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Der Fall der Berliner Mauer stellt ein Beispiel hierfür dar: Die ehemaligen DDR-Bürger / -innen sind in einem politischen und gesellschaftlichen System sozialisiert worden, vor dessen Hintergrund sie Praktiken zur Bewältigung des Alltags entwickelt haben. Zu DDR-Zeiten bestehende Selbstverständlichkeiten, entlang derer der Alltag organisiert wurde, unterschieden sich jedoch von denen der BRD. Die damalige Kinder- und heutige Erwachsenengeneration erhielt nicht in vergleichbarem Maße Modelle und Vorbilder, wie der Alltag praktisch bewältigt werden kann, wie ihre Peers aus der ehemaligen Bundesrepublik.
Die Gesellschaft ist an sich heterogen und besteht aus mehrdimensionalen Milieus (Nohl 2010, 160). Die Differenzierung der Gesellschaft in Milieus steht auch in Relation zu den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Gütern.
2.2.2 Milieus im sozialen Raum
Milieus und Habitus
Die ausgeführten Überlegungen der praxeologischen Wissenssoziologie zum Milieu werden mit den theoretischen Ausführungen Bourdieus (1982; 1998) zum Habitus verknüpft. Bourdieus empirische Annäherung an diesen (1982; 1998) erfolgt wesentlich über Kapitalien und ihre Zusammensetzung, die Akteurinnen und Akteuren zur Bewältigung ihres Lebensalltags zur Verfügung stehen. Kapitalkonfigurationen unterschiedlicher Milieus betrachtet er in Relation zueinander und anhand der Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die darin enthalten sind.
Gemeinsam ist den theoretischen Positionen, dass sie davon ausgehen, dass die soziale Situation oder Lage von Menschen sich in ihren Handlungen und Orientierungen niederschlägt. Dies zeigt sich, davon wird ebenfalls in beiden Ansätzen ausgegangen, auch in der praktischen Seite des Handelns. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, mit Hilfe der Ansätze die Dichotomie zwischen Mikro- und Makroebene zu überwinden. Ergebnisse und Resultate, die makroanalytisch betrachtet werden, wie z. B. die unterschiedliche Teilhabe von Schüler / -innen mit / ohne Migrationshintergrund an schulischen Bildungsgängen, finden sich in unterrichtlichen Interaktionen, also Praktiken und Diskursen der Mikroebene wieder.
Die Verknüpfung beider theoretischer Perspektiven soll es ermöglichen, die Bedeutung der sozio-ökonomisch unterschiedlichen Lebensbedingungen, die Bourdieu fokussiert und denen innerhalb der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Forschung eine entscheidende Bedeutung im Zusammenhang mit (schulischem) Bildungserfolg zugeschrieben wird, in die bisherigen Überlegungen zu integrieren.
Die Bedingungen für die Gestaltung von Lebenspraxen unterscheiden sich und entwickeln zugleich eigene Dynamiken. Das, was Nohl (2007, 66) als „konjunktives Erfahrungswissen“ eines Milieus definiert, zeigt Parallelen zu Bourdieus Habituskonzept, insbesondere dem Praxissinn, der zwischen Feld und Habitus vermittelt. Dieser praktische Sinn, der Habitus, erlaubt es Menschen, in ihrem Alltag auf spezifische Art und Weise handlungsfähig zu sein (Bourdieu 2009, 139 ff).
Die entwickelte Praxis eines Milieus sieht Bourdieu (1982) in engem Zusammenhang mit den Kapitalien, die den Menschen – zur Bewältigung ihres Alltags – zur Verfügung stehen. Mithin eröffnet und verschließt (immer in Relation zu anderen Gesellschaftsmitgliedern respektive Milieus gedacht) die Verfügung über Kapitalien Möglichkeiten der Lebensführung und Gestaltung.
Der Habitus fungiert somit als Muster, mit dem die Welt betrachtet wird und in dem gleichzeitig Praktiken begründet werden, ohne jedoch konkrete Handlungsschritte vorzuschreiben. Vielmehr werden Handlungsmöglichkeiten und -optionen eröffnet (Bourdieu 1987, 100 ff). Die Ausprägung des Habitus ist eng an die Lebensbedingungen gebunden, die Bourdieu anhand des Kapitals, das zur Verfügung steht, beschreibt.
Definition:
Kapital meint akkumulierte Arbeit, die in materieller oder immaterieller – also in verinnerlichter (oder inkorporierter) – Hinsicht vorliegt (Bourdieu 1992, 49).
Kapital
Menschen investieren Arbeit und Zeit, um Kapitalien zu erwerben, dies gilt gleichermaßen für objektivierte wie für inkorporierte Formen. Der Besitz von viel Kapital eröffnet mehr Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlich begehrten Positionen und Lebensstilen, als dies bei wenig Kapital der Fall ist. Unterschiedliche Kapitalien, also Ressourcen (ökonomischer, kultureller, sozialer und symbolischer Art), die sich durch ein spezifisches Verhältnis zueinander auszeichnen, sind gesamtgesellschaftlich vorhanden. Sie können gegeneinander getauscht werden, dadurch stehen sie in Relation und Abhängigkeit zu- und voneinander. Die je zur Verfügung stehenden Kapitalien und ihre Zusammensetzung eröffnen und / oder begrenzen den Erwerb spezifischer Werte, Vorstellungen und Lebenspraxen. Diese Optionen führen zu Erfahrungen, die ihrerseits ein Milieu ausmachen (Bourdieu 1992, 49 ff).
inkorporiertes kulturelles Kapital
Kulturelles Kapital: Kulturelles Kapital kann in drei unterschiedlichen Formen vorliegen: inkorporiert, objektiviert und institutionalisiert. Inkorporiertes kulturelles Kapital ist körpergebunden, d. h. der Lernaufwand, der zu seiner Aneignung notwendig ist, muss von dem / der Träger / in selbst geleistet werden. Die Investition von Zeit in ein Studium und / oder in die Schulbildung setzt formal voraus, dass Personen sich lernend auseinandersetzen; dabei handelt es sich um eine Zeit, in der kein Geld verdient oder Freizeit genossen werden kann und die finanziert werden muss, da sie eben nicht für Arbeit aufgewendet werden kann (Bourdieu 1992, 55 ff).
objektiviertes Kulturkapital
Materielle Träger wie Bücher, Gemälde und Musikinstrumente stellen das objektivierte Kulturkapital dar. Neben dem rein materiellen und ökonomischen Wert wohnt ihnen eine kulturelle Bedeutung inne, die nur dann erschlossen werden kann, wenn inkorporiertes Kulturkapital vorliegt, wie z. B. ein Instrument spielen zu können; oder der Einsatz eines technischen Hilfsmittels, wie eines Computers, und geht über den „reinen Besitz“ hinaus (Bourdieu 1992, 59 ff).
institutionalisiertes Kulturkapital
Wie das inkorporierte ist auch das institutionalisierte Kulturkapital an den Träger / die Trägerin gebunden. Hierzu zählen Bildungszertifikate und akademische Titel. Dieses Kulturkapital unterscheidet sich von (ausschließlich) inkorporiertem Wissen dadurch, dass es in der Regel einfacher umzutauschen und rechtsgültig anerkannt ist. So kann ein Zertifikat wie der „Master of Education“ genutzt / getauscht werden, um zunächst einen Referendariats- und später einen Arbeitsplatz als Lehrer oder Lehrerin an einer Schule zu erhalten. Somit eröffnet sich die Option, durch Tausch ökonomisches Kapital zu erwerben. Inhalte, die sich Menschen autodidaktisch angeeignet haben, lassen sich nicht auf vergleichbare Weise transferieren (Bourdieu 1992, 61 ff).
soziale Netzwerke
Soziales Kapital: Diese Kapitalform bezeichnet soziale Netzwerke zwischen Menschen. Sie können genutzt werden, um materielle und / oder immaterielle Tauschbeziehungen vorzunehmen. Derartiger Austausch setzt die gegenseitige Anerkennung der Akteurinnen und Akteure eines Netzwerks voraus, das institutionalisiert vorliegen kann und / oder aus dem subjektiven Gefühl der Verpflichtung heraus besteht. Zum sozialen Kapital zählen neben Freundschaften auch die Familie oder eine Parteizugehörigkeit.
Die Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken basiert auf gegenseitigem Anerkennen und eröffnet die Möglichkeit, im Sinne einer Kreditwürdigkeit, auf das Kapital des gesamten Netzwerks zugreifen zu können. Um diese Potenziale nutzen zu können, ist Beziehungsarbeit in Form von Zeit und / oder Geld aufzuwenden. Die Beziehungspflege bedarf Zeit und / oder Geld und schafft Solidarität zwischen den Netzwerkmitgliedern, die in Form von gegenseitigen Einladungen, von Geschenken oder durch anderweitige Gegenleistungen praktiziert werden kann. So kann Nachhilfeunterricht für das Kind einer Freundin mit einer Essenseinladung oder mit dem Gießen der Blumen während des Urlaubs getauscht werden. Der Tausch ist auf Gegenseitigkeit angewiesen, insbesondere dann und dort, wo keine familiären Beziehungen und Verantwortungen zwischen den Akteurinnen und Akteure bestehen.
Soziales Kapital kann in institutionalisierter Form vorliegen (wie die Zugehörigkeit zu einer Partei, einem Verein oder auch einer Arbeitsstelle) und aus dem Gefühl subjektiver Verpflichtungen heraus entstehen (Bourdieu 1992, 63 ff).
materielle Güter
Ökonomisches Kapital: Zu ökonomischem Kapital zählen neben Geld all jene Gegenstände und materiellen Güter, die jemand besitzt, wie Immobilien, Kunstwerke, Aktien u. v. m. In Marktwirtschaften können diese unkompliziert mithilfe von Geld getauscht und / oder in Geld verwandelt werden. Die Umwandlung zwischen den unterschiedlichen Kapitalsorten macht einen wesentlichen Bestandteil menschlichen Zusammenlebens aus. Hierbei nimmt das ökonomische Kapital eine Art Schlüsselstellung ein, da mit seiner Hilfe andere Kapitalsorten verhältnismäßig leicht erworben werden können; oder es kann für notwendige Transformationsprozesse eingesetzt werden (Bourdieu 1992, 52).

Mirkos Eltern verfügen über eine vergleichsweise große Menge ökonomischen Kapitals. Als seine schulischen Leistungen immer schlechter werden, finanzieren sie ihrem Sohn Nachhilfeunterricht. Eine Nachhilfelehrerin soll Mirko helfen, die schulisch von ihm erwarteten Ziele zu erreichen, damit er in die nächste Klassenstufe versetzt wird. Mirkos Eltern sind selbst Lehrer von Beruf und verfügen über das kulturelle Kapital, ihn selbst beim schulischen Lernen zu unterstützen. Sie haben sich aber entschieden, Mirko eine Nachhilfelehrerin zu finanzieren, da sie selbst wenig (Frei-)Zeit zur Verfügung haben; und diese wenige Zeit wollen sie lieber Tennis spielend mit ihren Kindern verbringen.

Stefans schulische Leistungen sind vergleichbar mit denen Mirkos. Seine Familie verfügt jedoch weder über das ökonomische noch über das kulturelle Kapital wie Mirkos Familie. Stefans Mutter bittet ihre Schwester, ihren Sohn bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Im Gegenzug möchte sie für die Schwester Hausarbeit erledigen. Stefans Mutter greift auf soziales, familiäres Kapital zurück und bietet zugleich eine Tauschleistung an.
Anerkennung
Symbolisches Kapital: Die vierte Kapitalform, das symbolische Kapital, unterscheidet sich von den drei anderen dadurch, dass sie ihnen innewohnt. Symbolisches Kapital stellt die wahrgenommenen und anerkannten Eigenschaften der drei anderen Kapitalsorten dar. Erst durch das symbolische Kapital erhalten die anderen Kapitalsorten ihren Wert, ihre Anerkennung. Die Allgemeine Hochschulreife, das Abitur, der Realschul- und / oder Hauptschulabschluss sind anerkannte Bildungsabschlüsse. Zugleich entstehen durch das symbolische Kapital Relativierungen und Unterscheidungen. So ist der Hauptschulabschluss zwar ein anerkannter Bildungsabschluss, er verfügt im Vergleich zur Hochschulreife über weniger Prestige und eröffnet ihr gegenüber einen eingeschränkteren Spielraum für weitere Bildungswegentscheidungen (Bourdieu 1998, 108 f).
Es ist festzuhalten, dass die jeweils zur Verfügung stehenden Kapitalien in Art und Umfang den Habitus von Menschen prägen, d. h. ihre „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1978, 101), mit denen sie die materielle Welt und das soziale Miteinander betrachten und bewerten und die gleichzeitig ihre Handlungen in dieser materiellen Welt strukturieren. Die praktischen Lebensvollzüge von Milieus stehen in ihrer Genese mit diesen Rahmenbedingungen in Zusammenhang.
Soziale Felder und Feld der Macht: Soziale Felder stellen Räume dar, die sich aus einem Netz relativ zueinander stehender Positionen aufspannen und in Relation zu deren Kapitalvolumen stehen. Hierfür wird auf das kulturelle und das ökonomische Kapital Bezug genommen. Dies lässt sich in einem zweiachsigen Raum abbilden (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Struktur des sozialen Raums (nach Bourdieu 1998, 19)
Struktur des sozialen Raums
Die vertikale Achse beschreibt das Gesamtvolumen an kulturellem und ökonomischem Kapital einer Gesellschaft und die horizontale die Struktur des Kapitals. Letztgenannte verweist auf die Relation von ökonomischem zu kulturellem Kapital über die jemand (respektive ein Milieu) verfügt. Innerhalb des sozialen Raums, der die Gesellschaft beschreibt, können unterschiedliche Positionen als unterschiedliche Milieus – im Sinne der Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie – gefasst werden. Milieus, die insgesamt über viel Kapital verfügen, sind beispielsweise Hochschullehrkräfte und Unternehmer / -innen. Die zwei Gruppen unterscheiden sich jedoch in der Zusammensetzung, der Struktur des Kapitals: Während erstgenannte über mehr kulturelles als ökonomisches Kapital verfügen, ist dies bei der zweitgenannten Gruppe andersherum. Hilfsarbeitende und Personen, die in der Landwirtschaft tätig sind, verfügen im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen über wenig ökonomisches und / oder kulturelles Kapital (Bourdieu 1998, 16 ff).
soziale Felder
In differenzierten Gesellschaften gibt es innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Raums zahlreiche Felder, wie z. B. die Schule als Bildungsorganisation, die über relative Freiheiten bzw. Autonomien verfügen und zugleich in relationaler Weise mit den anderen Feldern verbunden sowie in das gesellschaftliche Feld der Macht eingebunden sind (Bourdieu 1998). Das Schul- und Bildungssystem kann als ein solches Feld verstanden werden. Bourdieu (1993) vergleicht Felder mit Spielfeldern, in denen Spielende entlang je feldspezifischer Regeln um einen oder mehrere Gegenstände, Werte oder Güter sowie um deren Definitionsmacht kämpfen. Die Spielenden verfügen über unterschiedliche Ressourcen – Kapitalien – die sie im Spiel zum Einsatz bringen (können), um ihre jeweilige Position im Feld gegenüber den anderen Spieler / -innen zu erhalten bzw. zu verbessern.
Positionen im Feld
Bourdieu (1993) verbindet die Möglichkeit, sich an dem Spiel zu beteiligen mit dem jeweiligen Kapitalbesitz.
Soziales Feld als Spielfeld
Innerhalb der Spielmetapher bleibend, lassen sich die Kapitalsorten mit Jetons in einem Roulettespiel vergleichen: Für die Beteiligung am Spiel, das die Vermehrung von Kapital – und damit verbundene Annehmlichkeiten im Leben – verfolgt, ist das Ziel, möglichst viele und unterschiedliche Jetons zu erhalten (Bourdieu 1993, 110 ff). Je weniger Kapital ein Mensch im Vergleich zu anderen besitzt, umso weniger kann er an dem Spiel teilnehmen bzw. für ihn ist dann das Risiko des Spieleinsatzes erheblich höher als für jemanden, der über viele Kapitalien verfügt. Menschen, denen viel Kapital zur Verfügung steht, sind es beispielsweise gewohnt, auswählen zu können. So können sich reiche Menschen (also jene, die über viel Kapital verfügen) überlegen, was sie gerne essen oder wie sie sich gerne kleiden möchten. Der Preis stellt für sie kein Auswahlkriterium dar. Verfügen Menschen hingegen über wenig ökonomisches Kapital, so schränkt der Preis von Lebensmitteln und Kleidung auch deren Auswahl ein.
Kinder und Jugendliche, die in ein Milieu einsozialisiert werden, in dem allein der Geschmack und nicht der Preis entscheidend sind, lernen, quasi nebenbei und unter der Bedingung ihrer Lebenssituation, Entscheidungen zu treffen. Menschen, die nicht über vergleichbares Kapital verfügen, müssen z. B. jene Lebensmittel kaufen, die am preisgünstigsten sind, das Gleiche gilt für die Kleidung. Diese Menschen handeln aus der Notwendigkeit heraus. Neben den unterschiedlichen Stilen im Auftreten, die sich so herausbilden, ist das Milieu jener Personen, die über viel ökonomisches Kapital verfügen, von der Erfahrung geprägt, auswählen zu können, ohne durch das Kapitalvolumen (einer oder mehrerer Kapitalien) eingeschränkt zu werden. Diese Erfahrung wird – wie es häufig im offenen Unterricht zu beobachten ist – von der Schule bzw. den Lehrpersonen erwartet.
Charakteristisch für Felder sind mindestens zwei unterschiedliche und miteinander konkurrierende Positionen um die Herrschaft bzw. Definitionsmacht im Feld. Diese werden als „orthodox“ und „häretisch“ oder als „konservativ“ und „subversiv“ bezeichnet (Bourdieu 1993, 110 f). Gemeinsam ist den unterschiedlichen Positionen die Anerkennung des Spielgegenstandes, d. h. die Anerkennung der Wichtigkeit einer Sache, für die es sich zu kämpfen lohnt. Bourdieu nennt dies auch die „illusio“, also eine zentrale materielle oder soziale Bedeutung eines Feldes, die von allen anerkannt wird (Bourdieu 1998, 142).
Im Fall der Schule ist dies zunächst die Tatsache, dass Bildung, Erziehung und Lernen fundamentale Prozesse der Gesellschaft sind, die an die nächste Generation weitergegeben werden sollen. Wie dies in der Schule geschehen soll, welche Aspekte zu Bildung zu zählen sind, wie die pädagogische Organisation prinzipiell zu verstehen ist, kommt in unterschiedlichen Positionen des Feldes zum Ausdruck; dies kann im Feld der Erziehungswissenschaft und / oder dem der Bildungspolitik erfolgen wie auch in der Schule selbst. Die Differenz zwischen ihnen ist relational.
Felder haben eine Handlungsgeschichte; sie „lebt“ in den Strukturen und Objekten fort, die das Feld hervorgebracht hat und die Ausdruck von Auseinandersetzungen seiner Genese (Entstehung) sind. Diese Geschichte enthält die Bedeutungen vorangegangener Auseinandersetzungen (Bourdieu 1998, 56 f; 141 f).
Feld der Macht
Das gesamtgesellschaftliche Feld ist zugleich als ein Machtfeld konstituiert. Es unterscheidet sich von anderen Feldern dadurch, dass diese in ihm angesiedelt sind und es sich durch unterschiedliche Machtpositionen auszeichnet. Die symbolische Bedeutung und Macht von Kapitalsorten stellen den Gegenstand der Auseinandersetzungen dar. Der relative Wert sowie der Tauschwert von Kapitalsorten steht hier auf dem Spiel. Einfluss und Macht werden in diesem Feld durch das Verfügen über bürokratische Instanzen erlangt und ausgeweitet. Ein Beispiel hierfür ist die Häufigkeit der Vergabe von Bildungstiteln: Je seltener ein Bildungstitel vergeben wird, desto höher ist sein Wert. Wird der Bildungstitel häufiger vergeben, sinkt dieser Wert, da er nicht mehr in vergleichbarem Maße gesellschaftliche Privilegien absichert.
Das Hervorbringen und Bearbeiten sozialer Differenzen in der Schule ist ebenfalls eingebunden in Konkurrenz um Macht und Vorteile innerhalb der Gesellschaft. Für die in diesem Lehrbuch bearbeitete Thematik bedeutet dies, dass Unterscheidungen und Differenzen im Kontext hierarchischer Beziehungen konstruiert und mit Bewertungen verbunden werden (Diehm / Radtke 1999, 63).
2.3 Schule als Organisation
Milieu und Organisation: Sozialisations-, Bildungs- und Lernprozesse finden nicht allein in sozialen Milieus statt, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil in gesellschaftlichen Organisationen wie der Schule. Die Definition von „Organisation“ erfolgt hier als Unterscheidung zum bereits bekannten Verständnis von „Milieu“. Organisationen und Milieus ist zunächst gemeinsam, dass sich in ihnen und durch sie überindividuelle Handlungsweisen entwickelt und herausgebildet haben. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, wie diese Regelmäßigkeiten moderiert sind bzw. zur Verfügung stehen und, damit im Zusammenhang stehend, wie die Teilhabe an ihnen funktioniert.
Modi der Teilhabe
Im vorangegangenen Abschnitt wurden Milieus als kollektive Formen der Lebenspraxis vorgestellt, denen konjunktive, homologe Erfahrungen ihrer Angehörigen zugrunde liegen. Die Angehörigen eines Milieus folgen impliziten Regeln, ohne dass ihnen diese reflexiv zugänglich sind oder sein müssen. Organisationen zeichnen sich hingegen durch explizite Regeln aus. Diese sind formal festgehalten und umfassen Verhaltenserwartungen sowie Rechte und Ressourcen, die an die Mitglieder – nicht als Einzelpersonen, sondern im Modus sozialer Rollen – formuliert werden. Mitglieder, die sich nicht an die formalen Regeln der Organisation halten, riskieren ihre Mitgliedschaft (Nohl 2007, 66 f).

In der Schule besteht eine formale Regel, wann der Unterricht beginnt. Zu dieser Zeit haben die Schüler / -innen anwesend zu sein. Missachten die Schüler / -innen diese Regel mehrfach, riskieren sie, über einen Weg von Verwarnungen und Mahnungen ihre Mitgliedschaft in der konkreten Schule. Aufgrund der Schulpflicht gilt dies zwar nicht für den Schulbesuch insgesamt, wohl aber in Bezug auf die konkrete Lerngruppe und die besuchte Schule.
Im Gegensatz zu einem Milieu, das vielschichtig und mehrdimensional aufgebaut ist, ist die Mitgliedschaft in einer Organisation distinktiv geregelt; sie liegt vor oder sie liegt nicht vor. Der Beitritt zu einer Organisation erfolgt üblicherweise durch die eigene Zustimmung und die der Organisation. In der Organisation Schule gilt dies für die Schüler / -innen im Vergleich zu den Lehrkräften insofern eingeschränkt, als dass die Schulpflicht in Deutschland ihren Besuch rechtlich regelt. Die Lehrpersonen hingegen sind sich ihrer Mitgliedschaftsrolle und einer relativen Freiwilligkeit bewusst; sie ist insofern relativ zu sehen, da die Tätigkeit (auch) zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgeführt wird.
Lehrkräfte sind sich ihrer organisationalen Mitgliedschaften v. a. in Situationen bewusst, in denen sich ihre (pädagogischen) Überzeugungen gegen die Organisationen richten. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie Schüler / -innen Zensuren geben müssen. Widersprechen sie dieser Praxis, welche die Organisation qua formaler Regelungen einfordert, droht ihnen ein Disziplinarverfahren, das die Androhung eines Ausschlusses darstellt. Mitgliedschaft liegt hier, im Vergleich zum Milieu, reflexiv vor. Eine Tatsache, die es ermöglicht, die Organisation zu steuern, zu stabilisieren und Veränderungen zu initiieren (Nohl 2010, 195 ff). Für die Zugehörigkeit zu einem Milieu gilt dies nicht; sie ist weder durch einen Willensakt zu erzeugen noch auf diesem Wege veränderbar. Auch kann sie, anders als eine Mitgliedschaftsrolle, nicht „gekündigt“ werden. Zugespitzt verweist dies auf Zugehörigkeit zu einem Milieu einerseits und Mitgliedschaft in einer Organisation andererseits. Mitgliedschaft und Zugehörigkeit lassen sich zwar analytisch trennen, beziehen sich aber in den Praktiken innerhalb einer Organisation wechselseitig aufeinander (Nohl 2007, 66 f).
formale Regeln
Eine Besonderheit von Organisationen stellen ihre formalen Regeln dar. Diese sind eine Art Rahmen, in dem sich die konkreten Regeln entwickeln, ohne als direkte und unmittelbare Handlungsanweisung zu fungieren, wie etwas ganz genau zu tun ist. Eine formale Regel kann von den Organisationsmitgliedern durch drei unterschiedliche Formen bearbeitet werden:



Unterleben
Die formalen Regeln können unterlaufen werden, indem sie nicht beachtet werden, ihnen also zuwider gehandelt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Schüler / -innen im Unterricht untereinander Gespräche führen, während die Lehrperson der gesamten Lerngruppe etwas erklärt. Die formale Regel, dass die Schüler / -innen der Lehrperson zuhören, wird hier unterlaufen, es entsteht ein Unterleben. Dieses Unterleben kann akzeptiert und damit erlaubt werden, oder es kann vonseiten der Lehrperson sanktioniert werden (Nohl 2010, 199 ff).
milieugeprägter Umgang mit den Regeln





