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Grothe schlug wechselseitig mit beiden Handinnenflächen gegen die Glasscheibe der Terrassentür. Dann machte er einige Trippelschritte und rieb die Hände an seinen Oberschenkeln. Er war sichtlich aufgeregt, aber noch unentschlossen, ob er die nächste Grenze überschreiten und versuchen sollte, das Glas der Tür einzuschlagen.
Philipp atmete kurz auf, als der Angreifer die Terrasse verließ und in den Garten zurückkehrte.
Zu früh gefreut!
Grothe hatte einen der größeren Ziersteine entdeckt, aufgehoben und marschierte damit auf die Terrasse zu.
Philipp rannte über den Flur zur vorderen Haustür. Hinter ihm klirrte eine Scheibe. Durch den Haupteingang flüchtete er aus seinem Haus, rannte zur Straße, rief laut um Hilfe.
Kapitel 5
Ich hatte heute mit zwei Notfalleinsätzen zu tun, die auf ihre Art ein Symbol dafür waren, dass es bei mir zurzeit nicht rund lief.
Als Erstes meldete sich das Polizeikommissariat Hannover-Misburg. In Anderten war ein vermutlich psychisch kranker Mann von der Polizei überwältigt worden, nachdem er zuvor den Schriftsteller Philipp Rathing auf dessen Grundstück körperlich angegriffen hatte. Die Polizei hatte den Mann mit aufs Kommissariat genommen.
„Es geht um einen Ralf Grothe. Der war völlig von der Rolle. Wir mussten ihn für den Transport an Händen und Füßen fesseln“, erklärte mir am Telefon der zuständige Polizeioberkommissar. „Jetzt schreit er in der Gewahrsamszelle rum … Könnten Sie bitte sofort kommen und ärztlich überprüfen, ob die akute Fremdgefährdung tatsächlich auf einer psychischen Krankheit beruht?“
Sollte das nach fachärztlicher Einschätzung der Fall sein, müsste der Mann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden.
„Wir kennen ihn aus dem letzten Jahr … Anzeige wegen Körperverletzung“, ergänzte der Polizist. „Damals hatte der kassenärztliche Bereitschaftsdienst eine Psychose mit manischer Auslenkung diagnostiziert. Daraufhin wurde Grothe auf freiwilliger Basis ins Krankenhaus gebracht.“
„In einer halben Stunde sind wir bei Ihnen“, versprach ich.
Philipp Rathing, wie interessant, ging mir durch den Kopf. Vor neunundzwanzig Jahren, 1987, hatte ich mit ihm zusammen Abitur im Lindener Hermann-Hesse-Gymnasium gemacht. Zuletzt hatten wir uns vor gut neun Jahren gesehen, bei der 20-Jahr-Feier unseres Abi-Jahrgangs.
Kurz durchforstete ich unsere elektronische Patientendatei. Einen Ralf Grothe konnte ich nicht entdecken. Bisher also keine Berührungspunkte mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst.
Ich verständigte Saskia Ahlborn, eine erfahrene Sozialarbeiterin Ende fünfzig. Heute war sie meine Begleitung bei allen Notfalleinsätzen.
In meinem VW Golf fuhren wir über den Schnellweg in den östlichen Teil Hannovers. Ich steuerte durch den erstaunlich zäh fließenden Verkehr. Der Wagen hatte schon sehr viele Winter hinter sich gebracht, war dafür noch ganz gut in Schuss, verfügte allerdings nicht über zeitgemäße Technik wie eine Bluetooth-Freisprechanlage. Mein Smartphone, auf dem die Notrufe eingingen, hatte ich daher während der Fahrt an Saskia weitergereicht.
Ich war froh, während der Fahrt nichts mit Telefonaten zu tun zu haben. So konnte ich mich meiner Gedankenkette widmen, in der sich Berufliches und Privates vermischte: Philipp Rathing, Hermann-Hesse-Gymnasium, Anna … Der Auszug meiner langjährigen Lebenspartnerin ließ mich einfach nicht los.
Gut, dass Saskia neben mir saß und die nächsten Minuten alle Anrufer von mir fernhielt.
Denn schon klingelte es.
*
Saskia Ahlborn nahm den Anruf, weitervermittelt über die Einsatzleitstelle, entgegen: „Guten Tag, mein Name ist Ahlborn, Sozialarbeiterin der Notfallbereitschaft des Sozialpsychiatrischen Dienstes.“
Ein unsicher klingender Mann meldete sich, nannte kurz seinen Namen, teilte besorgt mit: „Peter Horand, ein Bekannter von mir, ist in letzter Zeit schlecht drauf, irgendwie mürrisch … und redet wenig. Er ist Frührentner und arbeitet nicht mehr. Heute Morgen wollt ich ihn anrufen, aber er geht nicht ans Festnetz. Und hat sein Handy ausgeschaltet.“
„Könnte es sein, dass er einkaufen ist und vergessen hat, sein Handy wieder einzuschalten?“, fragte Saskia das Naheliegendste.
„Kann sein, glaube ich aber nicht.“
„Ist bei Herrn Horand eine psychische Erkrankung bekannt? Gab es schon mal Hinweise auf Suizidalität?“
„Das weiß ich nicht. Ich bin kein Psychiater.“ Der letzte Satz klang leicht ärgerlich. „Könnten Sie mal nach meinem Bekannten sehen?“
Saskia erfragte Adresse und Telefonnummer von Peter Horand und erklärte:
„Herr Dr. Seifert und ich sind gerade auf dem Weg zu einem eiligen Notfall. Anschließend kümmern wir uns um Ihre Angelegenheit. Wohnen Sie in der Nähe von Herrn Horand und könnten dort schon mal nach dem Rechten sehen?“
„Wir wohnen in verschiedenen Stadtteilen. Ich sitz hier zu Hause und ruf von meinem Festnetzapparat an. Aber dann fahr ich da eben selbst hin.“
„Das ist ein guter Vorschlag. Bitte melden Sie sich jederzeit, wenn’s neue Erkenntnisse gibt.“
Der Anrufer beendete das Gespräch.
*
Im Polizeikommissariat Misburg wurden wir dringend erwartet. Kai Duensing, Mitte dreißig, der für den Fall Ralf Grothe zuständige Polizeioberkommissar, bat uns, ihm in ein Büro im hinteren Teil des Kommissariats zu folgen und Platz zu nehmen. Ein nüchtern eingerichteter Raum mit dem allernotwendigsten Inventar. Aktenschrank, Schreibtisch mit PC, ein kleiner Tisch, insgesamt vier Stühle.
„Herr Grothe wird gleich hierhergebracht. Dann können Sie mit ihm reden und eine Diagnose stellen“, erklärte Duensing. „Ich als medizinischer Laie halte den Mann für völlig verrückt.“
Zwei kräftige Polizeibeamte führten Ralf Grothe herein. Seine Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Der Grund dafür war schnell erkennbar. Sämtliche Muskeln seines Körpers schienen unter Anspannung zu stehen. Er wirkte wie eine tickende Zeitbombe, leistete jedoch im Moment keinen Widerstand. Alles an ihm war schwarz: sein Pullover, seine Lederhose, seine Stiefel. Bis auf das schüttere Haupthaar und den Bart, wo inzwischen das Grau überwog.
„Der Herr Irrenarzt ist also auch schon eingetroffen“, gab er zur Begrüßung lautstark von sich. „Bist du überhaupt dafür qualifiziert, schwule Gehirne zu analysieren?“
Seine Bewacher setzten ihn auf einen der Stühle, postierten sich links und rechts dahinter.
Saskia und ich saßen dem gefesselten Mann gegenüber, den Tisch zwischen uns. Duensing hielt sich etwas abseits.
Wir stellten uns Grothe mit Namen und Funktion vor. Ich bat ihn darum, im folgenden Gespräch beim Sie zu bleiben.
„Die studierten Herrschaften legen Wert auf Etikette … Na, dann will ich mal zeigen, dass ich gute Manieren habe“, brummte er und ergänzte mit Blick auf Saskia: „Du … entschuldige … Sie brauchen keine Angst zu haben. An Muschis geh ich nicht ran.“
„Ich bin nicht davon ausgegangen, dass Sie mir was antun“, antwortete Saskia ruhig. „Und bei Muschis fühle ich mich nicht angesprochen.“
Ehe ich eine Frage stellen konnte, äußerte Grothe verärgert: „Die haben mir hier die Jacke ausgezogen. Jetzt könnt ihr gar nicht erkennen, wer ich bin … Schon mal was von den Rainbow-Bikern gehört?“
Ich nickte. Es handelte sich um einen in der Region Hannover ansässigen Motorradclub für schwule Biker. Ich teilte ihm mein Wissen mit, wodurch ich kurzfristig bei ihm punktete.
„Für’n Hetero gar nicht so übel.“
Ich nutzte die Gunst des Augenblicks und fragte ihn, was er bei Philipp Rathing in Anderten gewollt habe.
„Ich hab Rathing einen Besuch abgestattet, um ihm persönlich die Quittung für sein ekliges Geschmiere zu verpassen. Erst interviewt er mich scheinheilig, dann schreibt er diese Kacke, die mich und die Jungs lächerlich macht und alle Schwulen und Lesben zu Psychopathen abstempelt.“ Grothe redete sich in Rage, immer schneller und mit zunehmender Lautstärke. Schließlich endete er mit dem Satz: „Ich bin der Rächer des guten Rufs aller Schwulen und Lesben, habt ihr’s kapiert?!“
Als Nächstes fragte ich ihn, bei wem er zuletzt in ambulanter psychiatrischer Behandlung gewesen sei.
„Dr. Mielke, ganz okay der Typ. Geh ich seit paar Monaten nicht mehr hin. Die Medikamente brauch ich nicht mehr.“
Dr. Mielke war ein niedergelassener Psychiater in Hannover. Die verordneten Psychopharmaka hatte Grothe offenbar abgesetzt.
Von Grothe erfuhr ich noch, dass er sich letztes Jahr einige Wochen freiwillig in der Psychiatrischen Klinik in Langenhagen aufgehalten hatte. Er lebte allein in einer Mietwohnung. Aktuell war er antriebsgesteigert und enthemmt. Es war davon auszugehen, dass er innerhalb kürzester Zeit erneut bei Philipp aufkreuzen und diesen körperlich attackieren würde. Das Kriterium der weiter bestehenden akuten Fremdgefährdung war damit erfüllt.
Diagnostisch ging ich von einer manischen Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung aus.
„Wären Sie bereit, sich wieder in Langenhagen stationär aufnehmen zu lassen?“, fragte ich ihn.
„Ich geh nicht wieder in die Klapse! Brauch ich nicht und will ich nicht mehr! Morgen beginne ich meinen eigenen Roman. Der handelt von bornierten Hetero-Schmierfinken!“
„Falls Sie sich zu keiner freiwilligen Aufnahme entschließen, würde ich einen Unterbringungsbeschluss anregen“, legte ich die Karten auf den Tisch.
Grothes Stimmung verschlechterte sich rapide.
„Ich lass mich von dir nicht in die Klapse wegsperren!“, schimpfte er und versuchte sich aufzurichten. Die Polizisten hinter ihm drückten ihn auf den Stuhl zurück.
Er begann, mir lautstark eine Serie von Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Für meine Entscheidung brauchte ich keine weiteren Informationen. Ich beendete das Gespräch, und der schimpfende Rainbow-Biker wurde von den Beamten in die Gewahrsamszelle zurückgebracht.
„Wir können jetzt aber nicht drei Stunden warten, bis ein richterlicher Unterbringungsbeschluss verfügt wird“, teilte Duensing mit. „Grothe noch drei Stunden in unserer Zelle, das hält keiner der Beteiligten aus.“
Dieser Auffassung schloss ich mich an. Bei sehr eiligen Notfallsituationen war es rechtlich möglich, dass anstelle eines Richters ein von der Kommune autorisierter Ordnungsbeamter die Zwangseinweisung bis zum Ende des Folgetages anordnen konnte, wenn ein in der Psychiatrie erfahrener Arzt die Notwendigkeit dafür bestätigt hatte. Und genau diesen Ordnungsbeamten rief ich jetzt an.
*
Der Ordnungsbeamte hatte nach einem kurzen persönlichen Gespräch mit Grothe dessen sofortige Einweisung in die Langenhagener Klinik verfügt. Zwei Polizeibeamte begleiteten den immer noch gefesselten Grothe zum Ausgang des Kommissariats. Ich ging vor ihm, mehrere Schritte voraus. Saskia hatte das Gebäude schon verlassen. Vorm Eingang führte eine Treppe mit vierzehn Stufen nach unten, wo der Rettungswagen parkte, der Grothe in die Klinik transportieren sollte. Im Rahmen der Amtshilfe würde die Polizei den Krankentransport bis zur Klinik begleiten. Ich stand gerade auf der obersten Stufe, als ich am unteren Ende der Treppe einen Mann sah, den ich neun Jahre nicht mehr persönlich gesehen hatte – Philipp Rathing.
Was will der denn hier?
Überrascht blieb ich stehen. Dafür, dass ihn gerade zu Hause ein enthemmter Maniker überfallen hatte, sah er erstaunlich frisch aus. Unter dem offenen Mantel trug er ein Sakko. Er machte den Eindruck, als hätte er noch was vor.
Dann passierte alles auf einmal. Ich hörte Grothe hinter mir schreien, der offenbar ebenfalls Philipp entdeckt hatte. Gleichzeitig erwischte mich ein Tritt am Gesäß, vermutlich von Grothe, der beim Anblick seines Widersachers vor Wut explodierte. Ich taumelte nach vorne, verlor das Gleichgewicht, stürzte, rollte einige Treppenstufen nach unten, bis ich endlich meinen Sturz abbremsen konnte.
„Rathing, du Abschaum, irgendwann erwischen wir dich!“, brüllte Grothe. „Du wirst Hannover sehen und sterben!“
Die Polizisten hatten ihn zu Fall gebracht, sodass er auf dem Boden kniete und nicht mehr um sich treten konnte.
Ich spürte Schmerzen in der Schulter, im Rücken und an der Schläfe. Dabei hatte meine Winterjacke noch einen gewissen Schutz dargestellt. Duensing und der Ordnungsbeamte halfen mir auf die Beine. Hätte nur noch gefehlt, dass ich wieder mit dem Fuß umgeknickt wäre. Dann kam Saskia dazu.
Ich hatte eine Schürfwunde an der rechten Schläfe und würde die nächste Zeit jede Menge blaue Flecken mit mir herumtragen.
Nachdem Grothe endgültig im Rettungswagen verschwunden war, kam mir Philipp auf der Treppe zum Kommissariat entgegen. In den letzten Jahren hatte er sich nur geringfügig verändert. Er hatte dunkelblonde Haare mit ausgeprägten Geheimratsecken, einige Falten um die Augen und einen minimalen Bauchansatz.
Immer darauf bedacht, im besten Licht dazustehen – so kenn ich ihn aus Schulzeiten.
„Hallo Mark, alter Kumpel. Tut mir total leid, dass du wegen mir eine verpasst bekommen hast“, sagte er und drückte fest meine Hand.
„Nicht deine Schuld. Ich hab für einen Moment nicht richtig aufgepasst … Und wie geht’s dir?“
„Der Angriff von Grothe belastet mich mehr, als man mir vielleicht ansieht.“ Sein anfängliches Lächeln verschwand und machte einem bedrückten Gesichtsausdruck Platz. „Ich bin hierhergefahren, um bei der Polizei meine Aussage von heute Morgen zu ergänzen. Im direkten persönlichen Gespräch hielt ich das für am besten.“
Eigentlich müsste er doch heute die Nase voll haben von Polizei und enthemmten Bikern. Dass er trotzdem sogar persönlich hier gleich wieder auftaucht, kommt mir merkwürdig vor.
Philipp hatte es eilig, und auch auf mich wartete der nächste Notfall.
„Könnte sein, dass ich mal deinen fachlichen Sachverstand für eines meiner nächsten Bücher brauche“, sagte er mit einem Augenzwinkern. „Hättest du eine Visitenkarte für mich?“
Ich tat ihm den Gefallen und wollte mich verabschieden, als mir unten vor der Treppe zum Kommissariat ein Mann in einer dunkelblauen Winterjacke auffiel. Auf Anhieb konnte ich ihn nicht zuordnen, aber ich kannte ihn von irgendwoher. Er guckte zu uns herauf, aber sein Interesse galt offensichtlich nicht mir, sondern Philipp.
*
Der Mann spürte eine Mischung aus Beklemmung und Ärger, machte sich große Sorgen um Peter Horand. Sein Gefühl sagte ihm, dass da etwas mit seinem Bekannten nicht stimmte. Als er vor der Haustür des mehrstöckigen Mietshauses stand und ein paarmal hintereinander klingelte, nahm seine Unruhe zu.
Nichts! Peter macht nicht auf.
Er klingelte bei Rosenhahn. Der war Rentner wie Peter und wohnte eine Etage unter ihm, gleichzeitig war er der Besitzer des Hauses. Zum Glück war Rosenhahn da und betätigte den Summer.
Er erzählte Rosenhahn kurz von seiner Besorgnis, ging dann einen Stock weiter, in die zweite Etage. Auf Klingeln und Klopfen erfolgte keine Reaktion. Aber als er sein Ohr an die geschlossene Wohnungstür legte, meinte er etwas zu hören. Sehr leise.
Das sind doch Stimmen?! Aber völlig monoton. Und immer das Gleiche. Was ist da los?
Das klang nicht nach Besuch. Das klang nach Fernseher, oder einer CD, die beim Abspielen an einer Stelle festhing. Aber was war mit Peter?
Der geht doch nicht raus, wenn drinnen der Fernseher läuft. Liegt er hilflos in der Wohnung?
Rosenhahn hatte als Vermieter für Peters Wohnung einen Schlüssel. Für den Notfall. Das war auf jeden Fall einer.
Er ließ Rosenhahn aufschließen. Was er dann zu sehen bekam, erschreckte ihn zutiefst. Peter hatte sich am Heizkörper im Wohnzimmer erhängt. Vorher hatte er offenbar seine Lieblingsplatte, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band von den Beatles, aufgelegt.
Auf der zweiten Schallplattenseite war eine Endlosrille, in welche die Beatles als Gag ein Stimmengewirr hatten pressen lassen. Peters Plattenspieler besaß keine automatische Endabschaltung. Das Stimmengewirr wurde so lange abgespielt, bis der Tonarm manuell entfernt wurde. Peter war dazu nicht mehr in der Lage gewesen.
Rosenhahn verständigte die Polizei. Die fand einen handschriftlichen Abschiedsbrief und keine Hinweise auf Fremdeinwirkung.
*
Saskia und ich stiegen in mein Auto ein, das wir in der Nähe vom Polizeikommissariat Misburg abgestellt hatten. Ich hatte mir nicht mehr die Mühe gemacht herauszufinden, wer der Mann in der dunkelblauen Winterjacke war und was er womöglich von Philipp wollte. Ich musste mich um das Hilfeersuchen kümmern, von dem Saskia vorhin kurz berichtet hatte. Ein Mann mit Namen Horand war heute Morgen telefonisch nicht erreichbar gewesen.
Gerade wollten wir das weitere Vorgehen besprechen, da klingelte mein Diensthandy.
Ich nahm das Gespräch an, eine Polizeibeamtin meldete sich. Nach meinem Treppensturz folgte jetzt der nächste Tiefschlag. Die Polizistin teilte mit, dass sie wusste, dass die psychiatrische Notfallbereitschaft zu einem Herrn Horand im Stadtteil Sahlkamp gerufen worden war. Sie sei jetzt bei ihm vor Ort. Wir bräuchten nicht mehr zu kommen. Der Mann habe sich das Leben genommen.
Ach, du Scheiße! Heute kommt’s ja richtig dicke!
In der Wohnung des Toten wurden wir tatsächlich nicht mehr gebraucht. Wie meine telefonische Rücksprache mit Mockie ergab, war Peter Horand nie Patient in einer der Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes gewesen.
Schon kam der nächste Anruf.
Kein guter Tag für mich!
Am frühen Nachmittag trafen Saskia und ich wieder in unseren Büroräumen im Döhrener Timon Carré ein. Ich war völlig fertig, sah es aber als meine Aufgabe an, noch einmal den Bekannten von Peter Horand anzurufen. Ich wollte ihn fragen, wie er mit Horands Suizid zurechtkam und ob er Interesse an einem Gespräch mit mir hätte. Saskia beharrte darauf, sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern. Schließlich habe nur sie mit dem Mann gesprochen, daher wolle auch sie das Telefonat mit ihm führen.
Ich willigte ein (und war wirklich nicht unglücklich darüber, dieses Telefonat nicht führen zu müssen). Außerdem sagte ich mir, dass ich damit vermeiden wollte, dass Saskia den Eindruck bekam, ich könnte ihr das Ganze nicht zutrauen.
Kurz vor Dienstschluss informierte sie mich darüber, dass sie den Mann telefonisch erreicht hatte. Er hätte nachvollziehbar erklärt, dass er damit klarkäme und keine weitere Unterstützung von uns benötige.
Saskia legte eine elektronische Akte Peter Horand an und übernahm die kurze Dokumentation unserer Telefonate. Zuvor schon hatte ich erstmals Ralf Grothe bei uns aktenkundig gemacht.
Anschließend war Feierabend, und ich fuhr nach Hause, wo leider niemand auf mich wartete.
Kapitel 6
Heute war Samstag, der Tag nach meinem unerfreulichen Freitagsnotdienst.
Gleich frühmorgens machte ich mich auf den Weg zur Markthalle in der Innenstadt von Hannover. Meine Beweglichkeit war durch die schmerzhaften Prellungen, die ich gestern erlitten hatte, etwas beeinträchtigt. Trotzdem genoss ich ein Prosecco-Frühstück an einem italienischen Stand vor der breiten Fensterfront mit Blick auf den riesigen weihnachtlich geschmückten Tannenbaum neben dem Alten Rathaus, nahm bewusst das lebendige Treiben in den Gängen der Markthalle auf. Hier tobte das Leben, und ich hatte keinerlei dienstliche Verpflichtungen.
Vom Zeitschriftenstand hatte ich mir die heutige Ausgabe der täglich erscheinenden Boulevardzeitung TAGESBLATT Hannover besorgt. Auf dem Titel prangte als Überschrift: „Bestsellerautor P. R. in seinem Haus überfallen“. Daneben war ein Foto von ihm mit Mantel und Sakko vor dem Polizeikommissariat Misburg. Ein kleines Foto zeigte verpixelt einen knienden Mann, umringt von Polizisten – Ralf Grothe, nachdem er mir einen tückischen Tritt versetzt hatte. Im Innenteil der Zeitung ging der Artikel weiter. Dort war ein Archivfoto von Philipps Haus in Anderten zu sehen.
Jetzt fällt mir ein, wer der Typ in Dunkelblau vor dem Kommissariat war. Kleber, ein Reporter, der fürs TAGESBLATT arbeitet.
Ich hatte vor zwei Jahren kurz mit Kleber zu tun gehabt. Er wollte damals Informationen von mir zu einem Notfalleinsatz. Ich hatte ihm gesagt, dass er solche Informationen grundsätzlich nicht von mir bekommen würde.
Philipps Besuch der Polizeiwache war vorher mit Kleber genau abgesprochen.
Bestimmt hatte sich der Reporter von Fotos vor dem Kommissariat mehr versprochen, als wenn diese zum wiederholten Mal Philipp vor seinem Haus zeigten (wo der Überfall eigentlich stattgefunden hatte). Denn solche Fotos waren in den letzten Monaten schon mehrfach in den Zeitungen erschienen.
In dem Artikel wurde Philipp zitiert, dass der Angriff auf ihn seinem neuesten Roman galt, in welchem er Vorurteile gegen Homosexualität mit satirischen Stilmitteln der Lächerlichkeit preisgab. „Der Vorfall zeigt mir die Brisanz des Themas, über das wir ins Gespräch kommen sollten. Gerne kontrovers, aber nicht mit Gewalt.“ Es wurde berichtet, dass der Angreifer zusätzlich einen Arzt des Sozialpsychiatrischen Dienstes verletzt habe und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden sei. Die Namen von Grothe oder mir wurden nicht genannt.
So wie ich die Sache sehe, hat Philipp den gestrigen Vorfall gut als Publicity für sein aktuelles Buch genutzt. Und zwar ganz gezielt und durchdacht. Ein Fuchs war er schon immer, der seinem Kürzel P. R. alle Ehre macht.
Kapitel 7
25 Tage vor der Ermordung von P. R.
„Ich find es total lieb von dir, dass du Oma helfen willst“, sagte Luisa und streichelte Kilians Wange. Er hatte den grauen Renault Twingo direkt vor das Haus von Luisas Oma gefahren und den Motor abgestellt.
Der 21-jährige Kilian wandte Luisa den Kopf zu: „Ist doch kein Ding. Für die Oma meiner Lissi hab ich immer Zeit.“
Dabei grinste er seine drei Jahre jüngere Freundin an. Sie schnallte sich ab, nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
Seit letztem Herbst waren Kilian und Luisa befreundet. Sie ging noch zur Schule, machte im nächsten Jahr Abitur. Er befand sich im zweiten Ausbildungsjahr zum Mediengestalter Bild und Ton bei h1, dem Bürgerfernsehen für die Region Hannover.
Kilian war ein schlanker, sportlicher Typ von durchschnittlicher Größe mit kurzen braunen Haaren. Luisa dagegen war merklich kleiner, zierlich, trug einen Long Bob in Dunkelbond.
Es war Samstag, der 18. Februar, nachmittags. Das Haus von Luisas Oma stand in einer Reihe mit weiteren Einfamilienhäusern. Alle mit rotem Satteldach, kleinem Garten und mittelhohem Holzzaun.
Luisa klingelte. Es dauerte eine Weile, bis Frau Lübke, eine weißhaarige Frau Mitte achtzig, die Tür öffnete.
Luisa nahm ihre Oma in den Arm: „Ich habe Kilian mitgebracht. Er wird alles wieder in Ordnung bringen.“
„Ich krieg das hin“, bestätigte er. „Mit den Händen bin ich äußerst geschickt.“
Und Silikon-Spray hatte er auch mitgebracht.
Frau Lübke freute sich über die Besucher, war aber etwas aufgeregt, vermutlich weil sie nicht oft Besuch bekam. Sie bestand darauf, ihren beiden Gästen Kaffee und Kuchen anzubieten. Wobei der Kuchen ein alter Fertigkuchen von Bahlsen war.
Seit dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren wohnte Frau Lübke allein in dem Haus. Sie wollte keine Putzfrau, keinen Pflegedienst und kein Essen auf Rädern. Und sie wollte auf keinen Fall in ein Altersheim. Ihren Sohn und ihre Schwiegertochter bat sie selten um Hilfe („die haben selbst genug zu tun“). Aber mit manchen Dingen des Alltags, wie Instandhaltung des Hauses und Gartenpflege, war sie zuletzt überfordert. „Manchmal ist es schon grenzwertig, wie Oma lebt“, hatte Luisa einmal zu Kilian gesagt.
Die aktuellen Probleme von Frau Lübke waren für Kilian Kleinigkeiten. Der Haustürschlüssel ging schwer ins Schloss, im Bad mussten zwei Glühbirnen der Deckenlampe ausgewechselt werden, und der Receiver fürs Antennenfernsehen war verstellt.
Scheiße, hab echt ein schlechtes Gewissen bei dem, was ich jetzt vorhabe, schoss Kilian durch den Kopf. Und Lissi und die Oma ahnen nicht das Geringste.
Luisa hatte gesehen, dass in der Spüle noch Geschirr stand. Der Geschirrspüler war defekt. Den bekam Kilian nicht wieder hin. Seine Freundin half ihrer Oma unten in der Küche beim Abwasch, während er mit Glühbirnen, Klapptritt und Schraubendreher bewaffnet ins erste Stockwerk ging, um sich der Deckenlampe im Bad zu widmen. In seiner Hosentasche versteckte er ein Paar Latexhandschuhe.






