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Zunehmend machten sich Gedächtnisausfälle bei der alten Dame bemerkbar. Er wusste von Luisa, dass Frau Lübke bei ihrer Bank immer persönlich tausend Euro auf einmal abhob, das Geld in der Handtasche nach Hause trug und dort in einer Kassette deponierte, versteckt zwischen der Wäsche im Schlafzimmerschrank. Dahinter steckte die Idee, stets ausreichend Bargeld im Haus zu haben, da Frau Lübke überhaupt nicht mehr richtig einschätzen konnte, was ein Einkauf sie kosten würde. Es war wohl auch schon vorgekommen, dass sie sich erneut Geld von der Bank geholt hatte, obwohl das Bargeld zu Hause bei Weitem noch nicht aufgebraucht war. Oder dass sie größere Summen Geld verlegt oder verloren hatte. Allerdings wollte sie sich von ihrem Sohn keinesfalls in ihre Finanzen hineinreden lassen, obwohl sie den Überblick völlig verloren hatte.
Die Geldkassette, ich hoffe, ich finde sie problemlos.
Kilian streifte sich die Handschuhe über (falls doch später die Polizei ins Spiel kam) und öffnete vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer, das neben dem Bad lag. Luisa und ihre Oma unterhielten sich in der Küche.
Die Frau ist alt und hat mehr Geld, als sie braucht, rechtfertigte er sich in Gedanken. Das Erbe ihres Mannes und die monatlichen Einnahmen ihrer vermieteten Wohnungen. Ich brauch es umso mehr. Und sie merkt nicht, wenn was fehlt.
Er betrat das Schlafzimmer, in dem noch immer ein Doppelbett stand. Zum Fußende eine Schrankwand im Stil der Siebzigerjahre.
Hier sollte ich eigentlich fündig werden.
Er öffnete die Schranktüren.
Wo ist die verdammte Geldkassette?!
Auf keinen Fall durfte er im Schrank Unordnung verursachen, sonst schöpfte die Alte sofort Verdacht.
Dauert länger als gedacht!
Von unten rief Luisa: „Hast du alles, Kilian, kommst du klar?“
Sie darf auf keinen Fall raufkommen!
„Alles in Ordnung!“, antwortete er. „Keine Probleme!“
Er musste sich beeilen. Die Deckenlampe im Bad wartete noch auf ihn. Im letzten Teil der Schrankwand entdeckte er die Geldkassette hinter mehreren Stapeln Handtüchern. Eine simple graue Metallkassette mit Deckelgriff, wie man sie in jedem Baumarkt fand – und der Schlüssel steckte wie erwartet.
In der Kassette waren ungefähr 1300 Euro. Davon schob er sich achthundert Euro unter seinen Pullover. Danach brachte er alles wieder in die alte Ordnung.
Die beiden Frauen waren weiterhin in der Küche in ein Gespräch vertieft, wobei Luisa etwas lauter sprach, als sie es sonst tat.
Das Auswechseln der Glühbirnen im Bad ging zum Glück ruckzuck.
Zu Luisa und ihrer Oma sagte er später allerdings: „Hat etwas länger gedauert, weil eine von diesen alten Schrauben an der Lampe nicht richtig mitgespielt hat. Aber ich hab alles erledigt.“
Luisa umarmte und küsste ihn: „Hab ich nicht einen tollen Freund, Oma?!“
Kapitel 8
24 Tage vor der Ermordung von P. R.
Paul war letzten Monat zwanzig geworden. Ein runder Geburtstag, der ihn in eine neue Lebensphase führen sollte. Aber an seiner Lebenssituation und der seiner Familie hatte sich nichts Wesentliches geändert. Nach außen stellte seine Familie etwas Besonderes dar, insbesondere seine Eltern und Noah, sein vier Jahre älterer Bruder. Hinter den Kulissen hatte jeder seine Eigenheiten, die Paul an manchen Tagen zu schaffen machten.
Sein Vater Bodo Stern war ein bekannter Unternehmer, dem eine niedersachsenweite Spielhallen-Kette mit Namen „Glücks-Stern“ gehörte. Privat sammelte er Kinderspielzeug und Modellautos, konnte in seiner (wenigen) Freizeit komplett in die Welt seiner Modelleisenbahn eintauchen.
Ramona Stern, Pauls Mutter, arbeitete Teilzeit als Rechtsanwältin in einer angesehenen hannoverschen Anwaltskanzlei. Seit Jahren hatte sie eine Art „Handy-Phobie“. Sie besaß zwar ein Mobiltelefon, trug es jedoch meistens nur ausgeschaltet mit sich herum. Lediglich im Notfall, zu bestimmten dienstlichen Anlässen oder wenn sie jemanden konkret anrufen wollte, schaltete sie es ein. Ramona lehnte es konsequent ab, immer und überall erreichbar zu sein. Und ihre Umgebung hatte diese konsequente Haltung hinnehmen müssen, was das Leben von Pauls Mutter bis zu einem gewissen Grad entschleunigte.
Noah Stern studierte inzwischen in Göttingen im achten Semester Medizin. Er war ein Chamäleon, das sich stets perfekt den Anforderungen seiner Umgebung anpasste. Besonders seinem Vater hatte er es stets recht machen können, was Paul nie richtig gelungen war.
Paul sah sich selbst als das am weitesten außenstehende Familienmitglied. Er machte verrückte Sachen, an die er sich später nicht erinnern konnte. Ein Ventil, damit umzugehen, waren seine Mystery-Geschichten. Er überlegte, demnächst an einer weiteren Story zu schreiben, seiner dritten.
In der Medizinischen Hochschule Hannover absolvierte er ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr. Dort waren die dissoziativen Zustände bisher nicht aufgetreten. Insofern wussten die Mitarbeiter in der MHH nichts von seinen psychischen Problemen.
Harmonie in der Familie, das hatte für Paul den größten Wert. Und zwar nicht nur für ihn. Paul wusste, dass Harmonie für seine Eltern und Noah den gleichen Stellenwert hatte.
Seine Mutter hatte öfters für ihn gelogen, wenn Paul als Junge etwas angestellt hatte, damit sein Vater nichts davon erfuhr und heftiger Streit ausblieb. Paul wiederum hatte Geheimnisse für seine Mutter bewahrt, um die harmonische Beziehung seiner Eltern nicht zu gefährden.
Seit fünfzehn Jahren lebte er mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem großzügigen Walmdachbungalow mit Einliegerwohnung im hannoverschen Stadtteil Isernhagen-Süd. Wobei sich die Zwei-Zimmer-Einliegerwohnung in einem separaten Teil des Bungalows befand, der vor zehn Jahren neu angebaut worden war. Durch eine Verbindungstür konnte man von einem Teil des Bungalows in den anderen gelangen, dabei verfügte jeder Gebäudeteil über einen eigenen Eingang. In der Einliegerwohnung hatte Oma Ilse, Vaters Mutter, gewohnt. Sie war von ihrem Mann getrennt und litt zunehmend an einer Sehbehinderung. Vor zwei Jahren musste sie wegen einer schweren Demenzerkrankung in ein Pflegeheim umziehen. Danach bekamen Paul und Noah die Zimmer in der Einliegerwohnung, wobei Noah nur noch höchst selten in Hannover war und die meiste Zeit in Göttingen verbrachte, weil er auch außerhalb der Lehrveranstaltungen in einem Göttinger Krankenhaus arbeitete. In Noahs altem Kinderzimmer hatte Vater jetzt dauerhaft seine Modelleisenbahn aufgebaut. In Pauls Kinderzimmer standen Mutters Fitnessgeräte, wie Crosstrainer und Laufband.
Der heutige Sonntag war ein besonderer Tag. Bodo Stern hatte Geburtstag, seinen neunundvierzigsten. Am Nachmittag würde im Haus ein kleiner Empfang für einige wichtige Geschäftspartner, Freunde und Bekannte stattfinden, bei dem sich ein Catering-Service um die Bewirtung kümmerte.
Es war kurz nach acht Uhr morgens. Paul spürte, wie sich das Kribbeln auf seinen ganzen Körper ausdehnte. In seinem Zimmer ging er zum wiederholten Mal von einer Seite zur anderen. Es war so wichtig, dass seinem Vater das Geschenk gefiel. In der Vergangenheit hatte Paul mit seinen Geschenken ein paarmal danebengelegen.
Er muss sich freuen. Diesmal hab ich mir mehr Mühe gegeben.
Übers Internet hatte er ein altes Modellauto der Fima Corgi Toys gekauft. In einem gut erhaltenen Zustand, in dem dieses Modellauto nur noch selten zu bekommen war. Und sogar mit Originalverpackung, die für Sammler so wichtig war.
Papa soll einen schönen Tag verbringen, mit uns, mit mir.
Das gemeinsame Geburtstagsfrühstück mit der Familie im Esszimmerbereich war in knapp zwei Stunden. Pauls Aufgabe bestand darin, die vorbestellten Brötchen vom Bäcker zu holen. Ramona würde den Tisch feierlich decken – und sich quasi um den Rest kümmern. Noah war noch nicht da, er kam mit dem Auto aus Göttingen und würde rechtzeitig am Frühstückstisch sitzen.
Die Übergabe der Geschenke war gegen zehn. Die Spannung war für Paul kaum zu ertragen.
Ich muss eine Spontanprüfung machen, damit er sich über mein Geschenk freut.
Bei wichtigen Vorhaben im Alltag unterzog sich Paul häufig selbst auferlegten Prüfungen. Sein Psychotherapeut hatte sein Verhalten magisches Denken genannt. Das Ganze funktionierte so, dass Paul festgelegte kleine Handlungen ausführte oder sich gedanklich Aufgaben stellte, die es jeweils erfolgreich zu bewältigen galt. Wenn ihm das gelang, erhöhte das deutlich die Chancen, dass sein geplantes Vorhaben klappte.
Er nahm einen Tischtennisschläger und den dazugehörigen Ball in die Hand. Die Aufgabe war klar. Er musste den Ball wechselseitig mit Vor- und Rückhand nach oben in die Luft befördern. Und das zwanzig Mal, ohne dass der Ball einmal den Boden berühren durfte.
Los geht’s!
Früher hatte er oft mit seiner Mutter Tischtennis gespielt, aber das war schon längere Zeit her. Die Spontanprüfungen durften nicht zu einfach sein, um Wirkungskraft zu haben.
… fünfzehn, sechzehn, siebzehn … ja, es klappt!
Doch der Hochmut, vor dem Erfolg zu jubeln, brach ihm das Genick. Beim achtzehnten Mal gab er dem Tischtennisball mit der Rückhand zu viel Schwung, sodass er ihn mit der Vorhand nicht mehr erwischen konnte. Der Ball fiel auf den Boden. Aus!
Noch eine letzte Chance. Sonst hab ich’s wieder verkackt.
Jetzt hatte er nichts mehr zu verlieren. Bei besonders wichtigen Vorhaben war es möglich, eine zweite Chance zu erhalten. Er durfte sich der gleichen Aufgabe ein weiteres Mal stellen. Absolvierte er den zweiten Durchgang mit Erfolg, war der erste Durchgang neutralisiert. In diesem Fall trat die Regel in Kraft, dass Paul noch einen dritten (alles entscheidenden) Versuch zur Verfügung hatte. Danach war keine Wiederholung zur Durchsetzung eines aktuellen Anliegens erlaubt. Das Gesetz der Spontanprüfungen hatte sich Paul nach und nach selbst erarbeitet.
Er konzentrierte sich.
Diesmal kein vorzeitiger Jubel.
Erneut begann er mit der Übung, deren Ausgang für ihn große Bedeutung hatte.
… neunzehn, zwanzig!
Er atmete erleichtert durch.
Der sichere Misserfolg war damit neutralisiert. Paul war wieder auf dem alten Stand wie vor der ersten Spontanprüfung.
Er entschied sich dafür, auf den dritten Durchgang zu verzichten.
*
Der Ablauf des Geburtstagsfrühstücks folgte einem gewissen Ritual. Auf dem Sideboard im Wohnzimmer hatte Bodo Stern die Geschenke von der Familie noch im verpackten Zustand abgelegt. Erst wurde mit den Gästen im Esszimmer gefrühstückt, dann folgte das Auspacken der Geschenke.
Ramonas Bruder Christian Carben war gekommen, mit dem Bodo vor knapp dreißig Jahren zusammen Abitur gemacht hatte. Christian hatte seine Frau Birgit und ihre Töchter, vierzehn und zwölf Jahre, mitgebracht. Mit Ramona, Noah und Paul waren sie heute Morgen zu acht.
Jetzt kam für Paul der Höhepunkt der Geburtstagsfeier. Sein Geschenk. Alle Anwesenden waren vom Essbereich ins Wohnzimmer gegangen.
Bodo packte zunächst die Geschenke von seiner Frau und seinem älteren Sohn aus. Paul stand etwas abseits. Was genau die beiden seinem Vater gekauft hatten, registrierte er kaum. Bodo schien sich zu freuen, nahm Ramona und Noah herzlich in den Arm.
Jetzt folgte Pauls Geschenk. Bodo packte es vorsichtig aus, hielt es lächelnd in der Hand.
Ich habe das Richtige ausgesucht, ging Paul durch den Kopf.
Dann zog Bodo das Modellauto aus der Schachtel, betrachtete es genau. Das Lächeln verschwand vollständig aus seinem Gesicht, stattdessen zog Bodo die Stirn kraus.
„Hast du das Modell doch schon?“, fragte Paul zögerlich nach. „Es ist alles original aus den Sechzigern, Auto und Schachtel. Ich dachte, es fehlt in deiner Sammlung.“
„Ja, aber …“, Bodo zögerte etwas, „leider ist es kein Original, sondern eine Replik. Und die Schachtel ist eine Repro-Box. Ich hoffe, du hast nicht allzu viel Geld dafür ausgegeben.“
Paul stand wie erstarrt. Der erste vergeigte Durchgang seiner Spontanprüfung hätte ihn warnen sollen.
Wieder alles falsch gemacht. Auf einen verkackten Schwindler im Internet reingefallen.
Die folgenden Ereignisse nahm Paul nur wie durch eine schallgedämpfte Milchglasscheibe wahr. Sein Onkel sagte etwas zu seinem Vater, wovon Paul in seiner Verfassung nur einen Satzfetzen mitbekam: „… könntest Pauls Bemühungen mehr wertschätzen.“
Christian ergriff offenbar Partei für Paul. Bodos Entgegnung missfiel Christian, Paul sah verschwommen die Mimik seines Onkels.
Ramona stellte sich schnell zwischen ihren Mann und ihren Bruder, lächelte beide an.
Plötzlich war Paul wieder auf Sendung.
„Vielleicht doch keine so gute Idee, wenn ich mich an der Vorbereitungsgruppe für unser Abi-Treffen beteilige“, sagte Christian zu seiner Schwester.
„Doch, nimm bitte teil“, antwortete Ramona. „Ich freu mich, wenn du da bist. Und insbesondere Paul freut sich auch immer auf deinen Besuch.“
Paul hatte mitbekommen, dass sein Vater eine Vorbereitungsgruppe zur Feier des 30-jährigen Bestehens des Abiturs ins Leben gerufen hatte. Die Gruppe sollte sich erstmals in sechs Tagen, kommenden Samstag, im Bungalow der Sterns treffen. Paul hatte das Gefühl, dass die ehemaligen Schulkameraden seines Vaters Unglück in die Familie tragen würden. Er wollte die Männer auf jeden Fall im Blick behalten.
Kapitel 9
18 Tage vor der Ermordung von P. R.
Kurz vor sechzehn Uhr klingelte es. Besuch für Bodo Stern. Paul hatte in der Einliegerwohnung die Verbindungstür zum Wohnungsbereich seiner Eltern offenstehen lassen. Heute ab siebzehn Uhr sollte das Treffen der Vorbereitungsgruppe für die Abifeier stattfinden.
Bodo öffnete dem Besucher die Tür. Es war keiner der alten Schulkameraden, sondern Ulrich Ammoneit, Inhaber eines Fachbetriebs für Garten- und Landschaftsbau aus Neustadt. Ammoneits Unternehmen war in den nächsten Wochen mit der Umgestaltung des großen Gartens der Familie Stern beschäftigt. Pauls Eltern kannten Ammoneit schon einige Jahre und hatten ihn regelmäßig mit der Pflege ihres Gartens beauftragt. Anfangs ging es nur um den Garten des Ferienhauses, später kam zusätzlich der Garten um den Bungalow dazu.
„Herr Stern, zum Geburtstag nachträglich alles Gute“, sagte der mittelgroße, etwas gedrungen wirkende Gärtner, Anfang fünfzig, und schüttelte Bodo die Hand. „Ich war gerade zufällig in der Nähe bei einem Bekannten und wollte Ihnen kurz persönlich gratulieren.“
Paul hatte mitbekommen, wer gekommen war.
Meinem Vater persönlich gratulieren, sechs Tage nach dem Geburtstag und dann noch an einem Samstag?! Das ist doch hergeholt. Aber ich weiß, worum es Ammoneit wirklich geht. Er will meine Mutter sehen. Möglichst oft.
Der Gärtner war verwitwet und interessiert an Pauls Mutter. Zwar hatte Paul nie eine eindeutige Äußerung Ammoneits in dieser Richtung gehört, aber Paul wusste einfach, dass es so war. An den Gartenarbeiten auf dem Grundstück der Sterns beteiligte sich Ammoneit meistens persönlich. Ramona war nur halbtags in der Kanzlei und nachmittags meistens zu Hause.
„Und dann dachte ich, wir könnten noch eine Kleinigkeit wegen der Gartenumgestaltung absprechen, bevor’s losgeht“, schob Ammoneit als Grund für seinen Spontanbesuch nach. „Dafür müssten wir aber gemeinsam einen Blick in Ihren Garten werfen.“
Alles Bullshit!, dachte Paul.
Aber der Plan von Ammoneit ging auf. Ramona kam dazu, und Paul merkte, dass der Gärtner innerlich strahlte.
Ammoneit hatte gegenüber seiner Mutter mehrfach durchblicken lassen, dass er in seiner Freizeit gerne lese und das politische Geschehen verfolge.
Vermutlich gelogen!
Trotzdem blieb Paul gelassen, denn er hatte letztes Jahr aufgeschnappt, was seine Mutter zu ihrer besten Freundin gesagt hatte: „Ammoneit ist ja nett, aber ich könnte nie was mit ihm anfangen. Er erinnert mich total an meinen Vater.“
Gegenüber Ammoneits Begehren war Ramona immun, da war sich Paul sicher.
Bei den beiden Besuchern, die heute noch erwartet wurden, konnte das ganz anders aussehen.
*
Bodo Stern geleitete Ulrich Ammoneit bis zur Grundstücksgrenze und verabschiedete sich freundlich von ihm.
Natürlich will Ammoneit mit seinem bemühten Getue erreichen, dass er weiterhin Aufträge von mir bekommt, ging Bodo durch den Kopf. Aber das ist okay. Ich bin nicht anders, spiele eben nur auf einer viel höheren Ebene.
Er kehrte ins Haus zurück und ging in die Küche, wo Romana noch einmal kontrollierte, ob im Kühlschrank genug Getränke waren.
Die tollste Frau, die ich kenne. Wirklich, du bist das Beste, was mir im Leben passiert ist, dachte er. Und gleich danach: Komisch, dass mir gerade jetzt diese Gedanken kommen, wo der Besuch der früheren Kumpels bevorsteht.
Der Impuls, Ramona in den Arm zu nehmen und ihr „Ich liebe dich“ zu sagen, war da, aber stattdessen äußerte er: „Mit den Getränken alles okay?“
„Natürlich“, antwortete Ramona mit einem Lächeln. „Du kannst dich auf mich verlassen.“
Nach Bodos Empfinden hatte sich Ramonas Aussehen in den letzten dreißig Jahren überhaupt nicht verändert. Mittellange, braune Haare, dunkle Augen, ein freundliches Gesicht mit einem gewinnenden Lächeln. Die Attraktivität, die Ramona ausstrahlte, hatte nichts mit den Proportionen ihres Körpers zu tun.
Ihre Figur ist eben nicht die einer kurvigen Sanduhr. Sie ist normal, sportlich. Es ist ihre Art, die einfach umwerfend ist. Und ich sag es ihr einfach zu selten.
Bodos Gedanken wanderten weiter. Vor zehn Jahren hatte er ebenfalls eine kleine Gruppe ins Leben gerufen, um die 20-Jahr-Feier „seines“ Abiturs zu organisieren. Die Ehemaligentreffen fanden alle zehn Jahre statt. Neben Bodo waren sein Schwager Christian und zwei ehemalige Mitschülerinnen in dieser Vorbereitungsgruppe.
Eine der beiden Frauen war inzwischen nach Würzburg gezogen, die andere bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Die damalige Feier war schlapp. Weil sich die beiden Frauen mit ihren Vorstellungen durchsetzen konnten.
Aus dem Grund hatte Bodo vor Kurzem Kontakt zu Philipp Rathing aufgenommen. Über dessen Romane stand häufig etwas in den Zeitungen. Bodo hatte nie eins der Bücher gelesen, aber sie wurden als ideenreich und spannend beschrieben. Der Autor passte gut ins Team.
Dann hatte noch Volker Schmidt seine Mitarbeit angeboten, der davon ausgegangen war, dass Bodo wieder die Organisation der nächsten Jubiläumsfeier übernahm. Bodo wusste, dass Volker während der Schulzeit einige Wochen mit Ramona liiert gewesen war. Ramona ging auf dieselbe Schule, war aber zwei Jahrgangsstufen unter ihnen. Allerdings hielt sie sich damals häufig in der Nähe ihres Bruders Christian auf, wodurch sie zu einigen seiner Mitschüler engen Kontakt bekam, wie zu Bodo, den sie schließlich geheiratet hatte.
*
Philipp Rathing steuerte seinen BMW durch das Wohngebiet in Isernhagen-Süd, in dem sich große Gärten mit freistehenden Einfamilienhäusern und Villen gut situierter Besitzer aneinanderreihten. An der Straße hatte er wenig Menschen zu sehen bekommen.
Isernhagen-Süd war der nördlichste Stadtteil von Hannover, angeblich mit ziemlich hoher Porsche-Dichte, dabei ruhig gelegen, umgeben von Naturschutzgebieten.
Gegenüber von Bodos weißem Bungalow parkte er seinen Wagen. Er hatte das Haus der Sterns noch nie betreten. Um das große Grundstück zog sich ein dekorativer Schmiedezaun, hinter dem zu den Nachbargrundstücken als Sichtschutz eine hohe Hecke gepflanzt war. Zur Straße war der Blick in den Garten relativ offen. Ein freischwebendes Schiebetor versperrte die Zufahrt aufs Grundstück. Daneben war eine Tür im Zaun, die sich problemlos öffnen ließ. Was Haus und Garten anging, hatte Bodo eindeutig mehr zu bieten als der Erfolgsautor. Philipp durchquerte den vorderen Bereich des Gartens und klingelte an der Haustür.
Bodo öffnete: „Hallo großer Autor, nur hereinspaziert!“
„Hallo, Bodo, alter Zocker-König!“
Mit schnellem Blick taxierte Philipp den damaligen Kumpel aus der Schulzeit. Wie hatte sich der alte Konkurrent in den letzten zehn Jahren gehalten? Die Bilder in Zeitungen waren manchmal nur Archivfotos. Bodo war groß und schlank, hatte dunkle, volle Haare, die überall von grauen Strähnen durchzogen wurden.
Ist stattlich, macht was her!, musste Philipp zugestehen. Die beiden Männer umarmten sich zur Begrüßung. Bodo bat seinen ehemaligen Schulfreund herein.
Die Erwartungen, die der Bungalow von außen weckte, erfüllte er drinnen allemal. Das große Wohnzimmer war mit hochwertigem schwarzem Naturstein ausgelegt, hatte einen offenen Kamin und eine breite Fensterfront mit Ausblick in den hinteren Teil des Gartens. Den Kontrast zum schwarzen Fußboden bildeten die Schrankwand, das Sideboard, der Tisch und die Sitzgarnitur aus hellfarbenem Holz. Das Wohnzimmer ging direkt in den Essbereich über.
Volker Schmidt war schon da und hatte es sich auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht. Er wirkte leicht behäbig, als er Philipp begrüßte.
Na ja, sportlich war Volker noch nie gewesen.
Die Umarmung zwischen den beiden Männern war nur angedeutet. Viel hatten sie früher nicht miteinander zu tun gehabt.
Volker war ein hagerer Typ. Seine braunen Haare wirkten voller, als Philipp erwartet hatte. Fast hatte er den Eindruck, dass Volker eine Perücke trug.
Ramona war der Lichtblick der Runde. Leger gekleidet mit Bluse und Jeans, betrat sie das Wohnzimmer und verbreitete sofort gute Laune. Ihren schwäbischen Akzent von damals hatte sie immer noch nicht abgelegt. Wie früher hatte sie ein paar lockere Sprüche auf Lager und brachte Schwung in die Männerrunde der Endvierziger.
Zu der auch Christian Carben gehörte, der etwas verspätet dazustieß. Christian war ungefähr so groß wie Bodo, aber nicht mehr so schlank wie dieser. Im Hannover-Teil der Tageszeitung erschienen regelmäßig Artikel über Christian. Er arbeitete im Fachbereich Jugend der Region Hannover, wo er eine koordinierende Funktion ausübte. Der Öffentlichkeit bekannt war er hauptsächlich als Fraktionsvorsitzender der Umweltschutz-Partei im Rat der Stadt Hannover. Der ehrenamtliche Politiker wurde häufiger mit markanten Aussagen in der Lokalpresse zitiert. Mehrfach hatte er sich dafür eingesetzt, der Zunahme von Spielhallen entgegenzuwirken und bereits bestehende Spielhallen wieder zu schließen. Die Kontroverse mit seinem Schwager war vorprogrammiert.
Erstaunlich, dass die beiden Kontrahenten hier in Bodos Wohnzimmer zusammensitzen und gemeinsam eine Jubiläumsfeier organisieren wollen.
Allerdings – die Sitzordnung sagte alles. Neben Bodo auf der Couch saß Volker, der als Erster gekommen war. Im Halbkreis um den niedrigen Tisch standen drei Sessel. Direkt gegenüber von Bodo hatte sich Christian platziert – in der klassischen Position des Angreifers. Auf dem Sessel zwischen ihnen nahm wiederholt Ramona Platz. Ihr gegenüber saß Philipp.
Natürlich bemerkte Philipp eine Spannung zwischen dem Spielhallen-Unternehmer und dem Lokalpolitiker. Beim Verteilen von kleinen verbalen Seitenhieben nahmen sich beide nichts. Aber insgesamt wurde eine (offenbar zuvor vereinbarte) Waffenruhe eingehalten. Was sicherlich auch an Ramona lag, die nicht nur die Gäste mit Softdrinks und Schnittchen versorgte, sondern gleichzeitig das ausgleichende Element zwischen ihrem Mann und ihrem Bruder war.
Sie weiß, wie sie ihre Männer zu nehmen hat.
Ehe sich die Männerrunde überhaupt der Organisation ihrer Jubiläumsfeier zuwendete, beschäftigte sie sich ausgiebig mit sich selbst: Was bist du geworden? Was hast du privat und beruflich erreicht? Was sind deine nächsten Projekte?
Philipp präsentierte sich als Bestsellerautor, der sich in seinen Büchern für brisante gesellschaftliche Themen engagierte. Natürlich ging es bei ihm und den anderen in der Runde darum, unter dem Mäntelchen der bescheidenen Selbstverständlichkeit Anerkennung und Bewunderung zu erheischen. Die Darstellung seines momentanen Privatlebens fiel kurz aus. Momentan sei er ungebunden und damit offen für Neues.
Bodo betonte, dass er nicht nur der erfolgreiche Unternehmer wäre, sondern gleichzeitig soziale Projekte finanziell unterstützte. Zusätzlich versuchte er mit seiner glücklichen Ehe und dem harmonischen Zusammenleben mit seinen Kindern zu punkten.






