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Rodrigos Kopf schnellte zu Kevin und er starrte ihn entrüstet an. Dann packte er ihn blitzschnell an der Schulter, drehte ihn zum Ausgang und schob ihn wortlos vor sich her.
Der Abt lächelte gekünstelt. „Grüß Gott, die Herren.“ Dann schloss sich auch schon das schwere Eisentor des Klosters hinter den Ermittlern und die heile Welt der Mönche war wiederhergestellt.
„Was sollte das jetzt werden?“, keifte Rodrigo seinen Kollegen an. Versuch’ mal, ein Auto mit einem Zahnstocher zu knacken. Das ist das gleiche hirnrissige Vorhaben wie den Abt unter Druck setzen zu wollen. Du musst abschätzen können, wo Druck angebracht ist und wo nicht. Hier jedenfalls nicht!“
Er stieg ins Auto und schnitt Kevin gleich das erst Wort ab, als dieser Luft holte um etwas zu entgegnen oder sich zu rechtfertigen. „Wenn es um die Ehre der Kirche und seiner Mitbrüder geht, kannst du Druck vergessen. Die Gottesmänner setzen alles daran, ihren weißen Schein zu wahren. Wir müssen an die Sache mit Pater Pius anders herangehen. Wie, weiß ich allerdings noch nicht, aber wir werden einen Weg finden. Hätten wir jetzt Druck auf den Abt ausgeübt, wären vermutlich all die anderen Wege für die Zukunft versperrt gewesen.“
Er startete den Wagen und fuhr los ohne seinen Partner anzusehen. Kevin sank auf dem Beifahrersitz zusammen und dachte über die Worte seines Chefs nach. Doch noch ehe er entschieden hatte, ob er seiner Meinung nach recht hatte oder nicht, hob dieser schon wieder den Zeigefinger und fuchtelte damit vor seiner Nase herum.
„Und außerdem können wir uns eine Dienstaufsichtsbeschwerde nicht leisten. Heutzutage beschwert sich doch gleich jeder über uns, wenn wir unsere Arbeit gewissenhaft machen.“ Er schnaubte, denn beim letzten Fall hatte es mehrere solcher Beschwerden gegeben und er hatte sogar die Innenrevision wegen einer seiner Mitarbeiterinnen am Hals. Die Zeiten waren auch für Bedienstete der Kriminalpolizei sehr hart geworden.
Kevin wollte schon seine Meinung äußern, behielt sie aber lieber für sich. Er würde erst dann wieder reden, wenn Gonzales das Thema gewechselt hatte. Diese Taktik hatte sich auch bei seiner Freundin als goldener Weg bewährt.
Während sich die beiden die Abfuhr des Abtes geholt hatten, führte Dr. Hans Gruber das zweite Gespräch mit dem Ehemann des Entführungsopfers. Er fühlte ihm wegen einer möglichen Beteiligung oder wegen einer Auftragserteilung an jemand Dritten kräftig auf den Zahn. Er formulierte bereits gestellte Fragen um und überprüfte sehr genau, ob die Antwort mit der letzten übereinstimmte. Er nahm ihn in die Zange und drehte ihn so lange durch die Mangel, bis er geistig erschöpft war. Hans war nun klar, dass Toby nichts mit der Entführung zu tun haben konnte. Und er wusste auch, dass es im Ehebett schon des längeren nicht mehr stimmte. Er verhielt sich nach eigener Aussage für den Geschmack seiner Ehefrau viel zu gehemmt und sie meinte, in ihrem Leben etwas Essenzielles zu versäumen. Sie war der Typ Abenteuer, er der Typ Hamsterrad. Damit war der Hintergrund ihrer Seitensprünge und Affären geklärt, jedoch nicht der Hintergrund ihrer Entführung. Hans bedankte sich bei Toby und verspürte bei der Verabschiedung noch immer dieses wohlbekannte, leichte Kribbeln im Schritt. Das sexuelle Versagen des Ehemannes hatte ihm ein Gefühl der Überlegenheit gegeben und somit auch schon wieder den Tag versüßt. Bestens gelaunt verließ er das schmucke Vorstadthaus mit dem gepflegten Garten und fuhr zurück ins Dezernat um dort seinen Bericht über diese Befragung zu verfassen
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„Darf ich dich etwas ganz Persönliches fragen?“ Kevin sah seinen Boss nicht an, sondern starrte nur durch die Windschutzscheiben.
Rodrigo schnaufte. „Frag mich und du wirst sehen, ob du eine Antwort oder meine Faust auf deine Nase bekommst“, bellte er lachend und fand den Witz so gelungen, dass er mit seinen Händen aufs Lenkrad trommelte. Kevin hingegen fühlte sich davon etwas eingeschüchtert.
„Na dann lieber nicht. Meine Freundin steht nämlich auf meine fein geschnittene Nase edelster Herkunft!“, konterte er und lächelte.
„Wieso sprichst du eigentlich unsere Sprache so gut? Beinahe akzentfrei. Nur wenn du wie ein alter Seebär fluchst, kommt der mexikanische Akzent so richtig deutlich zu tragen.“
Kevin hielt sich schützend beide Hände vor die Nase und ging auf dem Beifahrersitz in Deckung.
„Meine Großeltern sind in jungen Jahren hierher ausgewandert, waren aber nach Mexiko zurückgekehrt als die Nazis begonnen hatten, ihr Drittes Reich zu gründen, sagen wir mal so. Meine Eltern zogen mich und meine Schwester Lucìa spanisch auf, unsere Großeltern sprachen Deutsch mit uns. Lucìa hat sogar Deutsch und Spanisch studiert und ist Lehrerin geworden. Nur ich war zu doof um diese grandiose Grundlage beruflich zu nutzen. Ich bin eben ein burro estùpido, ein dummer Esel.“
„Die meisten von uns sind froh, dass du ein burro estùpido bist. Wer weiß, wen sie uns sonst als Boss vor die Nase gesetzt hätten. Vielleicht den launischen Friedman von der Sitte, der auf jeden Chefsessel so scharf ist wie eine Schlange auf eine fette Ratte. Oder diese altbackene Klaringer, die eine ganze Minute braucht um eine Antwort auf eine noch so simple Frage zu geben. Oder…“
„Ruhe!“, unterbrach ihn Rodrigo schroff und drehte das Autoradio um einige Stufen lauter.
„Die Vierunddreißigjährige wurde gestern am frühen Vormittag auf offener Straße in einen weißen Lieferwagen unbekannter Marke gezerrt und seither fehlt von ihr jede Spur. Falls jemand den Vorfall beobachtet hat und von der Polizei noch nicht vernommen wurde, der möge sich bitte dringend bei der nächsten Polizeidienststelle oder unter der Nummer 0555/23896 melden. Und nun zum Wetter. Die Aussichten für…“
Rodrigo drehte wieder leiser und nickte zufrieden. Er hatte den kurzen Text gestern an die interne Pressestelle weitergegeben um noch weitere potenzielle Zeugen zu gewinnen. Irgendjemand sieht immer irgendetwas…
Kevin sah Rodrigo skeptisch an. „Jetzt werden sich wieder die ganz Wichtigen melden und dem Telefondienst die Zeit stehlen“, seufzte er. Rodrigo zuckte mit den Achseln, entgegnete aber nichts. Kevin war mit seinen zweiunddreißig Jahren lang genug bei seiner Truppe um zu wissen, wie es für gewöhnlich lief und dass die meisten Anstrengungen umsonst waren.
5
Bell Springer lag auf dem kahlen Boden eines kleinen Raumes. Es roch ziemlich muffig und vielleicht auch nach Mäuseköttel. Sie hatte bislang noch nie die Exkremente von Mäusen gerochen, stellte sich aber vor, dass sie so riechen könnten. Schwaches Licht drang durch den großen Türspalt hindurch, aber sie konnte nicht sagen, ob es sich dabei um Tageslicht oder um künstliches Licht handelte. Mittlerweile hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.
Die Zeit in diesem winzigen Raum, dessen Wände stets näher auf sie zu rückten und sie irgendwann zwischen sich zerquetschen würden, kam ihr endlos vor. Und doch hatte sie das Gefühl, als wäre sie erst vor kurzem hier gelandet. Ihre blutigen Finger pochten schmerzhaft im Takt ihres Herzens. Sie war so naiv gewesen zu glauben, sie könnte sich mit bloßen Fingernägeln durch den Beton direkt neben der etwas angerosteten Stahltür graben. Der Beton war unversehrt, doch ihre Fingernägel waren bis tief hinein ins Nagelbett eingerissen und pochten nun unablässig schmerzhaft im Takt ihres Herzschlags. Sie hatte geblutet und dennoch versucht, ein paar kleine Steinchen aus dem harten Beton zu lösen; doch ohne jeden Erfolg.
Noch dazu hatte sie sich ihren rechten Fußknöchel verstaucht, als sie unablässig gegen die Tür unter dem Türknopf getreten hatte. Auch hier hatte sie gehofft, dass das verrostete Eisen leicht nachgeben würde und sie sich einen Weg ins Freie verschaffen könnte. Doch sowohl die Mauer als auch die Tür hielten ihren ohnmächtigen und aussichtslosen Versuchen stand.
Die Aufregung der Entführung, die Auflehnung gegen die starken Arme, die sie ins Auto gezogen und auf den Boden gedrückt hatten, das sinnlose Betteln um Freilassung, die verzweifelten Schreie in ihrem Gefängnis, die heftigen Wein- und Heulkrämpfe, das Hadern mit ihrem Schicksal und die enorme körperliche Anstrengung ihrer erfolglosen Ausbruchsversuche hatten ihr jegliche Energie geraubt. Sie brauchte jetzt dringend Wärme, zärtliche Geborgenheit, vertrauensvolle Sicherheit, etwas zu Essen und zu Trinken. Doch alles, was sie tatsächlich bekam, waren Einsamkeit und eine furchtbare Stille, die sie schon jetzt nicht mehr ertragen konnte.
Während sie in ihrer einsamen Zelle tobte und wütete, hatte sie nicht nach dem Grund ihrer Entführung gefragt. Doch jetzt, völlig erschöpft, verschwitzt, verschmutzt, mutlos, hungrig und durstig begann sie sich zu fragen, ob sie überhaupt die richtige Person war, die hier schmorte. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, hatte kein Geld, keinen Besitz, keinen Einfluss auf die Politik, Wirtschaft oder andere Personen. Als Sexsklavin war sie mit ihren achtunddreißig Jahren auch nicht mehr zu gebrauchen, dafür gab es viel jüngere, hübschere, schlankere und aufreizendere Frauen als sie. Sie war ein Niemand, die es nicht wert war, das Risiko einer Entführung auf sich zu nehmen.
Sie sehnte sich nach Toby, ihrem besten Freund und Ehemann, der sie zwar seit zwei Jahren nicht mehr im Arm gehalten hatte, aber auf den sie sich nach wie vor felsenfest verlassen konnte. Er war immer für sie da, solange es sich nicht um ein sexuelles Thema handelte. Doch in diesem Fall würde auch er nichts unternehmen können, um ihr Wohlbefinden zu steigern oder sie aus ihrem Gefängnis befreien zu können. Er würde zu Hause in sämtlichen Zimmern herumlaufen; panisch, nervlich am Ende, Gott bittend, ihm Versprechen abgebend, obwohl er nie ein gläubiger Mensch war und sich nötigenfalls auch mit dem Teufel einlassen, nur um ihr beschützend und helfend zur Seite zu stehen. Aber der Teufel würde garantiert keinen Deal mit ihm eingehen, denn sein Stellvertreter hatte sich Bell geschnappt und würde sie auch nicht unbeschadet aus seinen Fängen lassen.
6
Nelson-Mandela-Straße, 11 Uhr. Der Verkehrsfluss ist ruhig, keine Besonderheiten auf der Straße oder in den zahlreichen Wohnanlagen. Eine ältere Dame schlendert gemächlich auf dem Gehweg dahin, ihre Einkaufstasche in der linken Ellenbeuge. Sie geht gerne einkaufen, denn dann ist sie nicht allein und einsam in ihrer leeren Zweizimmerwohnung. Vor sich sieht sie einen Einkaufswagen, der quer über dem Gehsteig steht und nur links davon einen schmalen Streifen zum Vorübergehen freilässt. Sie würde ihn der Länge nach hinstellen müssen, um besser daran vorbei zu kommen. Sie fixiert das Hindernis vor sich und beobachtet aus dem Augenwinkel einen Mann, der nur noch wenige Meter bis an den Punkt X hat. Der Mann vor ihr greift jedoch nicht wie erwartet zum Einkaufswagen um ihn aus dem Weg zu räumen, sondern geht einfach links an ihm vorbei, steigt aber nicht auf die Straße hinunter. Nun fixiert sie ihn und grollt ein wenig, weil er ihr die Arbeit überlassen hatte. Doch in genau diesem Moment fährt ein weißer Lieferwagen dicht an den Gehsteig, die Tür schiebt sich mit einem lauten Rollgeräusch nach hinten auf. Ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet, setzt ein Bein hinter den Mann auf dem Gehsteig, packt ihn am Brustkorb und wirft ihn mehr oder minder in den Wagen. Noch während der Fußgänger ins Innere fliegt, schert der Kleintransporter aus und fädelt sich wieder in den losen Verkehr ein. Die ältere Dame hört keine quietschenden Reifen, sondern nur noch das leise, metallene Geräusch der Seitentür, die kraftvoll geschlossen wird.
Sie bleibt stehen, achtet weder auf den Einkaufswagen auf dem Weg noch auf ihre volle Einkaufstasche, die ihr vom Ellbogen gleitet und auf den Gehweg fällt. Der Joghurtbecher platzt im Inneren auf, doch auch das registriert sie noch nicht. Sie sieht nur, dass sich der Lieferwagen im gemäßigten Tempo von ihr entfernt und auf den Kreisverkehr zuhält.
Da beginnt sie zu schreien, rudert mit den Armen und muss sich am Zaun festhalten, um nicht umzukippen. „Hilfe! Entführung! Ruft die Polizei! Himmel, da wird gerade ein Mann entführt! So helft ihm doch!“
Eine junge Frau schießt mit ihrem Kinderwagen aus dem Spielplatz heraus direkt auf die alte Dame zu. Sie hat bereits ihr Handy gezückt und den Notruf gewählt.
„Sind sie sicher?“, fragt sie hektisch und viel zu laut. Die zitternde Dame am Gartenzaun nickt heftig. „Ja, aber ja doch!“, ruft sie aus. Das Adrenalin pumpt beinahe pur in ihren Adern und lässt sie heftig keuchen.
Innerhalb nur weniger Sekunden strömen Menschenmassen aus den Kaufhäusern, den Wohnungen und dem Bürogebäude, um die Entführung live mit zu erleben. Doch sie kommen genauso zu spät wie die alarmierte Polizei. Sie sehen nur noch die ältere Dame, die jemand auf den umgedrehten Einkaufswagen gesetzt hat, damit sie nicht umkippt. Ein junger Mann mit langer Schürze trabt mit einem Glas zuckerhältigen Limonade aus der Bar und reicht es ihr. „Das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!“, forderte er die Dame auf und sie setzte ihre faltigen, leicht zitternden Lippen an den Rand des Glases.
Kurz danach ist der Tatort abgesperrt, die Spurensicherung verständigt und die Dame auf dem Weg zum örtlichen Polizeirevier. Die Schaulustigen werden gebeten, sich zu melden, wenn sie irgendetwas gesehen oder gehört haben oder wieder zu gehen, wenn sie keinen Beitrag zur Klärung des Falls leisten können. Wenige Stunden später ist der Tatort wieder ein ganz normaler Gehweg neben einer ganz normalen Straße und einem ganz normalen Zaun. Nur das Leben des entführten Mannes hat sich soeben schlagartig geändert.
7
Rodrigo lenkte den Dienstwagen auf den Parkplatz vor dem Dezernat und ärgerte sich, weil er wieder in der letzten Reihe parken musste. All die anderen Parkplätze waren bereits besetzt und er hatte trotz mehrerer Ansuchen bislang noch keinen personalisierten ergattert. Der oberste Boss meinte bei meiner letzten Anfrage lachend, dass er sich durch den täglichen Fußmarsch von gut zwölf Metern bis zum Polizeirevier fit halten könne; er solle es doch positiv sehen! Rodrigo betrieb Sport, ja, natürlich. Er lief zweimal die Woche rund eine ganze Stunde, spielte zweimal im Monat eine Stunde Squash und er schwamm zumindest einmal pro Woche eine Stunde. Auf diese Weise hielt er sich zumindest so fit, dass er einem Flüchtigen gut folgen konnte. Es sei denn, derjenige war ein junger Sprinter, was aber ohnehin sehr selten vorkam. Die meisten Entführer und Einbrecher waren nicht sonderlich gut zu Fuß unterwegs und kämpften meist schon nach wenigen hundert Metern mit der Luft und Seitenstechen. Deshalb sagte Rodrigo immer scherzhaft, dass man die sportlichen Verdächtigen eher hintanstellen könne.
Als er seinen Fuß auf die erste Stufe stellte, klingelte sein Handy und gleichzeitig rief jemand aus dem ersten Stock beim Fenster hinaus. Es war der oberste Boss, dessen Stimme unverkennbar über den Parkplatz donnerte. „Ein bisschen mehr Einsatz, wenn ich bitten darf! Hopp, hopp!“ Dann lachte er und zog schnell seinen Kopf vom Fenster zurück.
Rodrigo sah Kevin an, verzog sein Gesicht und schüttelte kaum vernehmbar den Kopf. Kevin zuckte die Schultern und betrat hinter ihm das Gebäude. Am Handydisplay erschien die Nummer seines Chefs und ihm wurde klar, was er mit seinem Ruf gerade gemeint hatte. Beeilung, pronto, ràpido! Es musste wirklich dringend sein, also nahmen die beiden Polizisten immer zwei Stufen auf einmal und liefen den Gang entlang bis zum Besprechungszimmer.
Wie erwartet hatten sich dort bereits alle zur Verfügung stehenden Beamten versammelt und sahen Rodrigo erwartungsvoll an. Rasch ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen und auf Ralf Penz, dem grauhaarigen Oberboss liegen.
„Wir haben gerade die Meldung über eine weitere Entführung von der Stadtpolizei erhalten. Ein Mann um die vierzig wurde vor einer knappen viertel Stunde in der Nelson-Mandela-Straße 11 in einen weißen Lieferwagen gezerrt. Ganz unspektakulär. Tür auf, Mann rein, Tür zu. Und weg war der Wagen mit einem zusätzlichen und vor allem unfreiwilligen Passagier mehr an Board. Eine Zeugin, die mit ihrem Kinderwagen im Park unterwegs war, hat die Polizei verständig. Dieses Mal gibt mehrere Zeugen und einer von ihnen kennt sogar die entführte Person; zumindest vom Namen her.“
Er ließ seine Worte etwas wirken, sodass jeder auch wirklich begreifen konnte, was geschehen war. Er wusste, dass er seine Leute nicht mit einem gewaltigen Informationsfluss zumüllen durfte, auch wenn er noch Kenntnis von etlichen Details mehr hatte.
Rodrigo stieß hörbar die Luft aus. „Natalie Springer und er haben den gleichen Entführer?“, sagte er mehr als er fragte, denn für ihn lag diese Tatsache eigentlich schon auf der Hand. Ralf Penz nickte. „Es sieht zumindest ganz so aus, im Moment spricht alles dafür. Deshalb bekommst du auch diesen Fall. Ich möchte keine Paralleluntersuchungen von einem anderen Team laufen lassen. Dabei kommt ihr euch nur in die Quere und dass mit dir nicht gut Kirschen essen ist, wenn es um Ermittlungen geht, weiß nicht nur das gesamte Universum, sondern auch noch jede einzelne Gottheit außerhalb.“
Die Truppe lachte und Rodrigo zielte mit seiner zu einer Pistole geformten Hand auf den Oberboss.
Einer der Gründe, weshalb Ralf Penz den großgewachsenen Mexikaner als Abteilungschef eingesetzt hatte, war dessen lockerer Umgang mit den Mitarbeitern. Penz setzte auf einen legeren, lockeren, vertrauensvollen, intensiven Umgang miteinander und dafür war Rodrigo genau der richtige Mann. Eine Frau eignete sich dafür keinesfalls; zumindest kannte er nicht eine einzige legere, lockere Frau. Und falls er jemals eine kennen lernen würde, so gäbe er auf der Stelle sein Junggesellenleben auf.
Rodrigo stand auf und stellte sich vors Whiteboard, auf dem die Daten von Natalie Isabell Springer in roten Lettern prangten.
„Danke, wir werden diesen Fall mit links lösen. Du kannst das andere Team in den Urlaub schicken“, witzelte er, lachte dabei jedoch nicht. Seine Gedanken waren bereits bei der zweiten Entführung.
„Wir wiederholen unsere Arbeit genau so, wie sie der Täter wiederholt hat. Jeder von euch kennt seinen Aufgabenbereich und jeder weiß, dass er auch hier sein Bestes geben muss. Wenn wir den Fall innerhalb einer Woche lösen, gebe ich einen aus.“
Die Kollegen applaudierten, standen währenddessen auf und gesellten sich zu ihren kleinen Einheiten, die sie bereits zur Auffindung von Bell gebildet hatten. Ohne zurückzublicken verließen sie den kleinen Besprechungsraum, denn sie waren schon völlig in ihren neuen Fall vertieft.
Rodrigo war auch schon im Türrahmen, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte. Ralf sah ihn aus müden Augen an und seufzte. „Wird das jetzt so weitergehen? Müssen wir uns alle zwei Tage um eine neue Entführung kümmern? Wie siehst du das? Ich habe so etwas von anderen Dezernaten noch nie gehört und auch selbst noch nicht erlebt.“
Rodrigo sah ihm tief in die Augen, als ob er darin die Lösung finden könnte.
„Es tut mir echt leid, aber ich kann derzeit noch gar nichts sagen. Ich fühle zu dem Fall noch nichts, denke noch nicht an übermorgen und spiele auch noch nicht mit einem Täterprofil. Zuerst muss ich etwas über den Mann wissen, dann können wir uns gerne darüber unterhalten. Aber fang schon mal zu beten an, dass wir bei den beiden eine gemeinsame Grundlage finden, die außergewöhnlich und eine Entführung wert ist.“
Ralf nickte und steuerte sein Büro an. Fälle weit jenseits der Routine bereiteten ihm seit jeher grauenvolle Magenschmerzen. Er war schon viel zu alt und viel zu ausgebrannt, um sich noch solchen Herausforderungen zu stellen. Mit einem weiteren Seufzen ließ er sich in seinem Drehstuhl nieder und starrte den Kunstdruck von Salvador Dalí an der Wand an. Es war eine gute Entscheidung, auch diesen Fall Rodrigo zu überlassen, dachte er und widmete sich wieder seinem Bericht.
Rodrigo steuerte die für die Erstaufnahme der Entführung zuständige Polizeidienst-stelle an und parkte seinen Wagen frech auf dem reservierten Parkplatz des zuständigen Kommandanten. Niemand konnte ihm deshalb etwas anhaben, denn hierher kam er vermutlich nicht so rasch wieder. Er wies sich vor der Tür an der Kamera aus und ließ sich direkt zur Hauptzeugin in den Vernehmungsraum, der eigentlich ein recht kleiner Pausenraum des Personals war, bringen. Sie saß eingeschüchtert vor einer Tasse Kaffee, umklammerte die Henkel ihrer Handtasche, die sie auf dem Schoß stehen hatte und zuckte leicht zusammen, als sie Rodrigo durch den Türrahmen treten sah. Seine Statur schien ihr Angst einzuflößen, obwohl er sie noch im Türrahmen breit anlächelte. Er schätzte sie auf Mitte bis Ende sechzig, pensioniert, alleinstehend in einer kleinen Mietwohnung und auf kurze Gespräche auf der Straße angewiesen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie in ihrem nun doch schon recht langen Leben noch nicht vieles gesehen, das von der Norm abwichen war; und dann rückte das Schicksal gleich mit einer Entführung in nächster Nähe an. Das nannte man echt die Härte des Lebens.
In dem kurzen Vorgespräch bestätigte die ältere Dame ziemlich genau Rodrigos Einschätzung ihre Person betreffend. Etwas triumphierend lächelte er und kam dann auf den Vorfall direkt zu sprechen.
„Ich bin da der Straße lang gegangen, nich? Und da war der junge Mann da vor mir. Er is links direkt am Ende vom Gehsteig gegangen, nich? Weil da is so ein Einkaufswagen von dem Supermarkt quer übern Gehsteig gestand und der Mann ist nach links ausgewichen, ging ja so auch gar nich anders. Und dann kommt da so‘n Auto, ein großer Wagen, so ein Kastenwagen, reißt die Seitentür auf, die geht so nach hinten auf, nich? Und zieht den armen Kerl mit einem Satz hinein. Der Wagen fährt los, die Tür knallt zu und das wars auch schon. Aus die Maus.“
Sie sah ihn mit großen Augen erwartungsvoll an. „Erkannt hab ich so niemanden und der Mann in dem Wagen der war total ganz schwarz angezogen. Auch die Haube war so schwarz und der Rollkragen bis zur Nase hochgezogen, nich? Da war nur‘n kleiner Spalt Haut frei aber die war weiß. Aber so richtig weiß. Hellweiß, sie kapieren, nich?“
Rodrigo nickte zufrieden. Es handelte sich ganz offensichtlich um denselben Täter, davon konnten sie jetzt ausgehen.
Er bedankte sich für ihre Kooperation und zollte ihr für ihre grandiose Beobachtungsgabe aufrichtigen Respekt. „Ach“, winkte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Ich hab zwei Kinder großgezogen und alle zwei beide sind Autisten. Da lernt man, so auf alles achtzugeben, nich? War eine harte Schule aber ich liebe die beiden alten Deppen noch immer. Sind ja doch meine Jungs und bleiben auch meine, nich?“ Sie zwinkerte ihm zu. Nun war sie nicht mehr die verschüchterte ältere Dame. Jetzt zeigte sie eine Menge an Selbstbewusstsein, das sie für ihre Kinder immer haben musste.
Rodrigo unterhielt sich noch kurz mit ihr, doch es war nichts mehr zu holen. Sie hatte alles erzählt, was sie wusste.
Der Mann, der den Namen des Entführten kannte, wartete im Vorraum und wurde noch in den Pausenraum geführt, ehe die Dame weg war. Die beiden sahen einander an, kannten sich aber offensichtlich nicht. Die Polizisten waren offensichtlich nur noch darauf aus, die Vernehmung hinter sich bringen und wieder unter sich sein. Einen Fremden in ihrem Polizeiposten zu haben, war ihnen unangenehm, denn er störte die Routine, die sie allesamt heiß liebten.
„Der Mann heißt Mike Cooper und arbeitet als Security bei Held & Partner, bei dieser Anwaltskanzlei in der Nelson-Mandela-Straße. Ich liefere dort immer Pakete aus und wir haben hin und wieder ein paar Worte miteinander gequatscht. Die ganzen Securities dort tragen Schilder mit dem vollen Namen drauf und meine Schwägerin Emilie ist auch eine geborene Cooper, deshalb habe ich mir den Namen gemerkt. Sind aber nicht miteinander verwandt die zwei.“
Der Mann sah Rodrigo an, als würde er für diese Auskunft einen fetten Orden erwarten.
„Worüber haben sie beide denn gesprochen, wenn Sie die Pakete ausgeliefert hatten?“, wollte er wissen und notierte sich erst jetzt den Namen des mutmaßlich Entführten.
„Ach, wir haben einfach nur so gequatscht. Übers Wetter, die miesen Löhne, Urlaube und hin und wieder über Sport, wenn es etwas Erwähnenswertes gab. Wie gesagt, kenne ich ihn nicht wirklich, aber er war immer nett und hat mir hin und wieder sogar ein paar Pakete in die Halle getragen, damit ich nicht zweimal laufen musste. Eigentlich ein feiner Kerl, der Mike.“