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Er rief Christian nach Feierabend zu Hause an. Das Telefonat verlief zunächst flüssig und unproblematisch. Der Schriftsteller hatte das Gefühl, dass es Christian gefiel, ein Statement zu „seinen“ Themen abzugeben: Belastungen auf der Flucht traumatisierter Kinder, aber auch Probleme deutscher Familien mit Flüchtlingsfamilien.
Zunehmend verfiel Philipp in einen vertrauten Plauderton, überlegte im Vorfeld nicht mehr jeden einzelnen Satz.
Zum Thema Belastungen in Familien rutschte ihm plötzlich heraus: „Ramona und du haben ja wohl früher auch einiges zusammen erlebt, was sie bis heute belastet.“
Von einem Augenblick zum andern kippte die Stimmung.
Christian wirkte in Alarmbereitschaft versetzt. Mit kühler Stimme fragte er: „Was meinst du damit?“
Philipp war völlig überrascht, hatte auf seine Bemerkung eine ganz andere Reaktion erwartet: „Eigentlich nichts Konkretes. Und nicht böse gemeint. Ramona hatte nur so eine Andeutung gemacht.“
Mein letzter Satz war schon wieder Scheiße!
„… als ich sie am Freitag zu Hause in Isernhagen-Süd besucht habe“, ergänzte Philipp. Christian durfte auf keinen Fall erfahren, dass Philipp die Äußerung von der betrunkenen Ramona aufgeschnappt hatte, nachdem sie gerade in Mardorf miteinander geschlafen hatten. „Also nichts für ungut. Vielleicht hab ich da was falsch verstanden.“
Christian ließ es dabei bewenden, aber die anfänglich lockere Atmosphäre des Telefonats stellte sich nicht wieder ein.
Kapitel 18
8 Tage vor der Ermordung von P. R.
„Ich muss dringend persönlich mit dir sprechen. Noch heute!“, hatte Christian zu ihr am Telefon gesagt. Er hatte sie vormittags in ihrer Kanzlei angerufen, dabei angedeutet, dass es um eine „wichtige Familienangelegenheit“ ging. Am Nachmittag wollten sie sich bei ihr zu Hause treffen. Das Umfeld seiner dienstlichen Termine am Vormittag ließ es offenbar nicht zu, am Telefon konkreter zu werden. Vermutlich sollten seine Frau und seine Töchter ebenfalls nichts von seinem Gespräch mit Ramona mitbekommen.
Christian war äußerst angespannt, als er den Bungalow betrat. Bodo und Paul waren um diese Zeit noch nicht zu Hause.
„Was ist eigentlich los?“, fragte Ramona ängstlich und bat ihren Bruder ins Wohnzimmer.
Bevor sie sich setzen konnten, stieß er hervor: „Wie viel hast du ihm erzählt?!“
„Wem?“
„Philipp.“
„Gar nichts. Kein Wort.“ Ramona war vor ihrem Bruder stehen geblieben und sah ihn ungläubig an. „Du weißt, dass ich über unsere Familienangelegenheiten absolutes Stillschweigen bewahre. Das halte ich genauso strikt ein wie du!“
„Aber nicht, wenn du betrunken bist.“ Christian verzog wütend das Gesicht. „Was, verdammt noch mal, hast du ihm erzählt?“
„Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ihm etwas über die Vergangenheit unserer Familie gesagt zu haben.“
Christian teilte ihr mit, welche Andeutung Philipp am Telefon gemacht hatte: „Und er hat eindeutig dich als Informantin benannt.“
„Viel werd ich ihm auf keinen Fall verraten haben“, murmelte Ramona kleinlaut.
„Du musst schon ganz schön voll gewesen sein, wenn du dich an nichts mehr erinnerst!“
Ramona senkte den Kopf: „Ja, Philipp war hier im Haus, um mir den E-Book-Reader zurückzugeben. Ich hatte an dem Abend wohl tatsächlich zu viel getrunken. Bodo kam erst später dazu.“
„Möglicherweise hat er mehr von dir erfahren, als du dir vorstellen kannst“, fauchte Christian. „Der lässt nicht locker, wenn er Blut geleckt hat.“
Er packte seine Schwester an beiden Schultern und schüttelte sie: „Wenn irgendjemand herausbekommt, was hier damals gelaufen ist, sind wir erledigt.“
„Tut mir leid.“ Ramona fing an zu weinen. „Ich mach es wieder gut.“
„Philipp ist nicht ungefährlich“, sagte er mit eindringlicher Stimme. „Was er erfährt, nutzt er, um daraus möglichst spektakuläre Bücher zu machen. Du hast doch auch gelesen, wie er die schwule Biker-Truppe verarscht hat.“
Ramona nickte, und Christian nahm sie in den Arm.
„Tut mir leid, dass ich eben so harsch zu dir war“, sagte er versöhnlich. „Aber ich habe selbst Angst.“
Kapitel 19
7 Tage vor der Ermordung von P. R.
„Ein Herr Rathing möchte Sie dringend sprechen, Chef.“
Ich bat meine Sekretärin Sonja Mock, den Anruf zu mir ins Büro durchzustellen.
„Ich möchte dich um Unterstützung bitten, Mark“, kam Philipp nach einer kurzen Begrüßung gleich zur Sache.
Ich werd sehn, was ich tun kann“, antwortete ich gespannt. „Schieß los!“
Unser letztes Wiedersehen vorm Polizeikommissariat Mitte Dezember hatte ich noch in schmerzhafter Erinnerung.
„Seit vorgestern werde ich beobachtet.“ Seine Stimme klang etwas verlegen. „Halt mich jetzt bitte nicht für einen von deinen paranoiden Patienten.“
„Keine Angst. Was hast du bemerkt?“
„Gestern Abend, in der Dunkelheit, stand eine Gestalt, die ich nur schemenhaft erkennen konnte, an meinem Gartenzaun. Ich hab den Kerl von oben aus dem Fenster gesehen. Er hat offenbar alles genau beobachtet.“
„Du bist sicher, dass es ein Mann war?“
„Eigentlich schon. Er hat mitbekommen, dass ich ihn entdeckt habe, und ist dann abgehauen.“
„Wäre typisch für einen potenziellen Einbrecher.“
„Könnte natürlich sein. Vor drei Tagen, am Sonntag, hatte ich ebenfalls schon den Eindruck, dass jemand das Grundstück beobachtet. Aber der Typ war zu weit entfernt und gleich wieder weg, bevor ich ihn richtig wahrgenommen hatte.“
Es war nicht einmal klar, ob es sich an den beiden Tagen um ein und denselben Mann gehandelt hatte (wenn es denn überhaupt ein Mann war).
„Der Polizei brauche ich damit nicht zu kommen. Ich weiß, wie die reagieren. Die schicken einmal am Tag einen Streifenwagen durchs Viertel, was eh nichts bringt.“
Ich ahnte, worauf er hinauswollte – und richtig.
„Die gleiche Situation wie damals im Dezember“, stellte er fest. „Ich geh davon aus, dass Ralf Grothe es wieder auf mich abgesehen hat. Erst reißt er sich noch am Riemen und beobachtet nur das Haus. Aber nach ein paar Tagen verliert er die Kontrolle.“
„Hat er nach dem Zwischenfall vor drei Monaten noch einmal Kontakt zu dir aufgenommen?“
„Nein. Dauert ja wahrscheinlich immer etwas, bis seine Erkrankung wieder durchbricht.“
Philipps Einschätzung der Situation konnte ich gut nachvollziehen. Ich wusste, dass Grothe schon vor einiger Zeit aus der Langenhagener Klinik nach Hause entlassen worden war. Üblicherweise wurde der Sozialpsychiatrische Dienst über die Beendigung einer Zwangsunterbringung informiert.
„Ich kümmere mich gleich drum“, versprach ich. „Der Sozialpsychiatrische Dienst wird alles tun, was in seiner Macht steht.“
Philipp verabschiedete sich freundlich von mir. Es war das letzte Mal, dass ich ein Wort mit ihm wechselte.
Unserer elektronischen Patientenakte konnte ich entnehmen, dass Ralf Grothe seit Anfang Februar wieder zu Hause war. Mitarbeiter der zuständigen Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle hatten damals Kontakt zu ihm aufgenommen. Er hatte sich in einem stabilen Zustand befunden und abgelehnt, vom Sozialpsychiatrischen Dienst versorgt zu werden. Hinweise von Nachbarn oder Bekannten, dass sich sein Gesundheitszustand wieder verschlechtert hatte, lagen uns nicht vor.
Ich bat den Arzt der zuständigen Beratungsstelle, sich aus gegebenem Anlass erneut ein aktuelles Bild von Grothes psychischer Verfassung zu machen.
Ich bin gespannt, ob Grothe tatsächlich wieder hinter dem Ganzen steckt.
Kapitel 20
5 Tage vor der Ermordung von P. R.
Einmal durchatmen, sonst klapp ich zusammen. Die Angst begleitet mich den ganzen Tag.
Sein zwölfmonatiges Praktikum in einem wissenschaftlichen Labor der Medizinischen Hochschule war für Paul ein absoluter Ruhepol. Er begleitete ein Forschungsprojekt über Gentherapie, das die Krebsbehandlung in ein paar Jahren gewaltig voranbringen konnte. Die meiste Zeit gelang es ihm, sich auf die Labortätigkeit zu konzentrieren und die fürchterlichen Gedanken an Philipp und seine Mutter zu verdrängen. In der Mittagspause waren die Bilder wieder da. Er sah Gaylord, wie er das Magazin seiner Pistole mit rosa Patronen auffüllte. Und da war ein Mann, der von der Seite das Profil seines Onkels hatte.
Die Pause nutzte er für eine Spontanprüfung. Wenn er sie bestand, erhöhte das die Chance, dass seine Mutter die Beziehung zu dem Autor demnächst beendete. Im Hauptgebäude ging es darum, in einem bestimmten Treppenhaus vom Erdgeschoss in die vierte Etage zu gelangen, ohne dass er einer Person begegnete. Da Besucher und Personal vorrangig zumeist die Fahrstühle benutzten, hatte er eine gewisse Erfolgschance. Die er jedoch vertat. Beim ersten Versuch traf er im zweiten Stock auf eine Mitarbeiterin, bei der Wiederholung schon in der ersten Etage. Seine Stimmung rutschte in den Keller, wie bereits die Tage zuvor. Kilian hatte gestern versucht, ihn aufzuheitern, und das Treffen mit den Mädchen für morgen Abend organisiert.
Heute fehlten ihm einige Stunden Erinnerung. Er verließ nachmittags die Medizinische Hochschule und stand plötzlich vor der Einfahrt des elterlichen Bungalows. Was er in der Zwischenzeit gemacht hatte, wusste er nicht. Einige Bilder, die er wie Blitzlichter wahrnahm, spiegelten offenbar seine Gedanken: Ein kleiner Laden, der Waren anbot, die er nicht erkennen konnte. Ein Handschuh, der eine Faustfeuerwaffe überreichte. Ein Wagen vor einem Grundstück, in dem ein Mann mit einem Spaten stand.
Das bin nicht ich, das ist Gaylord.
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