- -
- 100%
- +
Wechselspiel von Gleichheit und Verschiedenheit
Vergleiche setzen ihrerseits Gleichheit voraus. Heterogenität und Differenzen sind nur zu bestimmen und zu erkennen, wenn Homogenität, also Gleichheit, auf einer übergeordneten Ebene vorhanden ist.

So kann die Feststellung, dass zwei Personen unterschiedliche Sprachen sprechen – Deutsch und Italienisch – nur dann erfolgen, wenn davon ausgegangen wird, dass beide sich linguistischer Symbolsysteme bedienen, um mit anderen Menschen in Interaktion zu treten. Diese Gemeinsamkeit gesprochener Sprachen ist die Basis des Vergleiches, mit dem festgestellt werden kann, dass es sich um unterschiedliche, also differente Sprachen handelt.
Eine Gleichheit, auf die Bezug genommen wird, ist bei der Feststellung von Heterogenität und Homogenität auf übergeordneter Ebene notwendig. Folglich kann nur Gleiches mit Gleichem verglichen werden. Eigenschaften oder Dinge, die auf abstrakterer Ebene gleich sind, können zueinander in Relation gesetzt werden, die dann als gleich / ungleich beschrieben wird. Homogenität und Heterogenität sind folglich dialektisch aufeinander bezogen und miteinander verbunden, da sich das eine nicht ohne das andere beschreiben lässt. Ein solcher vergleichsinterner und zu bestimmender Maßstab wird auch „tertium comparationis“ genannt (Prengel 2009, 141).
Im schulischen Kontext besteht Homogenität, also die Vergleichsgrundlage, zunächst darin, dass alle Kinder und Jugendlichen als Schüler / -innen gesehen werden (Wenning 2008, 6). Als solche werden sie miteinander verglichen, zueinander und / oder zu anderen Maßstäben in Relation gesetzt. Diese Form der Homogenisierung hat eine positive und eine negative Seite, die miteinander verbunden sind – wie die zwei Seiten einer Medaille: Positiv ist, dass damit für alle Schüler / -innen das Recht auf vergleichbare Teilhabe an Schule und Unterricht ermöglicht wird – im Vergleich zu einem nach sozialen Ständen differenzierten Schulwesen; negativ ist, dass die Unterschiede, anhand derer sie sich unterscheiden, ausgeblendet werden (müssen). Homogenität und Heterogenität beziehen sich in Schule und Unterricht häufig nicht auf eine absolute Gleichheit, wie im vorherigen Sprachbeispiel. Vielmehr wird Homogenität als Streuung um eine Norm verstanden, die als gleich angesehen wird (Gomolla 2009, 22). Das, was jeweils als homogen verstanden wird, unterscheidet sich je nach dem kulturellen, historischen und sozialen Kontext, in dem eine Aussage formuliert wird.
soziale und kulturelle Rahmungen
Vergleiche, deren Ergebnis Gleichheit oder Unterschiedlichkeit darstellt, finden immer in sozialen und historischen Kontexten statt. Als solche sind sie nicht neutral, sondern eingebunden in die Bedeutungen und Werte des jeweiligen Kontextes. Die Vergleiche werden aus einer Perspektive heraus vorgenommen, die durch spezifische kulturelle und soziale Bedeutungen gekennzeichnet ist, in denen die Ergebnisse mit positiverer oder negativerer Bedeutung (Wenning 2008, 6) bzw. mit Rangordnungen und Hierarchien (Prengel 2006, 34) verbunden sind. So ist in der Organisation Schule die Unterscheidung relevant, ob und wie viele Aufgaben ein Schüler / eine Schülerin in einer Klassenarbeit richtig und falsch bearbeitet hat. Dieser Vergleich wird in eine Punktzahl überführt, die anschließend in eine Zensur übersetzt wird. Irgendwo wird eine Grenze als Maßstab und Bedeutung festgelegt, die besagt, ob die Klassenarbeit bestanden wurde oder nicht. Dies ist eine Unterscheidung, die eher im sozialen Rahmen der Schule eine Bedeutung hat und insofern hierarchisch aufgeladen ist, als sie mit einer Besser- / Schlechterstellung im Schulsystem einhergeht.
Das Ergebnis eines Vergleiches ist verbunden mit Konsequenzen, die im jeweiligen Kontext daraus gezogen werden. Diese Bedeutung ist spezifisch für die Schule; andere Unterschiedlichkeiten, wie die Schuhgrößen einer Schulklasse, sind im Rahmen der Bildungsorganisation nicht relevant. Dass Merkmale, Eigenschaften oder andere Aspekte miteinander verglichen werden, steht in einer Wechselbeziehung zu den Bedeutungen und Werten innerhalb des sozialen Zusammenhangs und der spezifischen Interessen, die in dem kulturellen und sozialen Rahmen bestehen (z. B. der Klärung, ob jemand aufgrund seiner Leistung Teil einer spezifischen Lerngruppe bleiben kann oder nicht); aus den jeweiligen Zusammenhängen gehen sie hervor und bleiben zugleich mit ihnen verbunden. Sowohl die Maßstäbe, die herangezogen werden, um Differenzen zu erkennen und zu beschreiben, als auch die Wertung der Ergebnisse unterscheiden sich in kultureller, sozialer und auch in historischer Hinsicht, und sie sind nicht statisch, sondern wandelbar.
sozial konstruiert
Aus kontinuierlich vorgenommenen und in einem sozialen Zusammenhang relevanten Vergleichen heraus können sich feste Begriffe oder Kategorien entwickeln, die zur Beschreibung herangezogen werden. Diese Verdichtungen werden auf sprachlicher Ebene durch Begriffe und Wörter repräsentiert. Auf nonverbaler Ebene stellen Symbole kultureller Repräsentationen solche Verdichtungen dar (Nohl 2010, 146 f).

So stellt die Beschreibung Geschlecht, die in der Regel zwischen männlich und weiblich unterscheidet, eine begriffliche Verdichtung für Unterschiede bzw. kontinuierlich vorgenommene Vergleiche dar. In unserer derzeitigen Gesellschaft sind mit dieser Unterscheidung diverse kulturelle Repräsentationen verbunden, wie beispielsweise Kleidung und Frisuren.
In gesellschaftlichen und somit auch in schulischen Zusammenhängen haben Differenzen zugleich eine distinktive Funktion (sie dienen der Abgrenzung gegenüber anderem und anderen) und eine konjunktive, auf Gemeinsamkeiten bezogene Bedeutung (siehe Kapitel 2.2).
Heterogenität und Homogenität sind Konstruktionen, die perspektivisch gebunden hergestellt und wahrgenommen werden, da sie immer von einem Standpunkt aus, d. h. vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen vorgenommen werden (Seitz 2008, 228). Als solche wirken sie zugleich distinktiv, also abgrenzend, da Differenzen und Unterschiede durch sie sichtbar werden, und konjunktiv, also Gemeinsamkeit stiftend, die durch sie erkennbar wird. Abgrenzungen gegenüber anderem und Zugehörigkeit zu Eigenem bzw. zu Gleichem sind zwei Seiten von Differenzkonstruktionen.
Differenzen werden aus einer konkreten sozialen Position heraus gesehen, in der die zu erkennende Unterscheidung bedeutsam ist. In dieser Bedeutungszuschreibung wird zugleich die Differenz, da sie als relevant genutzt wird, reaktualisiert und damit auch reproduziert. Dies kommt in den Praktiken, die auf die Unterscheidung folgen und auf sie aufbauen, auch zum Ausdruck.

Dies erfolgt z. B. in der Art und Weise, wie auf jemanden zugegangen wird: So werden Kinder von Erwachsenen anders adressiert als dies Erwachsene untereinander tun. Die Differenz, die zwischen den Generationen besteht, wird also in einem Gespräch zwischen den Generationen produziert und reproduziert.
Die sozialen Prozesse der Produktion und Reproduktion von Differenzen sind nicht abgeschlossen, sondern fester Bestandteil jeder menschlichen Interaktion (West / Fenstermaker 1995, 9).
Heterogenität ist partial
Heterogenität, die als sozial konstruiert verstanden wird, ist immer auf einzelne Aspekte bezogen, auf konkrete Differenzen. Im schulisch-unterrichtlichen Kontext wird der Terminus „heterogen“ häufig auf eine Lerngruppe bezogen; gemeint sind jedoch einzelne Aspekte, anhand derer eine konkrete Gruppe als different beschrieben wird (Klafki / Stöcker 1976, 497). Identifizierte Heterogenität oder auch Homogenität besteht für einen konkreten Zeitpunkt, da die Unterschiede zwischen den Vergleichsobjekten jederzeit veränderbar sind. So führt Lernen dazu, dass die Diskrepanz zwischen etwas nicht Gekonntem zugunsten von Können überwunden werden kann. Die Feststellung, ob etwas heterogen und homogen ist, ist die zeitlich begrenzte Beschreibung eines Zustandes, dessen Ergebnis sich durch Entwicklung verändern kann (Wenning 2007, 23). Differenzen in schulischen Leistungen stellen folglich keine stabilen Merkmale dar. Sie sind veränderbar, wie das Beispiel über die Englischkompetenzen des Schülers Paul oben zeigt. So kann sich durch Lernen die Relation zwischen Verglichenem verändern.
2.2 Heterogenität von Milieus
Im Anschluss an diese allgemeine und begriffliche Definition von Heterogenität soll sie, anknüpfend an die Ausführungen der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ von Arnd-Michael Nohl (2010) konkretisiert und durch Ausführungen zum sozialen Raum der Gesellschaft von Bourdieu (1987, 2009) erweitert werden. Arnd-Michael Nohl hat seine Ausführungen an die Überlegungen zur praxeologischen Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1980) und Ralf Bohnsack (2010) aufgebaut.
Heterogenität und Homogenität werden in dieser theoretischen Position mithilfe des Milieubegriffs erklärt. Zunächst soll jedoch der Grundbegriff der Perspektivität von Milieus (siehe Kapitel 2.2.1) besprochen werden. Dann werden Bourdieus (1992) Überlegungen zum relationalen Zusammenhang von Milieu und sozialem Feld im sozialen Raum der Gesellschaft beschrieben (siehe Kapitel 2.2.2) und anschließend die besondere Situation von Milieus in Organisationen vorgestellt.
2.2.1 Zugehörigkeit zu Milieus
zwei Wissensformen
Um Differenzen aus der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie heraus zu betrachten, ist es notwendig, zwischen zwei unterschiedlichen Wissensformen zu unterscheiden: der kommunikativ-generalisierten und der konjunktiven bzw. handlungspraktischen. Kommunikativ-generalisiertes Wissen steht v. a. sprachlich auf wörtlich-begrifflicher Ebene zur Verfügung und ist milieuübergreifend zugänglich (Nohl 2010, 149 f). Seine Verwendung setzt eine Distanz gegenüber den umschriebenen Gegenständen und Sachverhalten sowie Abstraktheit voraus. So wissen andere, wenn wir den Begriff „Buch“ verwenden, dass wir uns auf ein Bündel gebundener Blätter beziehen, die mit Schrift und / oder Bildern bedruckt sind.
Das handlungspraktische Wissen beschreibt hingegen Erfahrungswissen, das einzelne durch die Beziehung zu anderen Personen und / oder zu Gegenständen gemacht haben; so beispielsweise die Kindheitserfahrung, aus Büchern vorgelesen zu bekommen. In der je konkreten Situation wird die Erfahrung der Beziehung, gemeinsam eine Geschichte zu verfolgen, einer „Kontagion“ (Mannheim 1980, 208), gemacht – einer existenziellen Bezogenheit auf den Gegenstand „Buch“, der diese bereithält. Derartige Erfahrungen, die Mannheim als „konjunktive“ Erfahrungen (Mannheim 1980, 215) bezeichnet (einander existenziell verbindende Erfahrungen), stehen nicht notwendigerweise begrifflich reflexiv zur Verfügung. Sie machen jedoch einen wesentlichen Teil menschlichen Wissens aus und sind zugleich orientierende Grundlage für Praktiken und Handlungen, in die sie einfließen.
Definition:
Das handlungspraktische Erfahrungswissen ist jenes, das in der Auseinandersetzung mit der sozialen und materialen Welt gesammelt wird. Aus dieser Erfahrung ergibt sich ein praktisches Verhältnis der Menschen zur Welt, das vorbegrifflich zur Verfügung steht. Dieses Praxiswissen steht nicht unmittelbar reflexiv zur Verfügung (Mannheim 1980, 205 ff). Das in eigener Handlungspraxis erworbene Erfahrungswissen wird in Handlungssituationen reaktualisiert.
Folglich fungiert es als „Praxissinn“ (Bourdieu 1998, 41, Herv. im Original), also aus selbst erfahrener Handlungspraxis heraus wird die Praxis generiert.
Praxis
Dass Menschen über unterschiedliche Erfahrungen verfügen, zeigt sich in ihren je verschiedenen alltäglichen Praktiken. Die Gestaltung des Alltags umfasst jegliche Bereiche menschlichen Lebens, u. a. sich ernähren, sich kleiden, einer Arbeit nachgehen, die Freizeit gestalten. Für und in den unterschiedlichen Bereichen haben Menschen Praktiken entwickelt, die sie zwar nicht notwendigerweise explizit beschreiben können, die jedoch handlungsleitend sind. Diese Orientierung erfolgt auf der Erfahrungsgrundlage entlang des inkorporierten Wissens, das den Praktiken zugrunde liegt und in konkreten Erlebniszusammenhängen generiert wurde (Bohnsack 2010, 43). Innerhalb pluraler Gesellschaften finden sich unterschiedliche Formen der Lebenspraxis, die als „Milieus“ (Nohl 2010, 148) bezeichnet werden.
Definition:
Milieus stellen Kulturen der praktischen Lebensführung und der Alltagsgestaltung dar, die auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen basieren (Nohl 2010, 145).
Verstehen
Milieus stellen gelebte Praxis innerhalb kollektiver Zugehörigkeiten dar, welche die Angehörigen durch Einbindung in vergleichbare, homologe, soziale Lebenszusammenhänge erwerben. Diese strukturidentischen Erfahrungen fungieren als eine Art Brille, durch die der Alltag betrachtet und Partizipation daran eröffnet wird. Die milieubezogenen Erfahrungen, die „kollektiven Erlebnisschichtungen“ (Bohnsack 2010, 63), müssen nicht in konkreten, gemeinsamen Erlebnissen gemacht werden, sondern lediglich gleichartig sein. Die Erfahrungen verbinden die Angehörigen eines Milieus miteinander, sie stellen die „Konjunktion“, eine Verbindung, zwischen ihnen her und dar. Das geteilte Erfahrungs- und Orientierungswissen wird auch als „konjunktives“, also verbindendes Erfahrungswissen bezeichnet. Es ermöglicht den Angehörigen eines Milieus, sich untereinander unmittelbar zu verstehen (Mannheim 1980, 217 ff).

Erfahrungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher generationeller Milieus, beispielsweise in Bezug auf die Nutzung von und den selbstverständlichen Zugang zu digitalen Medien, können sich unterscheiden. Die generationelle Differenz kann sprachlich zum Ausdruck kommen, in der Nutzung von Fachtermini und/oder handlungspraktisch, wie die Medien im Alltag genutzt und herangezogen werden.
Die Erfahrungen erlauben es den Angehörigen eines Milieus, in vergleichbarer Weise materiale und soziale Gegenstände bzw. Zusammenhänge zu betrachten und so auf sie in ihrem Alltag Bezug zu nehmen, da sie in gemeinsamen oder vergleichbaren Erlebnissen gewonnen wurden. Die Zusammenhänge müssen nicht weiter expliziert werden, sie werden verstanden, da sie in ihrer Existenz verstanden werden, die innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums besteht. Die Zugehörigkeit zu Milieus kann zwar reflexiv zugänglich sein, ist es jedoch im Alltag üblicherweise nicht (Bohnsack 2010, 63).
In diese Praxen werden Menschen hineingeboren und einsozialisiert. Milieus sind entsprechend der Individualität der / des Einzelnen vorgeordnet, da sich Individualität nur innerhalb von Milieus entfalten kann. Das konjunktive Wissen, über das ein Milieu zur Bearbeitung des Lebensalltags verfügt, wird v. a. in mimetischer Hinsicht sowie durch Beobachten und Aushandeln erlernt und zur Bearbeitung der eigenen Lebenspraxis herangezogen. Dabei determiniert ein Milieu die Handlungen und Praxen einzelner Personen nicht derart, dass konkrete Handlungen vorgegeben sind. Vielmehr eröffnen Milieus Optionen und Variationen. Die individuellen Spielräume ergeben sich auch durch und für die Zugehörigkeit von Menschen zu mehreren Milieus, die sich in je spezifischer Art überlagern (Nohl 2010, 149). Nohl (2013, 55) nennt die „gesellschaftlich etablierten Dimensionen von Heterogenität“ (Nohl 2013, 55), zu denen beispielsweise Geschlecht und die sozial-ökonomische Situation zählen. Dass entsprechende Milieuerfahrungen mit unterschiedlichen Handlungspraktiken einhergehen, konnte empirisch-rekonstruktiv nachgewiesen werden (z. B. Bohnsack et al. 1995; Schittenhelm 2005). Von diesen zu unterscheiden sind Milieus, die noch im Entstehen sind und/oder die noch nicht rekonstruiert wurden (Nohl 2013, 60).
Mehrdimensionalität von Milieus
Die Mehrdimensionalität von Milieus ergibt sich aus der Überlappung unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen, wie beispielsweise der geschlechtlichen Erfahrungsdimension mit der des sozio-kulturellen Milieus.
Folglich ist nicht von einem eindimensionalen – und totalen – Verständnis von Milieu auszugehen, vielmehr überlagern sich Milieudimensionen. Die unterschiedlichen Erfahrungen, aus denen sich das handlungsleitende Wissen einzelner speist, können in Konflikt oder Widerspruch miteinander stehen. In diesen Konflikten liegt das Potenzial für bildende Entwicklung und Neugestaltung von Milieus. Die Überlappung der Milieus in einer konkreten Person führen ebenso zur Individualität respektive zu einem individuellen oder persönlichen Habitus wie die unterschiedlichen Lösungs- und Bearbeitungsformen des Alltags, die Milieus aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität inhärent sind (Nohl 2010, 166).

Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch und damit wandelbar. Unterschiedliche Erfahrungen überlagern sich, sodass verschiedene Erfahrungsdimensionen zusammenkommen. Einen Menschen auf die Zugehörigkeit zu nur einem Milieu zu reduzieren, wäre eine Verkürzung seiner Realität (Nohl 2010, 174). Derartige Reduktionen auf eine Milieuzugehörigkeit werden häufig praktiziert. Auch Forschung und Wissenschaft sind hiervon nicht frei.
Die Mehrdimensionalität von Milieus eröffnet eine Perspektive der Betrachtung von Differenzen, die über eindimensionale Zuschreibungen hinausgeht. Dennoch finden in der Gesellschaft häufig eindimensionale Betrachtungen und Zuschreibungen statt, bis hin zu einer kategorialen Verfestigung, wie sie z. B. in „die Männer“ zum Ausdruck kommt. Dass dieser einseitige Blick auf Heterogenitätsdimensionen häufig eingenommen wird, lässt sich mithilfe der „Übersetzung“ konjunktiven Erfahrungswissens in kommunikativ generalisiertes Wissen erklären (Nohl 2010, 168 f), die häufig dann und dort erfolgt, wenn die Angehörigen unterschiedlicher Milieus sich einander erklären.
Konjunktion und Distinktion
Es bestehen Differenzen zwischen unterschiedlichen und innerhalb erfahrungsbezogener Milieus. Sie fußen auf den verschiedenartigen Erfahrungen, die Menschen machen, und bieten Zugehörigkeit zu einer Lebenspraxis, also zu Konjunktionen, die es erlauben, den komplexen Alltag zu bewältigen. In den Konjunktionen sind zugleich Distinktionen enthalten, da Zugehörigkeit zu einem Milieu immer auf Abgrenzung gegenüber anderen Milieus verweist (Nohl 2010, 147).
überkonjunktiver Zusammenhang
Der wissenssoziologischen Perspektive folgend, besteht neben dem Praxiswissen, den konjunktiven Erfahrungen und ihren Gehalten, die nur innerhalb des Milieus verständlich sind, also in der existenziellen Gemeinschaft, in der sie generiert wurden (Nohl 2010, 149), wörtlich-begriffliches und nonverbales, symbolisches Wissen über die soziale wie materiale Welt und somit auch über die Milieus selbst. Anders als konjunktives Erfahrungswissen, das auf unmittelbarem Verstehen (Bohnsack 2010, 55 ff) basiert, ist das kommunikativ-generalisierte auf Interpretationen angewiesen. Dort, wo über die Grenzen von Milieus und geteilten konjunktiven Erfahrungen hinweg kommuniziert wird, wird kommunikatives Verstehen notwendig. Die Verständigung ist darauf angewiesen, dass milieugebundene Selbstverständlichkeiten überkonjunktiv expliziert werden. Um die Bedeutung von etwas zu erklären, ist es erforderlich, konkrete Erfahrungen in abstrakte Sprachlichkeit zu übersetzen. Hierfür bedarf es der Kommunikation auf explizit-begrifflicher Ebene, die auf Abstraktionen von der milieugebundenen Perspektive angewiesen ist (Nohl 2010, 150).
kulturelle Repräsentationen
Neben verbalen Formen liegt dieses auf der Ebene kultureller Repräsentationen vor (Nohl 2010, 145 ff). Sie korrespondieren mit kommunikativ-generalisierten Bedeutungen, sind in sprachlicher und in symbolischer sowie nonverbaler Hinsicht vorhanden. Wörter und Begriffe der sprachlichen Ebene finden als explizite Äußerungen ihr Äquivalent auf nonverbaler symbolischer Ebene in materialer und sozialer Hinsicht. Sie bestehen aus Selbst- und Fremdzuschreibungen der Zugehörigkeit zu kulturellen Gruppen. Die Kleidung stellt eine solche kulturelle Repräsentation dar, die uns Hinweise z. B. auf das Geschlecht einer Person gibt.
Zuschreibungsprozesse finden überwiegend auf der Grundlage kultureller Repräsentationen statt, die aufgrund der Eindeutigkeit, mit der sie von allen erkannt werden können und sollen zugleich von der Vielfalt abstrahieren, die in Milieus anzutreffen ist (Nohl 2010, 147 f). Dabei wird die Vielfalt der milieuspezifischen Repräsentation häufig verdichtet und es werden eindimensionale Reduktionen vorgenommen, die sich in stereotypisierenden Zuschreibungen zuspitzen können. Durch die Reaktualisierung der eigenen kollektiven Zugehörigkeit, durch Abgrenzungen und Distinktionen in der Beschreibung verstärkten sich diese (Nohl 2010, 168 f).
Sozialisation
Zugehörigkeit zu Milieus: Milieus bestehen durch die und in den Lebenspraxen ihrer Angehörigen. Die Aktualisierung und Weitergabe milieuspezifischen Wissens an die nächste Generation, mittels Sozialisation, erfolgt durch die Reaktualisierung in Alltagspraktiken. Sozialisation verläuft dabei nicht linear; Milieus sind weder statisch noch eindimensional, sondern dynamisch und mehrdimensional, da mehrere Differenzdimensionen in ihnen aufgehen (Nohl 2010, 177). Folglich sind keine homogenen Milieus denkbar, in die Kinder und Jugendliche einsozialisiert werden. Die frühe familiäre und außerfamiliäre Sozialisation beschreibt jenen Prozess, in dem implizites Wissen eines Milieus an die jüngere Generation weitergegeben wird; ohne dass Sozialisation je als abgeschlossener Prozess verstanden werden kann, da eine kontinuierliche, erfahrungsbezogene Differenzierung im Laufe des Lebens stattfindet. Im Vergleich zu Erziehung ist Sozialisation, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen wie Familie, Kita und Schule vollzogen wird, nicht bzw. nur selten intentional (Marotzki et al. 2006, 138 ff).
schwach heterogene Milieus
Mehrdimensionalität findet sich auch in sogenannten „schwach heterogenen Milieus“ ebenso wie in „stark heterogenen“. Zu schwach heterogenen Milieus gehören in der aktuellen Gesellschaft jene, die lediglich in Bezug auf die Generation und – je nachdem – das Geschlecht verschiedenartig sind (Nohl 2010, 180). Für die Bewältigung einer generationsbezogenen Weitergabe handlungspraktischen Wissens, wie in der Adoleszenz, stellen die schwach heterogenen Milieus Vorbilder und Modelle bereit, an denen sich die Kinder bzw. Jugendlichen orientieren können. Milieus, die auf diese Weise tradiert werden, zeichnen sich durch biografische Dauerhaftigkeit und Kontinuität aus, auf die sich ihre Mitglieder beziehen können (Nohl 2010, 158; 179).
stark heterogene Milieus
Liegen keine derartigen Orientierungsmodelle und Vorbilder handlungspraktischen Wissens vor bzw. sind diese nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu vereinbaren, vor die die nachwachsende Generation gestellt ist, spricht man von „stark heterogenen Milieus“. Diese verweisen darauf, dass zwischen Erwachsenen und Kindern mehr als geschlechts- und ggf. generationsspezifische Unterschiede bestehen. Dies kann beispielsweise durch die Erfahrung von Migration oder durch gesamtgesellschaftliche Umbrüche, wie dem „Fall der Berliner Mauer“ bedingt sein. Solche Ereignisse, die biografische Brüche oder Diskontinuitäten für die Betroffenen darstellen, können (so sie von mehreren Personen erfahren werden) die Entwicklung neuer Milieus eröffnen. Deren Genese findet dort statt, wo die ältere Generation praktisch anwendbare Vorbilder der Lebensbewältigung nicht an ihre Kinder weitergeben kann und die nachwachsende Generation individuelle Handlungsweisen hervorbringt (Nohl 2010, 180 ff).
Aus der Erfahrung heraus, keine Rollenvorbilder oder Modelle zu haben, werden neue Orientierungen entwickelt, um den Alltag zu bewältigen. In diesen neuen Formen werden die differenten Erfahrungen, die unterschiedlichen Sphären (wie beispielsweise die der Familie und die der Schule), aufeinander bezogen und so ihre Bewältigung vorgenommen. Dies gelingt zunächst durch eine Trennung der Sphären und den in ihnen enthaltenen Erwartungen an die Akteurinnen und Akteure. Die Abgrenzung eröffnet zum einen Handlungsfähigkeit und ermöglicht zum anderen die Entwicklung eigener neuer Bearbeitungsformen (Nohl 2010, 158). Neben den durchaus schwierigen Herausforderungen, welche die Gestaltung und Etablierung neuer Milieus für die davon betroffenen Menschen mit sich bringen, eröffnen sich zugleich Räume und Möglichkeiten für Kreativität und Entwicklung (Nohl 2010, 180 ff).





