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Als sie wieder draußen waren, plusterte Tom sich auf: »Ich bin so weit. Ich bin voll drauf! Hey, wo ist Bikila. Bikila, ha!« Er spuckte in gespielter Verachtung auf den Boden. (Abebe Bikila war der legendäre Läufer aus Äthiopien, der 1960 barfuß den olympischen Marathon gewonnen hatte und seinen Sieg 1964 wiederholte, diesmal mit Schuhen.)
»Mein Gott, du hast ja Lippenstift drauf!«, sagte Tom, als wir zum Start joggten.
»Ich habe immer Lippenstift drauf! Was dagegen?«
»Irgendjemandem könnte auffallen, dass du ein Mädchen bist, und dich nicht laufen lassen. Wisch ihn ab.«
»Ich werde meinen Lippenstift nicht abwischen.« In dieser Stimmung kamen wir am Start an. Die wie verkleidet wirkende Läuferhorde fädelte sich in den schmalen Gang ein, der in den von Schneezäunen geschützten Startbereich an der Hayden Row führte. Am Eingang standen BAA-Funktionäre in langen Mänteln mit blauen Bändern an den Aufschlägen, auf dem Kopf die historischen Filzhüte, Clipboards in den Händen. Alle waren durchnässt, der Schnee sammelte sich auf ihren Hutkrempen und auf den Schultern der Läufer, die sich in dem langen Gang stauten. Das Ganze wirkte ziemlich unorganisiert, und die Funktionäre waren nervös. Sie mussten am Eingang die Startnummern der Läufer mit den Namen auf der Liste vergleichen. Ich hob das dicke Sweatshirt an, damit sie die Startnummer darunter prüfen konnten, und der Funktionär legte mir die Hand auf die Schulter und schob mich sanft weiter: »Beeilung, weiter, weiter!« Wir bahnten uns den Weg zum hinteren Bereich des Startfeldes, und Arnie sagte: »Siehst du? Kein Problem!«
Die Männer um uns herum waren alle ganz aufgeregt und erfreut, eine Frau in ihrer Mitte zu sehen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte keine Extrabeachtung, vor allem nicht jetzt, in diesem Moment, aber ich versuchte, freundlich zu bleiben, als einer der Läufer darauf bestand, dass seine Frau, die auf der anderen Seite der Begrenzung stand, ein Foto von uns beiden machte. Dann wurde die Menge still, vorn hatte jemand wohl etwas durchgesagt. Wir rückten enger zusammen und der Geruch nach Muskelfluid wurde so stark, dass meine Augen brannten. Ich zog mein schweres Sweatshirt aus und warf es über den Zaun, dann hörte ich den Startschuss, und wir liefen los. Endlich!
Boston war immer ein Mekka für Läufer gewesen, und nun gehörte ich zu diesen gesalbten Pilgern. Nach monatelangem Training mit Arnie, meinem großen Traum folgend, war ich nun wirklich hier, wir strömten durch die Hauptstraße des Dorfes und dann auf die bergab führende Route 135, zusammen mit Hunderten Gleichgesinnter, die wir alle nicht kannten, die aber alle wussten, worum es ging, und die hart dafür gearbeitet hatten, so weit zu kommen. Mehr als bei irgendeinem Lauf zuvor fühlte ich mich am richtigen Ort.
Wenn man so langsam anfängt wie wir, sind die ersten paar Meilen eines Marathons ein Vergnügen, das Laufen ist leicht, der Lärm der Menge aufregend, und die Mitläufer sind gesprächig und nett. Man weiß, dass es irgendwann später schmerzen wird, deswegen kann man jetzt einfach genießen. So wie wir es taten. Unsere kleine Gruppe lief in einer Viererreihe, wir scherzten und bedankten uns bei den vielen Läufern, die uns überholten und uns aufmunternd alles Gute wünschten. Arnie und Tom waren in ihrem Element, als sie all die aufmunternden Sprüche hörten, die an uns gerichtet wurden, weil ich dabei war, ein Mädchen! Dadurch wurde ihnen eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit zuteil. Tom rannte mit geschwellter Brust, und Arnie plusterte sich auf.
Dann hörten wir ein lautes Hupen, und jemand schrie: »Platz machen, Läufer, lauft auf der rechten Seite!« Die Menge machte nervös und zum Teil fluchend Platz für einen langen Lastwagen, der von links kam und uns in der engen Straße nach rechts drückte. Dicht dahinter kam ein Bus. Der Laster war für die Pressefotografen, deren auf Podesten aufgebaute Stative auf der Ladefläche standen, damit jeder ein gutes Foto schießen konnte, während sich der Laster langsam in dem Läuferfeld nach vorn schob. Ich fand damals, dass es unglaublich stümperhaft und mies organisiert und sogar gefährlich war, zwischen dicht an dicht laufenden mehr als 700 Teilnehmern die großen Autos fahren zu lassen, besonders in einem international renommierten Rennen wie dem Boston Marathon. Wir liefen ziemlich langsam, aber vorn waren die Weltklasse-Athleten, und es ist ziemlich riskant, hochkonzentrierte Leistungssportler anzuhupen und zu erwarten, dass sie Platz machten. Ich hing diesen Gedanken nach, als ich merkte, dass das Presseauto direkt vor uns langsamer fuhr und wir fotografiert wurden. Die Journalisten gerieten buchstäblich aus dem Häuschen, als sie merkten, dass ein Teilnehmer eine Frau war und Startnummern trug. Ich sah, wie sie in ihrer Starterliste blätterten, meine Nummer und meinen Namen nachschlugen, dann wieder knipsten. Wir mussten alle lachen und winkten. Es war unser »Grüße-an-alle-die-ich-kenne!«-Moment, wie im Fernsehen, wir hatten unseren Spaß.
Dann stand plötzlich ein Mann in einem langen Mantel, den historischen Filzhut auf dem Kopf, mitten auf der Straße, drohte mir mit dem Zeigefinger und rief etwas. Als ich an ihm vorbeilief, packte er meine Hand, erwischte meinen Handschuh und zog ihn mir ab. Ich kam ein bisschen aus dem Tritt, weil wir ihn alle umkurven mussten. Ich dachte, es sei ein verrückter Zuschauer, aber dann sah ich das blau-goldene Band an seinem Aufschlag. Wo war er plötzlich hergekommen?
Augenblicke später hörte ich das harsche Trappen von Lederschuhen, die schnell hinter mir herkamen, ein fremdes und alarmierendes Geräusch zwischen dem dumpfen Aufklatschen der Gummisohlen der Laufschuhe. Wenn ein Läufer ein derartiges Geräusch hört, bedeutet es für gewöhnlich Gefahr – so als hörte man die Krallen von Hundepfoten auf dem Pflaster. Instinktiv wandte ich schnell den Kopf und sah direkt in das bösartigste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Ein dicker Mann, ein Hüne mit gebleckten Zähnen wollte sich auf mich stürzen, und ehe ich reagieren konnte, packte er meine Schulter, riss mich zurück und schrie: »Raus aus meinem Rennen! Zur Hölle mit dir! Und her mit den Startnummern!« Dann griff er vorn an mein Sweatshirt und wollte mir die Startnummer abreißen, aber im selben Moment sprang ich schon rückwärts von ihm weg. Er erwischte die Nummern nicht, aber ich war so überrascht und erschrocken, dass ich mir ein bisschen in die Hose machte, mich dann umdrehte und weglief. Aber jetzt hatte der Mann mich am Rücken gepackt und versuchte, mir dort die Startnummer abzureißen.
Ich schrie leise, ich dachte überhaupt nichts, ich versuchte nur wegzurennen, als ich sah, dass der winzige tapfere Arnie auf den Mann einschlug, versuchte, ihn wegzudrängen und dabei schrie: »Lass sie in Ruhe, Jock. Ich habe sie trainiert, sie ist okay, lass sie in Ruhe!« Der Mann brüllte: »Halt dich da raus, Arnie!« und schlug nach ihm wie nach einer Mücke.

Der Funke, der die Frauenlaufrevolution auslöste. Harry Trasks dreiteilige Fotosequenz ging um die Welt, zusammen mit der Nachricht, dass ich offiziell beim Boston Marathon 1967 registriert und ins Ziel gelaufen war. Oben die Original-Bildunterschrift der Fotos.
Arnie kennt diesen Irren, dachte ich panisch. Das einzige Geräusch, das ich wahrnahm, war das surrende Klicken der Kameras, dazu kam das Durcheinander des Handgemenges und der leise Schrei eines japanischen Kameramannes: »Eeechai yawoow«, oder so ähnlich. Mir rutschte das Herz in die Hose; noch nie war mir etwas so peinlich gewesen, noch nie hatte ich eine solche Angst gehabt, noch nie war ich derart grob angefasst worden, nicht mal als Kind, und die physische Kraft und die Schnelligkeit der Attacke verblüfften mich. Ich war nicht imstande, die Flucht zu ergreifen, ich stand wie angewurzelt da, was stimmte, denn der Mann, dieser Jock, hielt mich am Pullover fest. Dann zuckte ein orange-gelber Blitz vorbei und riss Jock zur Seite. Es war Big Tom in seinem orange-gelben Sweatshirt. Ich hörte einen dumpfen Stoß – Rumms! – und Jock flog durch die Luft. Er landete am Straßenrand wie ein Haufen zerknitterter Klamotten. Jetzt geriet ich erst recht in Panik. Wir haben diesen Jock umgebracht, es war meine Schuld, auch wenn Tom, dieser Hitzkopf, zugeschlagen hatte. Mein Gott, wir würden ins Gefängnis kommen. Und dann sah ich Arnies Gesicht – es war auch angsterfüllt. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schrie: »Lauft so schnell ihr könnt!« Und das taten wir auch. Ein Adrenalinschub setzte ein und wir rannten die Straße entlang, vorbei an dem Pressewagen, wir rannten wie Kinder, die aus einem Geisterhaus flohen.
Ich war benommen und verwirrt. Noch nie war ich bedroht worden. Die Gewalt ängstigte mich, und ich war schockiert, wie hilflos ich mich ihr ausgeliefert fühlte. Toms präzise Handhabung des Problems, die Art, wie er Jock ausgeschaltet hatte, und zwar nur Jock, war sportlich gekonnt gewesen, aber ich war ihm für die Rettung nicht dankbar. Mein Herz war schwer, er hatte etwas Schlimmes getan. Er war zu weit gegangen. Ich wünschte, Tom wäre nicht mitgekommen, ich wünschte, ich wäre nicht mitgefahren.
Alles schrie durcheinander. Ich hörte die Journalisten auf der Ladefläche des Lasters hinter uns, sie riefen: »Fahrt ihr hinterher. Fahrt ihr hinterher!« Der Fahrer beschleunigte, ließ die Kupplung kommen, ich hörte, wie der Truck einen Satz nach vorn machte und die Kameras, die Stative und die Kurbeln unter den Flüchen der Fotografen durcheinandergewirbelt wurden.

Jock Semple versuchte, mir die Startnummer vom Rücken zu reißen. Er schaffte es beinahe, da er die rechte obere Ecke zu fassen bekam und sie von der Sicherheitsnadel löste. Die Zahl 261 ist jetzt ein Symbol für Furchtlosigkeit angesichts widriger Umstände – für mich selbst wie für viele andere Frauen.
Alle fluchten, am lautesten Arnie, dieser sanftmütige Freund, der verkündete, er würde diesen Jock Semple umbringen. Der es besser wissen sollte, weil er selbst ein Läufer war! (Arnie lief sogar mit diesem Irren?) Tom sah aus, als käme ihm Qualm aus den Nüstern. Er war immer noch in Kampflaune, und jeder seiner Flüche wurde von einem Hieb in die Luft oder einem drohenden Blick über die Schulter begleitet. John wirkte bestürzt. Mir war übel, ich hatte Angst, dass wir diesen Jock Semple ernsthaft verletzt hätten, vielleicht sollten wir uns nach ihm erkundigen. Denn es war sonnenklar, dass Jock ein Funktionär war und dass er die Kontrolle verloren hatte, und jetzt war er verletzt, und wir hatten ein Problem. Man würde uns verhaften. Diese Angst hatte ich, und ich fühlte mich zutiefst gedemütigt. Einen winzigen Augenblick lang überlegte ich, ob ich aussteigen sollte. Ich wollte nicht, dass dieses Desaster den Ruf des Rennens beschädigte. Aber der Gedanke flackerte nur kurz in mir auf. Wenn ich jetzt aufhörte, würde nie jemand glauben, dass eine Frau fähig war, einen Marathon zu laufen. Wenn ich ausstieg, würde jeder sagen, es sei eine Nummer, nur für die Presse gestellt. Wenn ich jetzt aufhörte, würde ich den Frauenlaufsport zurückwerfen und zwar um Jahre, statt ihn zu fördern. Wenn ich jetzt ausstieg, würde ich nie wieder in Boston laufen. Wenn ich jetzt ausstieg, hätten Jock Semple und seinesgleichen gesiegt. Meine Angst und meine Demütigung verwandelten sich in Wut.

Nach dem Zwischenfall stieg Jock Semple wieder in den neben uns fahrenden Bus und schrie uns an. Arnie Briggs (Startnummer 490) schrie zurück. Mannschaftskamerad John Leonord (mit Brille) ist bestürzt, mein Freund Tom Miller (390) kocht vor Wut, und ich starre einfach zu Boden. Hinter uns läuft Everett Rice (225), kein Mitglied unserer Mannschaft, aber ebenfalls ein Freund aus Syracuse.
Der Pressewagen holte uns wieder ein und fuhr mit dröhnendem Motor dicht neben uns. Von der Ladefläche aus feuerten die Journalisten nun aggressive Fragen ab, die Fotografen lehnten sich weit vor, schossen Nahaufnahmen. Es kam mir absurd vor, ihre Fragen zu beantworten, während die Kameras mir direkt in die Nasenlöcher fotografierten. Und wie sich ihr Ton plötzlich geändert hatte! Jetzt hieß es »Was willst du damit beweisen?« und »Wann steigst du aus?« Folglich änderte sich auch mein Ton. Ich war zwar höflich, aber nicht mehr freundlich. Ich stellte klar, dass ich nichts »beweisen«, sondern einfach nur laufen wollte, dass ich mich auf die Distanz vorbereitet hätte, dass ich nicht aussteigen würde. Sie notierten, was sie notieren wollten. Sie glaubten mir offensichtlich nicht und fuhren weiter neben uns her, auch als ich ihre Fragen nicht mehr beantwortete und versuchte, sie zu ignorieren. Sie dachten, es handele sich um einen Studentenstreich und wollten den Punkt, an dem ich aufgab, nicht verpassen. Das bestärkte mich nur noch mehr. Und es machte mich noch wütender.
Dann kam der Bus. Auf dem Trittbrett stand Jock Semple, der sich am Außengriff der Tür festhielt! Gott sei Dank, er lebt, dachte ich erleichtert. Doch der Bus wurde langsamer, fuhr dann neben uns her, und Jock fletschte wieder die Zähne, schüttelte die Faust und schrie uns in seinem harten schottischen Akzent entgegen: »Ihr werdet großen Ärger bekommen!« Die Männer um uns herum zeigten ihm den Stinkefinger und bedachten ihn mit Obszönitäten. Und Arnie rief: »Hau ab, Jock! Lass uns in Ruhe!« Ich senkte den Kopf – ich würde kein Wort sagen. Meine Mutter hatte mir beigebracht, mit uneinsichtigen oder aggressiven Leuten nicht zu reden, und das hatte sich bis jetzt immer als richtig erwiesen. Der Bus beschleunigte wieder, blies eine stinkende Abgaswolke in unsere Gesichter und fuhr schnell nach vorn, hupte, damit die Läufer Platz machten.
Nach fünfzehn Minuten gab auch der Pressewagen auf, weil die Journalisten kapiert hatten, dass ich nichts mehr sagen und ihnen auch nicht die Befriedigung verschaffen würde, auszusteigen, nur damit sie ein gutes Foto schießen könnten. Die Stimmen versiegten, und ohne die Geräusche des Motors und der Kameras wurde es sehr still. Wir hingen alle unseren Gedanken nach. Ich dachte über alles Mögliche nach, auch darüber, warum wir Frauen uns von Auseinandersetzungen gleich einschüchtern lassen und erst später wütend werden, Männer aber sofort reagieren. Darauf war ich ein bisschen neidisch und ich war froh, dass ich jetzt wütend war, denn ich war sicher, dass es noch nicht ausgestanden war, bei Weitem nicht. Leise sagte ich zu Arnie: »Du weißt schon, dass dieser Jock vorgefahren ist und jetzt möglicherweise dafür sorgt, dass uns einer dieser bulligen irischen Polizisten festnimmt, wenn gerade niemand hinsieht?« Ich hatte bisher keinen dieser Iren zu Gesicht bekommen, neben denen sogar Tom klein wirkte. »Wenn das geschehen sollte, werde ich mich wehren, okay? Und noch etwas.« Ich drehte mich und sah Arnie in die Augen. »Arnie, ich weiß nicht, wo genau du jetzt stehst. Aber egal, was passiert, ich muss dieses Rennen beenden. Selbst wenn dir das nicht gelingen sollte, ich muss es schaffen, notfalls auf allen vieren. Wenn ich nicht ins Ziel komme, werden sie behaupten, dass Frauen dazu nicht in der Lage sind, sie werden sagen, dass ich es nur aus Publicity-Gründen getan hätte. Du kannst machen, was du willst, aber ich werde bis zum Ziel laufen.«
»Gut, dann sollten wir jetzt langsamer werden. Denk nicht an die Zeit, nur an das Ziel!« Arnie war nun ganz der Army-Sergeant. »Okay. Alle mal herhören!«, sagte er zu allen in Hörweite. »Lauft langsamer, entspannt euch. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Lockern. Lockert euch!« Wir wurden langsamer und ließen die Arme hängen, schüttelten die Hände aus. Meine linke Hand war eiskalt. Schade, dass ich den Handschuh nicht mehr hatte. Viele Körperstellen brauchen während eines langen Laufs nicht bedeckt zu sein, man friert trotzdem nicht, aber wenn die Hände kalt sind, geht es einem schlecht. Ich versuchte, den Ärmel meines Sweatshirts über die Hand zu ziehen, aber er war nicht lang genug.
Wir passten uns gerade dem von Arnie vorgegebenen Schritt an und entspannten uns allmählich, als Tom, immer noch vor Wut schäumend, plötzlich herausplatzte und mich anschrie: »Du bringst mich in alle möglichen Schwierigkeiten!«
Das kam völlig unvermittelt.
»Wieso denn, Tom?«
»Ich habe einen Funktionär geschlagen, jetzt werden sie mich aus der AAU ausschließen. Ich werde es nie in die Olympiamannschaft schaffen, und das ist deine Schuld.«

Big Tom (Nr. 390) kocht vor Wut, John (dunkles Hemd) ist ebenfalls erregt, Arnie (hinter John) sagt, wir sollten uns beruhigen, und ich denke, dass ich den Lauf unbedingt beenden MUSS. Es war sehr kalt; viele Läufer tragen lange Hosen, Mützen und Handschuhe.
Das machte mich traurig und wütend zugleich. »Ich habe den Funktionär nicht angegriffen, das hast du gemacht, Tom«, sagte ich ruhig. Es war mir peinlich, mich mit ihm vor John und Arnie und den anderen Läufern zu streiten. Ich fand es außerordentlich grob von Tom, mit mir, seiner Freundin, in aller Öffentlichkeit einen Streit anzufangen. Alle waren peinlich berührt.
»Toll. Ja, vielen Dank für diesen Mist. Ich hätte nie nach Boston mitkommen sollen«, schrie er.
»Ich habe dir gesagt, dass du nicht mitkommen sollst! Es war deine Idee.« Jetzt flüsterte ich, damit mich nicht alle um uns herum hörten. Mir wurde wieder schlecht, mir war, als taumelte ich von einem Albtraum in den nächsten.
»Hört sofort auf, ihr beiden!«, sagte Arnie.
Tom riss sich die Startnummern ab, zerfetzte sie, warf sie auf das Pflaster und brüllte: »Ich werde es nie in die Olympiamannschaft schaffen, und das ist nur deine Schuld!« Dann senkte er die Stimme und zischte: »Außerdem lauft ihr mir zu langsam«, und damit lief er los und verschwand zwischen den Läufern vor uns.
Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich schämte mich und fing zu weinen an. Wieder einmal hatte Tom mich davon überzeugt, dass ich nur ein Mädchen war, eine Joggerin, und einem Naturtalent wie ihm den Lebenstraum von Olympia versaut hatte. Ich hatte gedacht, ich sei seine Freundin, die er ernst nahm, und ich schätzte, damit war jetzt auch Schluss. Bisher war das Rennen ein Lauf durch die Hölle gewesen, und wir hatten noch zwanzig Meilen vor uns.
»Lass ihn doch. Lass ihn doch einfach. Denk nicht mehr dran. Schüttle es ab!«, schimpfte Arnie. Gehorsam ließ ich die Arme fallen, so wie ich es tausendfach im Training getan hatte und schüttelte die Hände aus. Mit gesenktem Kopf blickte ich zu Boden. Ich wollte nicht, dass jemand mich ansah, und nur so konnte ich meine Wunden in der Öffentlichkeit lecken. Ich spürte, dass ich an einem Tiefpunkt angekommen war. Das ging uns allen dreien so, ich fühlte direkt, wie die Müdigkeit uns hinunterzog. Selbst ich wusste, dass der Adrenalinschub vorbei war. Gott, was würde ich darum geben, einfach ein wenig zu schlafen, dachte ich. Mir war inzwischen alles egal, auch Tom, ich wollte nur noch ankommen. Mir war auch egal, wie groß und wie anhaltend der Schmerz sein würde und ob ich ihn aushalten könnte, ob ich ins Gefängnis käme oder sterben müsste. Ich würde ankommen, egal wie. Wir schwiegen lange.
Ein paar Meilen später nahmen wir nach und nach wieder etwas wahr, wie beim Erwachen aus einer Narkose. Die Energie kam zurück; wir waren durch ein Tief gelaufen und hatten uns dabei erholt, jetzt wurden wir wieder stärker. Ein erstaunliches Gefühl. Nun hörten wir manchmal schwachen Beifall, das war wirklich sehr angenehm, und wir winkten zurück. Es gab kaum Zuschauer, denn das Wetter war so schlecht, dass niemand auf die Letzten des Läuferrudels wartete. Ich spürte, dass meine durchweichte Trainingshose mich behinderte, also zog ich sie am Straßenrand aus und warf sie weg. Ein etwa achtjähriger Junge stürzte sich auf die Hose, hob sie hoch, schwenkte sie über seinem Kopf und schrie vor Freude über sein Souvenir. Wir drei sahen uns an und in unseren Gesichtern stand: »Könnt ihr euch vorstellen, was seine Mutter sagt, wenn er die mit nach Hause bringt?«
Wir sahen jetzt viele Orangenschalen auf der Straße, ein sehr seltsamer Anblick. Als ich Arnie danach fragte, sagte er, »Oh, die waren für die Spitzenläufer.«
»Heißt das, die besten Läufer bekommen Orangenscheiben?!« Ich war erstaunt über dieses Privileg. »Warum haben sie nicht für alle Läufer Orangen?«
»Die sind nur für die Schnellsten, für die richtigen Wettkämpfer.«
»Du hast also, als du in den Fünfzigern Rennen gelaufen bist, auch Orangenscheiben bekommen?«
»Ja, und Schwämme und Wasser.«
»Das müssten alle Teilnehmer bekommen. Sollte ich je einen Lauf organisieren, werde ich dafür sorgen.«
»Naja, am Ziel bekommt jeder Eintopf mit Rindfleisch«, sagte Arnie.
John und ich lachten. »Warum, Arnie«, sagte ich, »weiß ich, dass wir keinen Eintopf bekommen werden?«
Er grinste verlegen. »Er ist sowieso nicht gut, weil er aus der Dose ist.«
»Igitt! Ich hasse Doseneintopf!«, sagte John.
»Wer will denn Eintopf nach einem Marathon?«, fragte ich. »Wer kommt denn auf solche Ideen?«
»Es hat was mit Tradition zu tun«, sagte Arnie, »aber du hast recht, an heißen Tagen bekommen viele davon Bauchschmerzen.«
Es gab so manches an diesem großartigen Rennen, was mir einfach schrullig vorkam.
Nach ungefähr zehn Meilen, in Natick Center, ging es uns wieder gut, wir rissen sogar Witze und erzählten uns Geschichten. Am Straßenrand parkte ein Lastwagen mit einer großen Aufschrift an der Seite: SNAP-ON TOOLS. Mir fiel dazu ein schmutziger und ausgesprochen kindischer Witz ein, den ich irrsinnig komisch fand, und John und ich mussten so lachen, dass wir Seitenstiche bekamen. Arnie verstand ihn nicht, was wir noch komischer fanden. Aus der Zuschauermenge auf dem Seitenstreifen rannte ein jüngerer Mann auf uns zu und rief: »Arnie, Arnie!« Er joggte in Lederschuhen und Regenmantel mit uns mit. Er hieß Jimmy Matthews und war vor wenigen Jahren Arnies Schüler gewesen, als er noch in Syracuse am Lemoyne College studiert hatte. Jimmy wohnte jetzt in der Nähe von Wayland, und er himmelte Arnie an, so als würde Jesus Christus persönlich die Main Street von Natick entlangjoggen. Trotzdem schalt er Arnie, weil er ihm nicht Bescheid gesagt hatte, dass wir nach Boston kämen, und dann schlug Jimmy vor, uns am Ziel abzuholen und uns zu unserem Auto zurückzufahren. Das war in jeder Hinsicht ein großzügiges Angebot, das wir bereitwillig annahmen, schon allein deswegen, weil Arnie offenbar keinen Plan hatte, wie wir nach Hopkinton zurückkommen würden. Dann rannte Jimmy vor, drehte sich um und machte einen Schnappschuss.

Auf halber Strecke ließen wir Tom hinter uns. Ein paar Meilen später, wir waren völlig durchnässt und uns war kalt, ist John müde. Hier schimpfe ich mit ihm: Er habe zu viele lange Trainingsläufe ausgelassen. Wir kannten die Startnummer 690 nicht, Patrick Mahady, aber er war sehr freundlich und lief eine Zeit lang mit uns.
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