Finder des Mordopfers reden konnten. Die Frau des Toten hatte eine Beruhigungsspritze erhalten, und der Sanitäter hatte den Kommissaren verboten, sie mit Fragen zu belästigen.
»Wo können wir uns denn hinsetzen?«, fragte Heiko den Hausmeister.
Der zückte einen Schlüssel und schloss ihnen einen Raum der Volkshochschule auf, der normalerweise für Unterricht aller Art genutzt wurde.
»Witzig, ich war hier schon zum Italienisch«, erzählte Christian und ließ seinen Blick schweifen.
Heiko wies auf einen der Tische und positionierte drei Stühle so, dass sie sich unterhalten konnten. Er schloss die Tür, und schlagartig waren alle Geräusche von draußen gedämpft. Es war sehr ruhig.
»Also, Herr Blumenstock. Sie haben den Herrn Baumann gefunden.«
»Ja, die sollten ja auftreten.«
»Sind Sie denn verantwortlich für den …?«, warf Lisa ein.
»Für die gesamte Bürgerwache. Ich bin der Kommandant. Den Spielmannszug führt der Philipp, aber der schwätzt net viel.«
»Aha«, machte Lisa und beschloss, dass es gerade nicht Sinn der Sache war, allzu komplexe Fragen zur Hierarchie innerhalb der Bürgerwache zu stellen.
»Weiter«, forderte Heiko auf, freundlich nickend.
Der Mann schluckte und fuhr fort: »Ja, also dann hab ich gemerkt, dass der Schellenbaum fehlt, also der Tobi halt.«






