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Ein Familienleben wie griechischer Samos, dachte Philipp spontan, aber ich mag’s eher herb als zuckersüß.
Volker war ledig, bekleidete eine gute Position bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft in Hannover. Er berichtete über zahlreiche Reisen in exotische Länder, die ihm viele bewegende Einblicke verschafft hätten. Kinder oder Geschwister hatte er nicht. Seine Eltern waren relativ jung an Herzinfarkt beziehungsweise Krebs verstorben.
Ist schon tragisch mit den Eltern, aber ich kann da irgendwie nicht mitfühlen. Volker ist ein Langweiler.
Christian zählte wichtige Projekte seiner Abteilung im Jugendamt auf, wechselte dann in die Rolle des Politikers und umriss sein Engagement für sozial Benachteiligte, Umweltschutz oder Familien. Sein Auto war natürlich ein Elektromobil. Den Bereich Glücksspielsucht und Spielhallen ließ er in dieser Runde unerwähnt. Dafür ging er noch auf seine Reise als Ratsmitglied mit dem hannoverschen Oberbürgermeister nach Hiroshima ein.
Als Christian soziale Brennpunktthemen zur Sprache brachte, verwies Philipp auf „Hannover sehen und lieben“. Die tatsächliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben sei ihm ein aktuelles Anliegen.
Mehrfach am Abend erschien Paul im Wohnzimmer. Er war groß, schlank, trug seine kurzen braunen Haare mit einem Seitenscheitel. Er hielt sich im Hintergrund, lehnte an der Wand oder am Türrahmen.
Der sieht Ramona sehr ähnlich. Ein Mama-Kind.
Philipp hatte den Eindruck, dass der junge Mann die Gäste seiner Eltern sehr genau beobachtete. Insgesamt war er ein schweigsamer Typ.
„Vor zehn Jahren konnten wir uns auf der Feier zwar lang und breit miteinander unterhalten, aber sonst ist nichts passiert“, lenkte Bodo die Runde auf den eigentlichen Grund ihres heutigen Treffens. „Ich möchte, dass wir bei der 30-Jahr-Feier einen attraktiveren Ort finden, wo das Ganze stattfindet. Und insbesondere geht es mir darum, dass wir ein interessantes Programm auf die Beine stellen.“
„Beim Thema Programm bin ich etwas skeptisch“, äußerte Volker. „Bei der Feier hat die Kommunikation untereinander Vorrang. Wir müssen uns nicht als Veranstalter mit einer Show profilieren.“
Philipp dagegen begrüßte Bodos Vorschlag. Am Ende stimmten auch Christian und Volker zu.
Ramona war die Einzige in der Runde, die Alkohol trank. Mehrere Glas Weißwein an diesem Abend, wie Philipp registrierte.
Die letzte Stunde war sie von dem Sessel Philipp gegenüber nicht mehr aufgestanden. Sie schaute ihn immer wieder lächelnd an, strich dabei ihre Haare zur Seite.
Philipp ließ sich vom Gespräch ablenken, konzentrierte sich mehr und mehr auf das, was Ramona tat. Ihre Finger streichelten scheinbar zufällig ihren rechten Oberschenkel. Als sie ihre Halskette richtete, berührte sie dabei kurz ihre Brüste.
Diese Körpersignale, nahm nur er sie wahr? Galten sie tatsächlich ihm?
Er blickte in die Runde. Seine ehemaligen Kumpel waren in ihr Gespräch vertieft. Bodo und die anderen bekamen offenbar nicht mit, was sich da anbahnte.
Mehrfach beugte Ramona den Oberkörper in seine Richtung.
Sie bietet mir ihre Brüste an, oder was?
Er lächelte zurück, nahm eine Sitzposition mit geöffneten Beinen ein und begann reflexartig seine Nasenspitze zu reiben.
Wie passt das zu der Bilderbuch-Ehe mit der braven Ehefrau?
Hinten im Essbereich stand Paul. Er goss sich Apfelsaft ins Glas und stellte es auf dem Esstisch ab. Er wirkte geistesabwesend.
Manchmal macht der den Eindruck, als wär er ein bisschen plemplem. Philipp war irritiert. Wieso streicht der immer wieder durchs Wohnzimmer? Für seine Eltern scheint das ja nichts Ungewöhnliches zu sein.
„Sag mal, Philipp, hörst du überhaupt zu?“ Das war Bodo.
Ertappt!
Philipp klinkte sich wieder ins Gespräch ein. Wie Ramona, die wie auf Kommando einen lustigen Spruch raushaute – und schlagartig die Ausstrahlung erotischer Signale einstellte.
Was läuft hier eigentlich?
Hatte sich Philipp eben alles nur eingebildet? War Ramonas Verhalten die Folge ihres Alkoholkonsums?
Die Gruppe legte fest, die 30-Jahr-Feier auf den kommenden September zu legen.
Der Abend endete mit der Verabredung eines Folgetermins in genau einem Monat. Alle waren damit einverstanden, sich wieder bei Bodo und Ramona in Isernhagen-Süd zu treffen.
Christian und Volker hatten den Bungalow als Erste verlassen. Bodo stand im Hauseingang und sah ihnen hinterher.
Als sich Philipp die Jacke im Flur anzog, um sich ebenfalls zu verabschieden, trat Ramona dicht an ihn heran: „Würdest du mir den Gefallen tun, als erfahrener Autor einige Seiten von Pauls erster Mystery-Geschichte zu lesen? Und ihm eine Rückmeldung geben, welches Potenzial darin steckt? Bisher gibt es seine Romane nur bei Amazon als E-Book, und sie haben wenig Zulauf.“
Ging es Ramona nur darum, ihn zu umgarnen, damit er sich leichter dazu breitschlagen ließ, die Geschichtchen ihres Sohnes zu lesen?
So wenig geistreich wie motiviert antwortete er: „Tut mir leid, ich besitze keinen E-Book-Reader.“
„Kein Problem, ich leih dir meinen“, war Ramonas Reaktion, die gar nicht abwartete, ob Philipp weitere Einwände hatte, sondern kurz abtauchte und gleich darauf mit einem Kindle in der Hand zurückkehrte.
Bodo hatte sich inzwischen zu Philipp und Ramona umgedreht.
„Philipp hat bestimmt was Besseres zu tun, als diesen Mystery-Kram zu lesen“, brummte er.
Das hast du gut erkannt, alter Junge. Bodo scheint auch nicht viel von den Schreibkünsten seines Sohnes zu halten.
Ramona ließ sich durch Bodos Einwand nicht von ihrem Vorhaben abhalten: „Wär echt nett von dir …“
Als sie von der Seite an Philipp herantrat, um ihm den E-Book-Reader zu zeigen, berührten sich kurz ihre Oberschenkel.
Das ist kein Zufall. Sie will was, und dieser Mystery-Quatsch ist nur ein Vorwand.
„Klar, mach ich gern. Ich lese da mal rein“, hörte sich Philipp sagen und wusste noch immer nicht, auf welchen Deal mit Ramona er sich einließ.
*
Für Paul war der Abend die Hölle.
Seine Befürchtungen im Vorfeld hatten sich mehr als bewahrheitet. Es zog ihn ins Wohnzimmer, um rechtzeitig zu erkennen, welche Gefahren auf die Familie zukamen. Manchmal hielt er es nicht mehr aus, und er musste sich in seine Einliegerwohnung zurückziehen.
Von dem hageren Kerl, Volker, wusste er, dass er früher mit Mutter befreundet gewesen war. Heute hatte er sich auf lächerliche Art herausgeputzt, um ihr zu gefallen. Mit einer Perücke, was Paul als äußerst peinlich empfand. Darüber hinaus hatte Volker nichts unternommen, um an Ramona heranzukommen.
Ganz anders Philipp, der arrogante Autor, der Pauls
Mutter angestarrt und sein Interesse an ihr durch eine entsprechende Körpersprache ausgedrückt hatte. Es waren diese Blicke und Gesten, die Paul schon von Ulrich Ammoneit kannte. Daher wusste Paul genau, auf welche Kleinigkeiten er achten musste. In den vergangenen Jahren hatte er ein ausgeprägtes Gespür dafür entwickelt. Ein Gespür, das war ihm klar, welches die Menschen in seiner Umgebung in dieser Intensität nicht hatten. Nach Pauls Einschätzung bekam auch sein Vater nicht mit, welche Signale bestimmte Typen von Männern immer wieder an Ramona sendeten. Und das war gut so. Mutter war in dieser Hinsicht schwach, und Vater würde es nicht ertragen, wenn er mitbekam, dass seine Frau mit einem anderen Mann schlief. Der Zusammenhalt der Familie war das Wichtigste. Paul zweifelte keine Sekunde daran, dass seine Mutter Vater liebte.
Jetzt machte sich dieser Schriftsteller bei ihnen breit. Paul kannte seine Mutter und ihre Reaktion auf Männer wie Philipp. Er wusste, wie es enden würde. Und es würde vielleicht über Wochen und Monate immer wieder passieren. Die letzten derartigen Ausrutscher lagen einige Zeit zurück. Paul hatte es damals lediglich gespürt, ohne zu wissen, welcher Kerl es mit Mutter trieb. Durch die Vorbereitungstreffen würden Ramona und Philipp im Kontakt bleiben. Das erhöhte zugleich die Gefahr, dass Bodo dieses Mal nicht verborgen blieb, dass seine Frau eine Affäre hatte.
Paul stand im Essbereich und blickte zu seiner Mutter und den vier Männern, die heute Abend zusammengekommen waren, um eine fröhliche Jubiläumsfeier zu organisieren.
Was die hier anstoßen, wird nicht in einer fröhlichen Feier enden.
Er merkte, wie sich seine Wahrnehmung mehrfach veränderte. Er sah und hörte jede Kleinigkeit. Wie in Ultra-HD und Dolby Digital. Dann veränderte sich die Größe der Menschen im Raum, sie schrumpften und waren kaum zu verstehen. Die Stimmen wurden dumpf und leise. Der Film, den er sah, wurde schwarz-weiß und fing an zu ruckeln. Ein bleiernes Gefühl in den Beinen, er musste sich kurz an der Tischkante abstützen.
Paul tauchte in eine Welt ein, von der er sich wünschte, dass keine Gefahr von ihr ausging. Aber sein Wunsch blieb unerfüllt. Philipp wurde zunehmend größer. In Zeitlupe konnte Paul studieren, wie der Schmierfink seine Nasenspitze rieb und dabei Ramona angaffte. Die Botschaft war klar.
Irgendwann schaltete sich das Programm ab.
Paul erwachte in seinem Zimmer. Er saß vorm schwarzen Monitor seines PCs und erinnerte sich nicht, wie er vom Essbereich seiner Eltern hierhergekommen war.
Als er durch die Verbindungstür den Flur seiner Eltern betrat, sah er, wie sich seine Eltern gerade von Philipp verabschiedeten. Bodo machte hinter dem Schriftsteller die Tür zu. Ramona hatte Paul im Flur bemerkt und strahlte ihn an: „Philipp will sich deinen ersten Mystery-Roman durchlesen, um dir wertvolle Hinweise zu geben. Dafür hab ich ihm meinen Kindle geliehen.“
Paul erschrak. Es entwickelte sich wie befürchtet. Philipp hatte Ramona eine Gefälligkeit angeboten, um sie dankbar zu stimmen. Er benutzte Pauls Geschichte, um sich an seine Mutter heranzumachen. Und wie ihr Gesichtsausdruck zeigte, fuhr sie voll darauf ab.
Es wurde ernst. Paul musste um jeden Preis die Bedrohung von der Familie abwenden.
Kapitel 10
12 Tage vor der Ermordung von P. R.
Heute war Freitag, den 3. März. Meteorologisch gesehen hatten wir bereits Frühling. Na ja, nach Frühling fühlte sich bei mir nichts an. Vor drei Monaten war Anna bei mir ausgezogen – und dabei war es geblieben.
Gestern hatte ich meine Ex-Frau Ulrike angerufen. Sie war inzwischen in ihre Geburtsstadt Frankfurt umgezogen und arbeitete dort in einer Filiale des Pharmakonzerns, für den sie schon in Hannover tätig gewesen war. Ihre Villa hier in Waldhausen hatte sie verkauft. Wegen der zahlreichen belastenden Erinnerungen, die sie damit verband. Ulrike und ich hatten am Telefon nett geplaudert. Wir kamen gut miteinander aus. Aber unsere gemeinsame Zeit war endgültig vorbei. Der Verkauf der Villa, in der wir viele schöne gemeinsame Jahre mit unserer Tochter Katharina verbracht hatten, machte das noch einmal deutlich. Am Telefon sprachen wir über Katharina, die momentan in Lüneburg Sozialpädagogik studierte. Unsere 24-jährige Tochter war schon ein Lichtblick, aber selten in Hannover.
Das Leben ging weiter, wie es so schön heißt. Ich traf mich mit Freunden, ging zu Konzerten und war letzte Woche auf einer Ü40-Party im Capitol in Linden. Trotzdem schleifte meine Stimmung zuletzt meistens über den Boden. Heute war es ein wenig anders. Ich hatte es geschafft, Anna zu überreden, dass wir uns im Café Konrad in der Nähe der Marktkirche trafen.
Meine psychiatrische Notfallbereitschaft war zu Ende, und ich machte heute früher als sonst Feierabend. Um 15:30 Uhr hatten wir uns verabredet. Mein Auto ließ ich im Parkhaus meiner Dienststelle im Timon Carré, ich würde es später dort abholen. Mit der U-Bahn fuhr ich in die Innenstadt Richtung Kröpcke. Auf der Sitzreihe mir gegenüber saß ein junges Paar, das nicht an seinen Smartphones spielte (wie der Rest der Fahrgäste), sondern sich umarmte und verliebt küsste.
Will ich das jetzt sehen? Eigentlich nicht.
Ich guckte mir lieber die Reihe der Smartphone-Nutzer an.
In einem Fachwerkhaus, mitten in der Fußgängerzone der Altstadt, befand sich das Café Konrad.
Anna Sonnenberg war Englisch- und Französischlehrerin am selben Gymnasium, an dem ich vor fast dreißig Jahren Abitur gemacht hatte. Ihre Leidenschaft galt der Plansprache Esperanto, zu der sie eine AG an der Schule anbot. Ich hatte mit ihrer Unterstützung ebenfalls Esperanto gelernt. Wenn wir im Alltag unsere Verbundenheit ausdrücken wollten, unterhielten wir uns in dieser Sprache.
Schon von Weitem sah ich eine Frau mit langen blonden Haaren, die in der Fußgängerzone aus entgegengesetzter Richtung auf den Eingang des Cafés zusteuerte. Ich freute mich riesig, sie zu sehen. Lächelnd kam sie auf mich zu, und es war selbstverständlich, dass wir uns zur Begrüßung in den Arm nahmen. Ich drückte sie an mich, vielleicht etwas fester und enger, als für unser derzeitiges Verhältnis angemessen war.
Auf Esperanto sagte ich leise, dass ich mich sehr freute, dass sie gekommen war: „Mi tre ĝojas, ke vi venis.“
„Schön dich zu sehen, Mark“, antwortete sie auf Deutsch.
„Geht mir genauso. Wie immer.“
Wir standen voreinander in der Fußgängerzone und sahen uns an.
Bereits Annas nächste Frage brachte mein innerliches Dilemma auf den Punkt: „Und wie geht’s dir?“
„Möchtest du eine kurze oder eine ehrliche Antwort?“, fragte ich mit verkniffenem Lächeln zurück.
„Ehrlich wär schon gut“, sagte sie rundheraus und blickte mir offen ins Gesicht.
„Okay, lass uns reingehen.“
Wir gingen in den ersten Stock des Cafés und hatten Glück, dass gerade in diesem Augenblick ein Fensterplatz frei wurde. Zum Cappuccino bestellte sich jeder von uns ein Stück Kuchen.
Ich redete nicht herum, sondern erzählte Anna ganz offen, dass mir unsere Trennung sehr zu schaffen machte und ich sie jeden Tag vermissen würde. Wir saßen uns gegenüber und sie ergriff meine linke Hand mit ihrer rechten. Für einen kurzen Moment sah sie mich nur an und sagte nichts. Schließlich meinte sie: „Es tut mir auch sehr weh … um uns. Aber wir haben lange darüber gesprochen. Und das ist das Ergebnis.“
Anna hatte mich verlassen, weil sie sich ein Kind von mir gewünscht hatte, was ich mir als 48-jähriger Vater einer bereits erwachsenen Tochter nicht mehr vorstellen konnte. Sie war zehn Jahre jünger als ich und hatte vor Augen, dass ihr nur noch eine begrenzte Zeit zur Verfügung stand, um Mutter zu werden. Und dafür einen geeigneten Partner zu finden. Bereits ihre Ehe mit Carsten war an Annas unerfülltem Kinderwunsch gescheitert.
„Für ein Baby fühle ich mich einfach zu alt“, wiederholte ich mein Argument, das Anna schon in- und auswendig kannte. „Bei der Einschulung halten mich die anderen Eltern für den Opa.“
„Die Sache mit deinem Alter sehe ich anders. Die Zeiten haben sich geändert.“ Anna grinste. „Denk mal an Mick Jagger. Der ist mit dreiundsiebzig Vater geworden.“
Anna nahm unser brisantes Thema mit einem gewissen Humor. Ich versuchte entsprechend zu parieren: „Mit diesem Rolling-Stones-Beispiel kannst du bei mir als Beatles-Fan nicht landen.“
„Paul McCartney hat auch noch mit einundsechzig eine Tochter bekommen.“
„Ja, von Heather Mills. Und was aus der Ehe geworden ist, hat doch die ganze Welt mitbekommen.“
Anna musste lachen. Und ich auch.
Dann wurde sie wieder ernst: „Es war eine wunderschöne Zeit mit dir. Aber wenn wir an diesem einen entscheidenden Punkt nicht zusammenkommen, bleiben wir getrennt.“
Obwohl wir uns an diesem Nachmittag gut verstanden, hatten wir uns dennoch weiter voneinander entfernt.
Kapitel 11
Kilian hatte es sich an diesem Freitag verkniffen, Tipico am Steintor nach der Arbeit einen Besuch abzustatten. Dabei war Frust für ihn häufig ein starker Motor, das Wettbüro aufzusuchen. Und Frust gab es heute genug. Sein Ausbilder bei h1 hatte ihn angemeckert, weil Kilian wieder unpünktlich zu einer Produktion erschienen war.
Ich muss mich zusammenreißen, sonst bin ich irgendwann den Ausbildungsplatz los. Eigentlich macht mir die Arbeit beim Bürgerfernsehen Spaß.
Zu Hause in seiner Wohnung war der erste Gang zum Kühlschrank, wo er sich ein Bier aufmachte. Der zweite Gang ging an sein Notebook, ins Internet, auf die Website eines Online-Wettbüros.
Nur zwei, drei Wetten heute Abend, dann hör ich auf.
Sportwetten faszinierten ihn schon seit seiner Jugend. Noch sehr genau konnte er sich an seinen ersten Gewinn erinnern. Er hatte den Ausgang eines WM-Qualifikationsspiels der Deutschen Fußballnationalmannschaft aufs Tor genau vorhergesagt, hatte damals 260 Euro auf einen Schlag gewonnen. Da er sich mit einigen Sportarten gut auskannte, schien das eine geniale Möglichkeit zu sein, ohne großen Aufwand innerhalb kürzester Zeit viel Geld zu verdienen. Seitdem hatten ihn Sportwetten nicht mehr losgelassen.
Die achthundert Euro von Lizzis Oma zahl ich irgendwann zurück. Mist, mir fehlt ’ne Glückssträhne, um wieder auf sicheren Füßen zu stehen.
Im Internet war es möglich, ohne Geldlimit zu spielen. Einschränkende Reglementierungen wie in Spielhallen gab es nicht. Zwar waren derartige Online-Glücksspiele nicht erlaubt, wurden aber vonseiten der Behörden praktisch toleriert, zumal die Betreiber auf Konzessionen aus dem EU-Ausland (bevorzugt Malta) zurückgreifen konnten.
Lizzi darf nicht mitbekommen, dass ich um Geld spiele. Dafür hat sie kein Verständnis. Noch nicht. Erst wenn ich den ganz großen Gewinn mache, für uns beide, weih’ ich sie ein. Dann versteht sie es.
Um keine persönlichen Daten angeben zu müssen, nutzte Kilian für seine Wetteinsätze im Internet ein elektronisches Zahlungsmittel, die Paysafecard, die problemlos an Kiosken, Tankstellen und Supermärkten zu bekommen war. Nach den ersten Gewinnen hatte er seine Einsätze kontinuierlich gesteigert, wobei die Verluste schnell überwogen. Jedes Minus versuchte er sofort mit einem neuen (meistens risikoreichen) Tipp auszugleichen.
Heute gewinne ich. So ’ne Scheiße wie mit Lizzis Oma, die echt okay ist, bau ich nie wieder.
Kapitel 12
Paul saß bewegungslos auf dem Bett in seinem Zimmer, in dem unter anderem noch ein Schrank, ein Sofa, ein Lowboard mit Flachbildfernseher und ein Schreibtisch standen. Vom Flur der komplett gefliesten Einliegerwohnung gingen neben den beiden Zimmern für Noah und Paul noch ein Bad und eine Küche mit Essecke ab. Die Tür von seinem Zimmer stand auf. Sein Bruder war nicht da, wie immer in Göttingen, wo er nicht mitbekam, was hier bald abgehen würde.
Paul war außerstande, die Wohnung zu verlassen. Und das, obwohl sich gerade Philipp Rathing im Haus seiner Eltern aufhielt. Ramona hatte erzählt, dass der Schriftsteller am Freitag gegen achtzehn Uhr kurz vorbeikommen würde. Um den E-Book-Reader zurückzugeben. Um Paul ein Feedback zu seinem Mystery-Roman zu geben. Um (nein, das hatte sie nicht gesagt!) zu checken, wie weit Ramona schon war, sich auf den geilen Bock einzulassen.
Vor gut einer Viertelstunde war Philipp hier aufgekreuzt. Oder war es länger her? Bodo war noch nicht zu Hause, musste aber bald kommen. In dieser Situation würde Ramona auf keinen Fall zulassen, dass Philipp die letzte Grenze überschritt. Das Lähmende war die Tatsache, dass der Kerl einfach hier war und damit den nächsten Schritt machte.
Es ist äußerst schwer für mich, mit Mama darüber zu sprechen, in welche Gefahr sie die Familie bringt. Vor Jahren hab ich es in einer ähnlichen Situation zweimal probiert. Bin aber jedes Mal kläglich gescheitert.
Seine Mutter hatte konsequent geleugnet, eine Affäre zu haben, und äußerst abweisend reagiert.
Sie kann nicht eingestehen, was nicht sein darf.
Ein Klopfen an der Verbindungstür.
Die Stimme von Ramona: „Paul, Philipp ist da, wollte mit dir über dein E-Book sprechen.“
Seine Mutter tauchte mit Philipp im Türrahmen von Pauls Zimmer auf. Ein kurzfristiger Energieschub ermöglichte es Paul, sich zu erheben. Er sah die entgegengestreckte Hand von Philipp, ließ sich auf ein Händeschütteln mit dem ungeliebten Gast ein, der ein freundliches Lächeln zur Schau trug.
„Ich lass euch mal allein“, verkündete Ramona und zwinkerte ihrem Sohn zu. Sie schien davon auszugehen, dass Paul die Begegnung mit dem erfahrenen Schriftsteller aufbauen würde.
Er wird mir irgendeinen Scheiß erzählen, um sich bei ihr einzuschleimen.
Trotzdem spielte Paul mit und bot Philipp einen Platz auf dem Sofa an. Er selbst schnappte sich den Schreibtischstuhl und rollte damit ein Stück an ihn heran. Philipp trug über seiner Blue Jeans ein langärmeliges rosa Hemd.
Rosa ist die Schwulenfarbe. Will er auf seinen tollen Schwulen-Roman hinweisen?
Philipp machte einen auf total einfühlsam und verständnisvoll. Er habe natürlich nicht den ganzen Roman gelesen, aber Ausschnitte. Ganz gute Ansätze, Talent zu erkennen, einige originelle Ideen, ausbaufähig, kleine Schwächen beim Spannungsaufbau, Satzbau manchmal holprig, Besuch einer Schreibwerkstatt empfohlen, der persönliche Wert von Schreiben als Therapie nicht zu unterschätzen … blah, blah, blah.
Paul hörte nur einen ungenießbaren Wortbrei, wobei sich das Rosa des Hemds nach und nach über Philipps ganzes Gesicht ausbreitete.
Du kannst mir nichts vormachen. Nichts gefällt dir an meinem Roman. Dein Interesse ist gespielt, das gilt nur meiner Mutter. Ich verabscheue dich!
Kapitel 13
11 Tage vor der Ermordung von P. R.
Samstagmorgen.
Paul konnte es nicht mehr aushalten. Er musste mit seiner Mutter darüber reden.
Aber Papa ist im Haus.
Er hatte mit seinen Eltern zusammen gefrühstückt. Danach ging Bodo in den Garten und kümmerte sich um seinen Teich. Paul räumte mit Ramona das Geschirr in die Küche.
Jetzt oder nie!
Paul trat dicht an Ramona heran. Sie stockte und guckte erwartungsvoll.
Jetzt muss es raus!
„Es ist wegen deines Schulfreundes Philipp … Wie soll ich es ausdrücken …?“, druckste er herum. Er atmete tief ein und aus. Sagte dann fast flehend: „Lass dich bitte auf nichts ein, wenn er was von dir will. Verstehst du?“
Zwei Sekunden Stille. Ramona war überrascht.
„Ich werde nichts tun, was der Familie schadet“, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln, als hätte sie gerade jegliche Befürchtungen zerstreut. Als sie fortfuhr, bekam ihr Gesichtsausdruck schlagartig eine ärgerliche Note: „Und jetzt kümmere dich bitte um deine eigenen Angelegenheiten.“
Ramona verließ die Küche und ging zu Bodo in den Garten.
Bilde ich mir alles nur ein?
Am Nachmittag traf sich Paul mit Sophie zu einer kleinen Shopping-Tour in der Innenstadt von Hannover. Sophie war im gleichen Alter und machte wie Paul ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr an der Medizinischen Hochschule. Vor einigen Wochen waren sie sich nähergekommen. Sophie mochte es, wenn er sie küsste und streichelte. Aber mehr war bisher nicht drin.
Was ihn sofort fasziniert hatte, war ihre Frisur. Ihre langen braunen Haare hatte sie hinten zu einem Zopf geflochten. Wie die Archäologin Lara Croft aus den alten Tomb-Raider-Computerspielen, die sich mit übernatürlichen Mächten auseinandersetzte. Aber Sophie hatte keinen Draht zu Mystery oder Fantasy. Ihr Interesse galt der empirischen Wissenschaft. Mit Pauls E-Books konnte sie überhaupt nichts anfangen, von seinem ersten Roman hatte sie lediglich den Anfang gelesen. In dem Fall war sie wie Bodo, der sich ebenfalls für Pauls Geschichten nicht begeistern konnte. Dabei hatte sich Paul beim Schreiben der ersten Mystery-Story so gewünscht, dass sein Vater ihn dafür bewunderte.
„Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?“, fragte ihn Sophie, als sie einen Kaffee bei Starbucks in der Ernst-August-Galerie tranken. „Zumindest nicht bei mir.“
„Tut mir leid. Mir ist da kurz was durch den Kopf gegangen“, antwortete Paul verlegen.
„Und das nicht nur einmal. Was ist denn los? Hast du Ärger?“
Paul hatte versucht, sich durch das Treffen mit Sophie abzulenken. Aber es klappte nicht. Philipp Rathing ging ihm nicht aus dem Kopf.
„Nein, mit mir ist alles okay“, verleugnete er seine innere Zerrissenheit. Schwierigkeiten innerhalb der Familie wurden mit Außenstehenden, zu denen Sophie eindeutig gehörte, grundsätzlich nicht besprochen.






