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»Haben Sie das bemerkt oder jemand anderes?«, erkundigte sich Heiko.
Der Mann runzelte die Stirn, er dachte offenbar nach. »Eigentlich habe ich geschaut, wer fehlt, und mir wäre es gar nicht aufgefallen.«
»Ist der Schellenbaum nicht ganz vorne?«, zweifelte Heiko.
Der Offizier nickte eifrig. »Ja, aber das kennen Sie vielleicht, was direkt vor der Nase ist, ist manchmal so selbstverständlich, dass man es übersieht.«
Das leuchtete Heiko ein.
»Ich glaube, jemand hat es gesagt, dass der nicht da ist.«
»Wissen Sie noch, wer das war?«, fragte Lisa.
»Nein. Beim besten Willen nicht. Das war irgendjemand vom Zug. Genau, wie irgendjemand gemeint hat, er hätte ihn zum Kämmerle laufen sehen.«
»Vielleicht fällt Ihnen das ja später noch ein«, hoffte Heiko. »Und dann?«
»Na, der Walter hat uns schon angekündigt auf der Bühne, und ich bin schnell los, um nach ihm zu schauen.«
»Wieso sind Sie denn selbst gegangen und haben niemanden geschickt?«, hakte Heiko ein.
»Weil ich der Kommandant bin«, lautete die Antwort.
»Also. Dann sind Sie ins Kämmerle – da haben Sie demnach dem Mann, der das gesehen hat, geglaubt.«
»Es war naheliegend, dass er dort hin ist, er wollte ja den Schellenbaum holen.«
»Der Schellenbaum wird dort gelagert?«, vermutete Heiko.
»Genau. Ich hab die Tür aufgemacht, und …«
»Beschreiben Sie genau, was Sie gesehen haben«, mahnte Lisa nicht unfreundlich.
Christian Blumenstock schluckte, nickte ernst, schloss kurz die Augen, schien nachzudenken. »Das Licht war an. Und der Tobi lag auf dem Boden, der Länge nach hingestreckt. Unter dem Schellenbaum.«
»Wann war das genau?«
»Um halb eins, ungefähr. Ja, so vor einer halben Stunde.«
»Und dann?«
»Ich wollte hin, aber dann hat der Freddy geschrien, ich soll ihn nicht anfassen.«
Die Ermittler tauschten einen Blick.
»Der Freddy? Wo ist der denn hin?«
»Ich glaube, der hat sich wieder auf seinen Platz gesetzt.«
»Wie heißt der weiter?«
»Glock.«
»Aha. Und dem Rat sind Sie gefolgt.«
»Ja, weil zuerst will man ja so jemand anlangen, um zu schauen, ob man da noch was retten kann. Aber der war wohl schon tot.«
»Und der Freddy hat das mit einem Blick erfasst«, mutmaßte Heiko.
Christian hob die schmalen Schultern. »Keine Ahnung, da müsst ihr ihn selber fragen. Das ist jedenfalls der junge Mann, der euch geholt hat.«
»Ach der!«
»Ja.«
»Mal was anderes: Ist denn das Kämmerle abgeschlossen?«
Christian nickte. »Ja, auf jeden Fall. Da sind ja wertvolle Instrumente drin. Das heißt: eigentlich. Eigentlich schließen wir immer ab. Aber ihr wisst ja, wie so was ist. Sicher sagen kann ich jedenfalls, dass um kurz nach elf noch alles okay war, da hab ich den Raum kontrolliert. Ich hab sogar noch das Rosshaar vom Schellenbaum glatt gestrichen und mit dem Finger an ein Glöckchen geschnipst. Und dann auch wieder abgeschlossen, das weiß ich genau.«
»Und wer hat alles einen Schlüssel?«
»Der Kommandant. Die Offiziere. Und ein paar Musiker.«
»Wir bräuchten eine Liste von Leuten, die den Schlüssel haben«, erklärte Lisa.
»Kann ich euch zukommen lassen«, versprach Christian.
Walter Lilienfelder hielt es irgendwann nicht mehr aus, eine Polka nach der anderen spielen zu lassen. Wutschnaubend gebot er dem Dirigenten Einhalt und holte sich von den Polizisten das Okay ab, das Parkfest aufzulösen. Die hatten eingewilligt, aber bestimmt, dass die Mitglieder der Bürgerwache noch dableiben mussten. Das war durchaus sinnvoll. Zusätzlich hatte sich Lilienfelder noch etwas ausgedacht, und die Kommissare hatten es wider Erwarten sogar abgesegnet, solange der Tatort unangetastet bliebe. Deshalb leckte er sich jetzt über die von der Hitze ausgetrockneten Lippen, als er zum Mikrofon trat. Er ließ seinen Blick über die immer noch sehr große Menschenmenge schweifen, ach, es hätte ein so schönes Fest werden sollen. Dann ging er einen Schritt zurück, denn eine Rückkopplung kreischte auf, aber vielleicht war das gerade gut, denn auf diese Weise hatte er die Aufmerksamkeit auch all jener Besucher, die normalerweise das Bühnenprogramm als Hintergrundgeplänkel für ihre angeregte Unterhaltung wahrnahmen – eigentlich sowieso eine Schande, aber das war ja häufig so in Hohenlohe.
»Ich bitte um Aufmerksamkeit«, begann er und wartete stoisch ab, bis sich der Lärmpegel tatsächlich reduziert hatte. »Einer unserer guten Kameraden ist vorhin leider durch einen tragischen Unglücksfall aus dem Leben geschieden«, hörte er sich sagen, und seine Stimme klang seltsam fremd.
Hier und da zischte es im Publikum, das war längst rum, und das mit dem Unglück war allzu offensichtlich eine Lüge, bei dem Polizeiaufgebot.
»Deshalb beenden wir das Parkfest jetzt vorzeitig. Aber ihm zu Ehren schießt die Kompanie einen dreifachen Salut.«
Wieder ein Raunen, einzelne Proteste.
»Wann kommt die Tombola?«, rief jemand rechts der Bühne und wedelte mit einem Bündel Lose.
Niemand antwortete.
»Ich bitte Sie alle, sich dazu zu erheben«, forderte Lilienfelder auf, und der gesamte Platz leistete Folge.
Alsbald zerrissen drei ohrenbetäubende, fast gleichzeitig geratene Salutschüsse auf den »guten Kameraden Tobias Baumann« die unwirkliche Stille.
Als Nächstes schnappten sich Lisa und Heiko Freddy Glock, einen eher nervös wirkenden, mittelgroßen Kerl mit dunklem Haar.
»Wieso muss ich da jetzt aussagen?«, beschwerte er sich. »Ihr tut ja so, als wäre ich verdächtig!«
»Hätten wir denn einen Grund, Sie zu verdächtigen, Herr Glock?«, gab Heiko zurück und sah ihn aus ernsten dunklen Augen fragend an.
»Nein, auf keinen Fall.«
»Entspannen Sie sich, Herr Glock. Unsere Fragen sind reine Ermittlungsarbeit. Noch haben wir keinen Verdächtigen«, versicherte Lisa.
Der Mann lehnte sich in seinem Volkshochschulstuhl zurück, die Lehne knarzte leise.
»Also, Sie seien hinter dem Herrn Blumenstock aufgetaucht und hätten ihm abgeraten, die Leiche anzufassen«, begann Heiko.
»Klar, der war da gerade dabei«, bestätigte Glock.
»Na, da hat er aber Glück gehabt, oder? Beziehungsweise Sie haben mit einem Blick erfasst, dass das ein Stromunfall war?«, zweifelte Heiko.
Der Musiker hob die schmalen Schultern. »Der Tobi hat ganz komisch dagelegen, wie ein Brett. Ich hätte den nicht angefasst«, hielt er dagegen.
»Trotzdem, es wäre womöglich schon ein erster Impuls, demjenigen zu helfen, sprich, ihn anzufassen. Dass Sie die Situation so schnell erfasst haben … bemerkenswert!«, fand Lisa.
Der junge Mann verschränkte die Arme vor der Brust und verteidigte sich: »Ich bin Elektriker. Ich sehe so was sofort. Und überhaupt, was wollen Sie damit sagen, Frau Kommissarin?«
»Soso, Elektriker sind Sie«, sann Heiko und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Lisa.
»Ja genau. Und da bin ich nicht der Einzige. Wir haben Elektriker, Elektrotechniker, Mechatroniker, studierte Physiker, Gas-Wasser-Scheiße-Leute, alles!«
Heiko runzelte die Stirn, dachte kurz darüber nach. »Kannten Sie den Herrn Baumann denn gut?«, verlangte er zu wissen. »Und wie standen Sie zu ihm?«
»Brauche ich jetzt einen Anwalt, oder was?«, lautete die Gegenfrage.
»Von uns aus nicht«, relativierte Heiko. »Noch nicht. Wenn Sie kooperieren und unschuldig sind.«
Der Mann verdrehte die Augen, entknotete die Arme und ließ sie seitlich am Stuhl herunterhängen. »Der war mein Kamerad. Aber ansonsten war er mir ziemlich egal.«
»Sie konnten ihn nicht so leiden?«, vermutete Heiko. »Warum denn?«
»Schwachsinn«, zischte der Mann. »Dreht einem net so des Wort im Mund rum.«
»Na, na, Herr Glock, mäßigen Sie sich!«, mahnte Lisa und beugte sich verbindlich lächelnd über den Tisch. »Da Sie Ihre Gleichgültigkeit so betonen, hört es sich eben ein bisschen so an!«
»Wir waren nicht so warm miteinander, irgendwie. Kennt ihr das nicht, dass man jemanden nicht so leiden kann, aber nicht sagen kann, warum? Soll ich jetzt lügen und sagen, das war mein bester Kumpel, oder was?«
»Wo waren Sie denn vor dem Todesfall, Herr Glock?«
»Sie meinen, bevor wir kollektiv angetreten sind und eigentlich damit beschäftigt waren?«
Heiko nickte.
»Ich hatte Standdienst. Am Weinstand. Und bin dann noch ganz kurz mit meiner Freundin zusammengesessen.«
»Wir prüfen das nach«, versprach Lisa.
»Macht das. Und bei der Gelegenheit könnt ihr auch gleich noch die Anwesenheit von allen anderen genauestens überprüfen. Viel Spaß dabei!«
»Werden Sie mal nicht frech, Herr Glock!«, drohte Heiko.
Der Mann verdrehte wieder die Augen. »Ja, sorry. Aber das kann echt jeder gewesen sein. Und so, wie die Drähte ausgeschaut haben, reichen da ein, zwei Stunden vom Physik-Telekolleg, um so was zu bauen.«
Diese These bestätigte Uwe – leider –, als er irgendwann mal wieder aus der Kammer auftauchte.
»Das hätte fast jeder zusammenbauen können«, befand er.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um jemanden mit Kenntnissen im elektrischen Bereich handelt, ist doch höher, oder?«, fand Heiko.
»Das auf jeden Fall«, stimmte Uwe zu, während er sich über die rasierte Glatze strich, nachdem er sich das duschhaubenartige Teil vom Kopf gerissen hatte. »Auch weil er sich überhaupt für Strom als Mordinstrument entschieden hat.« Er schwitzte stark, die sterilen Overalls mussten in dieser Hitze furchtbar sein.
»Andererseits wäre derjenige ja auch blöd, wenn er Profi-Material verwendet hätte, wo womöglich noch der Firmenname draufsteht«, sinnierte Lisa.
»Auch wahr«, meinte Uwe und zerrte am Reißverschluss des Anzugs, um ihn endlich loszuwerden. »Jedenfalls haben wir alles eingetütet und nehmen es mit aufs Revier. Da schaue ich genauer nach Fingerabdrücken und verwertbaren Spuren.«
»Das wäre super, denn so, wie das aussieht, wird das die Suche nach der Nadel im Heuhaufen – bei all den Leuten, die hier rumgesprungen sind«, seufzte Heiko.
Für 15 Uhr hatten sie ein kurzes Treffen aller Bürgerwachen-Mitglieder im Unterrichtsraum der VHS veranschlagt. Es war unglaublich laut, denn insgesamt handelte es sich um fast 100 Leute. Alle hatten inzwischen ihre Uniformjacken abgelegt und trugen Shirts oder kurzärmelige Hemden beziehungsweise Blusen. Es herrschte ein Lärmpegel, wie nur 100 Hohenloher ihn fabrizieren konnten. Einige schluchzten und waren schockiert, aber viele wirkten doch einigermaßen ungerührt.
Heiko räusperte sich mehrfach, bat dann um »Ruhe!«, was jedoch erst wirkte, als er im dritten Anlauf richtiggehend brüllte. »Ruhe bitte!«, setzte er nach und fixierte einzelne Kandidaten, die immer noch mit dem Nachbarn tuschelten.
»Wie Sie alle wissen, wurde vorhin Ihr Kamerad Tobias Baumann tot aufgefunden«, begann Lisa.
»Wurde der ermordet? Oder hatte der einen Herzinfarkt?«, kam aus einer Ecke.
Heiko suchte nach dem Fragesteller und entdeckte einen stattlichen Hünen, der sich jetzt, da er gesehen worden war, verhuscht duckte.
»Momentan müssen wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Aber die Untersuchungen dazu laufen noch«, informierte Lisa.
Allgemeines Murmeln. Satzfetzen wie »Denn henn’s umbroochd« und »Des wor klar a Mord« drangen an ihr Ohr.
»Für uns wäre jetzt interessant, ob jemand von Ihnen verdächtige Beobachtungen in der Nähe derjenigen Kammer gemacht hat, in der der Schellenbaum aufbewahrt wird.«
»Is der mim Schellaboam drschloocha worra?«, fragte ein blonder jüngerer Mann.
»Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu Einzelheiten nicht äußern können«, bat Lisa lächelnd, aber bestimmt.
Wieder allgemeines Murmeln.
»Jedenfalls bitten wir Sie nachzudenken, ob Sie relevante Beobachtungen gemacht haben. Ob Ihnen jemand aufgefallen ist, der da nicht hingehört hat?«, fuhr Lisa fort. »Oder jemand, der sich komisch benommen oder ungebührlich lange in dem Raum aufgehalten hat?«
So laut und beständig das Gemurmel vorher gewesen war, so totenstill war die Menge jetzt.
Heiko seufzte. Das hatte er befürchtet. »Bitte melden Sie sich auf dem Revier, wenn Ihnen etwas einfällt!«, beendete er die Runde und entließ die Leute.
Walter Lilienfelder saß vor der Bühne und ließ seinen Blick über die leeren Bankreihen schweifen. Er sah auf die Uhr, es war vier – normalerweise wäre jetzt die Verlosung mit der Heißluftballonfahrt als erstem Preis. Normalerweise läge jetzt eine gespannte Stille über dem Platz, die Leute würden ihre Lose parat halten, und es wäre leiser als sonst, weil keiner die gezogene Nummer verpassen wollte. Um 18 Uhr würde der Heißluftballon dann starten, mit dem glücklichen Gewinner und einer weiteren Person seiner Wahl an Bord, und auch er wäre in diesem Jahr Ehrengast gewesen, als ehemaliger Kommandant der Bürgerwache. Er hatte sich schon darauf gefreut, Hohenlohe von oben zu sehen, sein Crailsheim vor allem, die Türme, das silbern glitzernde Band der Jagst. Verdammt, das hätte anders laufen müssen, das war so nicht geplant gewesen. Jetzt stand der Ballon immer noch verpackt in einem Anhänger neben dem Festplatz. Tragisch! Er schlug die Hände vors Gesicht und schloss die Augen, presste die Fäuste in die Höhlen, bis es rot und grün flimmerte. Es sollte ein Fest werden, ein schönes, und kein Todestag eines Kameraden! Und wenn schon einer sterben musste, dann doch nicht während des Fests, sondern wenigstens am Ende. So war ja der ganze Tag versaut! Er hatte das Fest nicht so genießen können, wie er es vorgehabt hatte. Nächstes Jahr wäre der Christian schon etablierter, er als ehemaliger Kommandant wäre in Vergessenheit geraten. Er erhob sich und blickte noch einmal seufzend zur Bühne, bevor er missmutig in Richtung Tiefgarage davonstapfte.
Lisa und Heiko hatten sich auf Anraten der Sanitäter dagegen entschieden, an diesem Abend noch beim Mordopfer zu Hause aufzuschlagen. Ezgi Gündogan sei zu verstört, als dass sie hätte vernommen werden können. Und auch so hatten sie das Gefühl, sie müssten das Ganze erst einmal sacken lassen. Wenn sie Glück hatten, würde sich am nächsten Morgen irgendjemand auf dem Revier melden, der im Idealfall den Mörder bei der Vorbereitung seiner Tat beobachtet hatte. Sie hatten den Kommandanten Christian Blumenstock noch gebeten, eine Liste aller Mitglieder der Bürgerwache zu erstellen, nach Möglichkeit mit Berufen, dazu alle zu markieren, die ihm einfielen, die besondere Kenntnisse in Elektrik hatten, und alle mit Zugang zu dem Lagerraum für die Instrumente. Blumenstock hatte versprochen, sich bis zum nächsten Tag zu kümmern und alles per E-Mail zu schicken.
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