Das Erbe der Macht - Band 32: Sigilschwingen

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»Es war mehr«, realisierte sie. »Ein Echo.«
Eines, das sie schon einmal gespürt hatte. In der Weißen Krypta, als sie zur Ritterin geweiht worden war.
Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Kleidung. Ihr erster Schritt führte wie jeden Morgen in die Küche der Zuflucht, wo die gute Seele Tilda ihr bereits einen Kaffee zubereitet hatte. Frisch gemahlen, mit geschäumter Milch obenauf, dazu eine Prise Zimt.
»Ich danke dir.«
Tilda winkte ab. »Solange ihr mir nur Kyra, Max, Titik, Kevin, Jen und Alex findet.«
»Keine Sorge, wir bringen sie zurück.« Annora nippte an ihrem Kaffee.
Die Tasse in der Hand eilte sie zu einem der Studierzimmer. Hier hatte Grace wie immer Bücher vor sich liegen und recherchierte.
»Guten Morgen«, grüßte sie. »Ich habe zwischenzeitlich mit Albert und H. G. Wells gesprochen. Albert trägt alles zusammen, was er über die Erschaffung des Walls findet. Und H. G. möchte sogar dorthin reisen, um sich das Drama genauer anzusehen. Allerdings könnte er unseren Freunden wohl nicht helfen, da sie mittlerweile Teil der Geschichte sind. Und er könnte damit auch nichts ändern, weil die Zeit sich selbst schützt.«
Annora nahm einen weiteren Schluck ihres Kaffees. »Kann ich deine Aufmerksamkeit einen Augenblick beanspruchen?«
Grace musste ihren Tonfall richtig gedeutet haben, denn sie sah von dem Buch auf, in dem sie gerade etwas nachgeschlagen hatte. Wie immer, wenn sie recherchierte, wirkte sie sogar nach einer Nacht ohne Schlaf fit und tatkräftig. Sie ging auf in ihrer Leidenschaft, was aus sich selbst heraus Energie generierte. Ihr Haar fiel ihr in Wellen auf die Schultern, seit einigen Tagen hatte sie sich Pulli, Hose und Schuhe im 1990er-Style besorgt. Der grau-bunte Pullover, die Jeans, die am Knöchel endete, und die Turnschuhe verliehen ihr die Ausstrahlung einer 90er-Ikone.
Annora berichtete von ihrem Albtraum.
Grace verschränkte die Arme auf dem Rücken und überdachte ihre Worte. »Wie wir wissen, verhält sich die Magie bei Rittern nach ihrer Ernennung unterschiedlich. Der Hinweis auf den nächsten Essenzstab kommt zeitverzögert und different. Die Seher und Essenzstabmacher haben das alles nach einem ganz bestimmten Takt aufgebaut.«
»Du gehst also davon aus, dass es der nächste Hinweis sein könnte?«
»Tust du es?«
Annora nickte. »Es war auf beklemmende Weise real.«
»Dann ist meine Vermutung, dass Alfie Kent irgendwie der Schlüssel zum nächsten Essenzstab ist, diese Suche für ihn aber überaus gefährlich werden könnte.«
»Wie für uns alle«, entgegnete Annora. »Aber sie ist von elementarer Bedeutung.«
»Davon gehen wir zumindest aus.« Grace kehrte zurück zu ihrem Buch. »Letztlich wissen wir nicht, weshalb die Seher überhaupt dachten, dass ein König notwendig ist. Aber lassen wir das einstweilen aus. Selbst wenn Alfie und du dazu bestimmt wären, den Stab zu suchen – dein Traum hat nicht wirklich einen Hinweis darauf erbracht, wo der nächste Essenzstab der Macht zu finden ist.«
Annora nutzte die einsetzende Stille, um Grace‘ Worte zu überdenken. Sie benötigten die Essenzstäbe schon allein deshalb, weil die Magier der Zuflucht bisher keine weiteren besaßen. Merlin hatte alle zerstört. Max’ Stab hatte bewiesen, wozu diese mächtigen Artefakte fähig waren.
Gleichzeitig durften sie all die anderen Dinge nicht außer Acht lassen. Max versuchte, das Agentenprogramm zu reaktivieren. Anne Bonny baute weiter an der Schiffsflotte, die im Hafen von Talanis beständig wuchs. Einstein und H. G. kümmerten sich um die Verschollenen, und Kleopatra braute einen neuen magischen Trank nach dem anderen. Wesley hatte ihr erste Besuche abgestattet, da er bei ihr von einem Trauma durch die Gefangenschaft im Immortalis-Kerker ausging.
Tomoe untersuchte zum einen zusammen mit den Heilmagiern Moriarty, zum anderen überprüften sie nach der Entdeckung, dass Alex’ Mutter von Merlin mit dem Pakt des falschen Glücks auf seine Seite gezogen wurde, die übrigen Familienangehörigen der Widerständler. Nikki half dabei, indem sie ihre Magie als Sprungmagierin zur Verfügung stellte.
»Was sollte ich also …?«
Ein Klopfen an der Tür erklang. Kurz darauf stürmte ein rotwangiger Alfie Kent herein. »Grace, ich … Oh, hallo Annora.
»Guten Morgen. Kommst du vom Sport?«
Die Röte auf Alfies Wangen nahm zu. »Also … hm … irgendwie kann man das wohl so sagen. Ich musste meine Bernsteinkörner aufladen.«
Mittlerweile war es ein offenes Geheimnis, dass Alfie Essenz von anderen Magiern abziehen konnte, um die Bernsteinkörner in seinem Blut aufzuladen. Hier musste der jeweilige andere Magier allerdings in einem Zustand sein, in dem die Aura nicht im Schutz- oder Verteidigungsmodus war.
Da kam es ihm zugute, dass er in einer Beziehung mit Jason und Madison lebte. Die roten Wangen deuteten also darauf hin, dass er gerade Sex gehabt hatte und nun bis obenhin voll war mit Endorphinen und frischer Essenz.
Darüber hinaus hatte Grace das Trio in mehreren Situationen beobachtet und in ihrer typischen Sherlock-Holmes-Art festgestellt, dass sie alle drei ein Tattoo besaßen, das ihre Geister miteinander verband. Es gab also offensichtlich keine Geheimnisse zwischen ihnen. Darauf angesprochen hatten die drei jedoch nur herumgedruckst. Sie wollten oder konnten nichts dazu sagen.
Sprachen sie hier nur mit Alfie oder auch mit Madison und Jason?
»Und du bist hier, um uns das mitzuteilen?«, fragte Grace mit einem Funkeln in den Augen.
»Haha«, erwiderte Alfie. »Tatsächlich geht es um etwas anderes. Artus hat doch vor einiger Zeit nach den Depots von Agnus Blanc gesucht, damit wir an die Artefakte herankommen, die er konstruiert hat. Es war ja fast alles leer, aber uns ist eine andere Idee gekommen.«
Womit er die vollständige Aufmerksamkeit von Grace und Annora genoss.
»Dein Bruder macht kurz vor seinen Enthüllungen auch immer eine Pause. Um die Spannung zu steigern.« Annora schürzte die Lippen. »Ich hasse es.«
»Ihr seid heute ja total lustig.« Alfie grinste frech. »Obwohl das hier tatsächlich Absicht war. Also, Madison erinnerte sich daran, dass es da ja noch ein Archiv gibt, in dem alle möglichen vergessenen Zauber, Mentigloben und so weiter aufbewahrt werden.«
»Wehe, du machst eine Pause«, warf Annora schnell ein.
»Die endlosen Tiefen«, sagte Alfie flink.
Die Worte hingen in der Luft.
Es gab nur wenig, was über das Archiv der ehemaligen Schattenkrieger bekannt war. An einem geheimen Ort existierte es, jedoch unzugänglich. Zumindest war es das für die Lichtkämpfer gewesen. Doch die beiden Fraktionen gab es nicht länger.
»Aber wir kämen überhaupt nicht hinein«, merkte Annora an. »Wo der Eingang zu finden ist, weiß ebenfalls niemand.«
»Da haben wir vielleicht eine Idee.« Alfie verschränkte die Arme.
Und schwieg natürlich, mit einem Grinsen auf den Lippen.
Baby Kent, der Spitzname, den Madison benutzte, traf es bei ihm wirklich ziemlich genau.
4. Moriartys Zugang

Das ist auf absurde Weise lächerlich«, stellte Annora fest.
Gemeinsam mit Alfie, Madison und Jason war es ihnen tatsächlich gelungen. Da Moriarty noch immer im Koma lag, hatten sie ihm problemlos eine Blutprobe entnehmen können. Gekoppelt mit einem Suchzauber, der mit einem der wenigen Pergamente verwoben wurde, die aus den endlosen Tiefen stammten, verrichtete er sein Werk. Dass es dieses überhaupt noch gab, verdankten sie Moriartys Paranoia. Er hatte die wichtigsten seiner Aufzeichnungen nämlich auch gegen Feuer imprägniert, wodurch eine Handvoll den Absturz der East End überstanden hatte.
»Das ist wirklich ein wenig theatralisch«, kommentierte Madison. »Selbst für Moriarty.«
Annora hatte längst realisiert, dass die junge Magierin aus Amerika mittlerweile nicht mehr viel von ihrem ehemaligen Oberen hielt. Sie ließ ihre Finger knacken.
»Eine Kirche«, vollendete Jason.
Sie standen in Schottland vor einem Gotteshaus. Die Szene wirkte, wie einem Historienfilm entsprungen. Gewölbte Bögen und Buntglasfenster, Erker und ein Dach, von dem sich die eine oder andere Schindel bereits gelöst hatte.
Da der Wind inzwischen Nieselregen mit sich brachte, machte Annora eine auffordernde Handbewegung. »Folgen wir der magischen Spur.«
In der Luft schimmerte eine Essenzlinie, die jedoch kurz vor dem Verblassen stand.
Zu dieser Tageszeit war das Kirchenportal nicht verschlossen, sie konnten problemlos eintreten. Die Scharniere quietschten. Ein überlautes Geräusch in dem sonst stillen Gotteshaus. Ein paar aufgestellte Kerzen flackerten.
»So was schaue ich mir am liebsten von einer gemütlichen Couch aus an«, kommentierte Jason.
»Das letzte Mal hast du mir ins Ohr gebrüllt, als wir etwas Gruseliges geschaut haben.« Alfie rieb sich instinktiv das Ohr.
»Alter, das waren steinerne Engel, die auf einem Friedhof standen«, sagte Jason. »Und jedes Mal, wenn dieser Arzt die Augen geschlossen und dann wieder hingesehen hat, kamen sie näher.«
»Doctor«, erklärte Alfie mit Nachdruck. »Das habe ich dir jetzt schon tausend Mal gesagt. Er ist der Doctor.«
»Und er telefoniert gerne«, neckte Madison. »Weil Telefonzelle und so.«
»Das ist keine …« Alfie ballte die Hände und stapfte grummelnd in die Kirche.
Hinter seinem Rücken gaben sich Madison und Jason ein High Five.
»Funktioniert immer wieder«, sagte sie leise.
»Aber dafür werden wir beim nächsten Mal auf der Couch bitter bezahlen müssen«, ergänzte Jason.
Annora schmunzelte. Die drei zu beobachten, die Nähe und Vertrautheit, mit der sie zueinanderstanden, ließ sie hoffen. Auf eine Zukunft der Versöhnung.
»Die Spur endet hinter dem Altar!«, rief Alfie mit donnernder Stimme.
»Zurücktreten«, bat Annora.
Sie zeichnete mit ihrem Essenzstab das notwendige Symbol in die Luft und rezitierte: »Revelio Porta.«
Das typische Essenzecho, an das sie sich nach ihrer Rückkehr aus dem Immortalis-Kerker erst gewöhnen musste, manifestierte sich. In der Luft lag der Geruch von Wintertee. Das Gefühl von Beständigkeit vermischte sich mit dem Geräusch von Eichenholz, das jemand polierte.
Der Altar zerbrach und gab den Blick auf ein Weihwasserbecken frei.
»Wenn das jedes Mal auf diese Art funktioniert, ist es ein ziemlicher Verschleiß«, sagte Madison. »Oder müssen wir das wieder reparieren, sobald wir zurückkehren?«
»Sie hat den Stab.« Jason deutete auf Annora. »Ist doch ein Klacks.«
Alfie schüttelte den Kopf. »Spürt ihr es nicht? Dieser Nachhall.«
»Essenzecho genannt, Baby Kent.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Da ist etwas anderes.«
»Alfie hat recht«, bestätigte Annora. »Da ist eine Präsenz, die in der Magie gebündelt war. Der Zauber ist bereits fort, doch der Nachhall deutet auf ein Siegel hin. Wir konnten es leicht zerstören, weil es schon länger nicht erneuert wurde. Andernfalls hätte es uns einiges an Mühe gekostet. Ohne Essenzstab wäre es selbst jetzt noch unmöglich gewesen.«
»Bedeutet es, dass jemand Moriarty aussperren wollte?«, fragte Madison.
Alfie ballte die Hand um seinen eigenen Essenzstab fester. Er hatte längst begriffen, dass hier Gefahr drohte. Annora betrachtete das Artefakt in seinen Händen. Es war natürlich kein echter Essenzstab. lediglich eine von Agnus Blanc geschaffene Krücke, mit der auch ein Nimag Magie wirken konnte.
Jason trat an das Weihwasserbecken. »Das ist kein Weihwasser.« Er tauchte seine Finger in das schwarze Pulver und zerrieb es. »Asche.«
»Ich sollte besser allein …«, begann Annora.
»Kommt nicht infrage«, stoppte Alfie sie sofort.
Natürlich hatte sie ihm von dem Traum erzählt. Ihre Idee dahinter war gewesen, dass er keinesfalls kopfüber in das Abenteuer springen sollte. Bedauerlicherweise interpretierte der Bruder von Alexander Kent die Sache ein wenig anders. Schließlich könnte man den Essenzstab der Macht ganz eindeutig nur mit ihm gemeinsam erbeuten. Deshalb müsse er quasi mit.
Waren Kevin und Chris auch so schlimm gewesen, als sie noch Teenager waren? Sie gab sich selbst die Antwort. Schlimmer.
»Ich habe ja nicht viel für Religion übrig«, kommentierte Jason. »Meine Eltern waren da anders.« Ein Schatten zog über sein Gesicht.
Madison legte ihm die Hand auf die Schulter.
Annora konnte sich denken, dass die Jugend von Jason nicht die beste gewesen war. In einer konservativen Familie aufzuwachsen, die alles außerhalb des religiösen Korsetts ablehnte, konnte einen Menschen zerstören.
Alfie trat ebenfalls hinzu. Er und Madison küssten Jason nacheinander sanft auf die Lippen, darüber hinaus fiel kein Wort.
»Also, ich erkläre dir, wie es normalerweise geht.« Alfie ging zum Weihwasserbecken, tauchte die Finger hinein und machte dann drei Kreuze. Eines auf seiner Stirn, eines auf dem Kinn und eines auf der Brust. Was natürlich entsprechende Aschekreuze hinterließ. »Wobei das ja nicht bei allen gleich ist.«
Wie Nebel, der vom Wind vertrieben wurde, verschwand Alfie. Einfach so.
»Der Eingang!«, schaltete Madison sofort.
Bevor Annora reagieren konnte, hatten sie und Jason ihre Finger in die Asche getaucht und machten es Alfie nach. Auch sie verschwanden.
»Wunderbar. So viel zu wohl überlegtem Vorgehen.« Annora fluchte lauthals, was sich als Echo wirklich unangenehm anhörte.
Sie tauchte ihre Finger in die Asche und machte die drei Kreuze ebenfalls.
Die Umgebung verwischte.
Annora fand sich direkt neben Alfie, Jason und Madison wieder. Beide starrten auf die Regalbretter und Tische, die überall um sie herum zu finden waren.
»Okay«, sagte Alfie. »Das hätte ich jetzt nicht erwartet.«
Dem konnte Annora nur beipflichten.
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